Unfruchtbarkeit keine sicheren Kriterien specifischer Verschiedenheit darbieten. Wir wissen, dass diese Eigenschaften durch veränderte Lebensbedingungen oder durch nahe Inzucht leicht afficirt und dass sie von sehr complicirten Gesetzen beherrscht werden, z. B. von dem der ungleichen Fruchtbarkeit wechselseitiger Kreuzungen zwischen denselben zwei Species. Bei Formen, welche als unzweifelhafte Species classificirt werden müssen, besteht eine vollkommene Reihenfolge von denen an, welche bei einer Kreuzung absolut steril sind, bis zu denen, welche fast ganz oder vollkommen fruchtbar sind. Die Grade der Unfruchtbarkeit fallen nicht scharf mit den Graden der Verschiedenheit im äusseren Bau oder in der Lebensweise zusammen. Der Mensch kann in vielen Beziehungen mit denjenigen Thieren verglichen werden, welche schon seit langer Zeit domesticirt worden sind, und eine grosse Menge von Belegen kann zu Gunsten der Pallas’schen Theorie[1] vorgebracht
- ↑ Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. 2. Aufl. Bd. 2. S. 126. Ich möchte hier den Leser daran erinnern, dass die Unfruchtbarkeit der Arten bei ihrer Kreuzung keine speciell erlangte Eigenschaft, sondern wie die Unfähigkeit gewisser Bäume auf einander gepropft zu werden, Folge anderer erlangter Verschiedenheiten ist. Die Natur dieser Verschiedenheiten ist unbekannt; sie stehen aber in einer specielleren Weise mit dem Reproductionssystem und viel weniger mit der äusseren Structur oder mit den gewöhnlichen Verschiedenheiten der Constitution in Beziehung. Ein für die Unfruchtbarkeit gekreuzter Species bedeutungsvolles Element liegt allem Anscheine nach darin, dass die eine oder beide seit langer Zeit an fest stehende Lebensbedingungen gewöhnt waren; denn wir wissen, dass veränderte Lebensbedingungen einen speciellen Einfluss auf das Reproductionssystem äussern; auch haben wir, wie vorhin bemerkt, zu der Annahme guten Grund, dass die fluctuirenden Zustände der Domestication jene Unfruchtbarkeit zu eliminiren strebt, welche bei Species im Naturzustande ihrer Kreuzung so allgemein folgt. Es ist an andern Orten von mir gezeigt worden (Variiren der Thiere und Pflanzen u. s. w. 2. Aufl. Bd. 2, S. 212 und Entstehung der Arten. 5. Aufl. S. 333), dass die Unfruchtbarkeit gekreuzter Arten nicht durch natürliche Zuchtwahl erlangt worden ist. Man sieht ja ein, dass es, wenn zwei Formen bereits sehr unfruchtbar geworden sind, kaum möglich ist, dass ihre Unfruchtbarkeit durch die Erhaltung oder das Ueberleben der immer mehr und mehr unfruchtbaren Individuen vermehrt werden könnte; denn in dem Maasse als die Unfruchtbarkeit zunimmt, werden immer weniger und weniger Nachkommen erzeugt werden, welche die Art fortpflanzen könnten, und endlich werden nur in grossen Zwischenräumen einzelne Individuen hervorgebracht werden. Es gibt aber selbst einen noch höheren Grad von Unfruchtbarkeit als diesen. Sowohl Gärtner als Kölreuter haben nachgewiesen, dass bei Pflanzengattungen, welche zahlreiche Species umfassen, sich eine Reihe bilden lässt von Arten, welche bei ihrer Kreuzung immer weniger und weniger Samen hervorbringen, bis zu Arten, welche niemals auch nur einen einzigen Samen erzeugen, aber doch vom Pollen der andern Arten afficirt werden, da ihr Keim zu schwellen beginnt. Hier ist es
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/239&oldid=- (Version vom 31.7.2018)