Nachkommenschaft zu hinterlassen, auf die Länge bedeutender gewesen sind als diejenigen, welche aus einer vielleicht etwas vollkommeneren Anpassung an die äusseren Lebensbedingungen resultiren. Wir werden ferner sehen, und dies hätte sich niemals voraus erkennen lassen, dass das Vermögen, das Weibchen durch Reize zu fesseln, in einigen wenigen Fällen von grösserer Bedeutung gewesen ist als das Vermögen, andere Männchen im Kampf zu besiegen.
Um zu verstehen, in welcher Weise geschlechtliche Zuchtwahl gewirkt und im Laufe der Zeit in die Augen fallende Resultate bei vielen Thieren vieler Classen hervorgebracht hat, ist es nothwendig, die Gesetze der Vererbung, soweit dieselben bekannt sind, im Geiste gegenwärtig zu halten. Zwei verschiedene Elemente werden unter dem Ausdrucke „Vererbung“ begriffen, nämlich die Ueberlieferung und die Entwickelung von Characteren. Da aber diese meistens Hand in Hand gehen, wird die Unterscheidung oft übersehen. Wir sehen diese Verschiedenheit an denjenigen Merkmalen, welche in den früheren Lebensjahren überliefert werden, welche aber erst zur Zeit der Reife oder während des höheren Alters entwickelt werden. Wir sehen denselben Unterschied noch deutlicher bei secundären Sexualcharacteren; denn diese werden durch beide Geschlechter hindurch vererbt und doch nur in dem einen allein entwickelt. Dass sie in beiden Geschlechtern vorhanden sind, zeigt sich offenbar, wenn zwei Species, welche scharf markirte sexuelle Merkmale besitzen, gekreuzt werden. Denn eine jede überliefert die ihrem männlichen und weiblichen Geschlechte eigenen Charactere auf die Bastardnachkommen beider Geschlechter. Dieselbe Thatsache wird offenbar, wenn Charactere, welche dem Männchen eigen sind, gelegentlich beim Weibchen sich entwickeln, wenn dieses alt und krank wird, wie z. B., wenn die gemeine Haushenne die wallenden Schwanzfedern, die Sichelfedern, den Kamm, die Sporne, die Stimme und selbst die Kampflust des Hahns erhält. Dasselbe tritt auch umgekehrt bei castrirten Männchen zu Tage. Ferner werden gelegentlich, und zwar unabhängig von hohem Alter oder Krankheit, Merkmale von dem Männchen auf das Weibchen übertragen: so z. B. wenn in gewissen Hühnerrassen Sporne regelmässig bei den jungen und gesunden Weibchen auftreten. In Wahrheit haben sie sich aber nur einfach beim Weibchen entwickelt; denn in jeder Brut wird jedes Detail der
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/312&oldid=- (Version vom 31.7.2018)