das geschlechterzeugende Vermögen der Art zu modificiren. Bei im strengen Sinne socialen Thieren, wie bei Bienen oder Ameisen, welche eine ungeheure Zahl unfruchtbarer und fruchtbarer Weibchen im Verhältniss zu den Männchen erzeugen und für welche dieses Ueberwiegen von oberster Bedeutung ist, können wir einsehen, dass diejenigen Gemeinden am besten gedeihen, welche Weibchen mit einer starken vererbten Neigung zur Erzeugung immer zahlreicherer Weibchen enthalten, und in derartigen Fällen wird eine ungleiche Neigung zur Geschlechtserzeugung schliesslich durch natürliche Zuchtwahl erlangt werden. Bei Thieren, welche in Heerden oder Truppen leben, wo die Männchen sich vor die Heerde stellen und dieselbe vertheidigen, wie bei dem nordamericanischen Bison und gewissen Pavianen ist es wohl begreiflich, wie eine Neigung zur Erzeugung von Männchen durch natürliche Zuchtwahl erlangt werden könnte; denn die Individuen der besser vertheidigten Heerden werden eine zahlreichere Nachkommenschaft hinterlassen. Was die Menschen betrifft, so nimmt man an, dass der aus dem Ueberwiegen der Männer innerhalb eines Stammes herzuleitende Vortheil eine der hauptsächlichsten Ursachen für den Gebrauch des weiblichen Kindesmordes sei.
So weit wir es übersehen können wird in keinem Falle eine vererbte Neigung, beide Geschlechter in gleichen Zahlen oder das eine Geschlecht im Ueberschuss zu erzeugen, für gewisse Individuen mehr als für andere von directem Vortheil oder Nachtheil sein; es wird z. B. ein Individum, welches die Neigung hat mehr Männchen als Weibchen zu produciren, im Kampf um’s Leben keinen besseren Erfolg haben als ein Individuum mit der entgegengesetzten Neigung; es kann daher eine Neigung dieser Art nicht durch natürliche Zuchtwahl erlangt werden. Nichtsdestoweniger gibt es gewisse Thiere (so z. B. Fische und Rankenfüsser), bei welchen zwei oder mehr Männchen zur Befruchtung des Weibchens nothwendig zu sein scheinen; dem entsprechend überwiegen hier die Männchen bedeutend, es ist aber durchaus nicht augenfällig, wie diese Tendenz zur Erzeugung männlicher Nachkommen erlangt worden sein könnte. Ich glaubte früher, dass, wenn eine Neigung beide Geschlechter in gleichen Zahlen zu erzeugen für die Species von Vortheil sei, dies eine Folge der natürlichen Zuchtwahl sei; ich sehe aber jetzt ein, dass dies ganze Problem so verwickelt ist, dass es sichrer ist, seine Lösung der Zukunft zu überlassen.
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/354&oldid=- (Version vom 31.7.2018)