eines jeden Kranken, und die ganze Gemütsstimmung aufzuheitern, bietet die Anstalt verschiedene Ergötzlichkeiten: der eine kann auf der mit Heizung und elektrischem Licht ausgestatteten Kegelbahn alle neun schieben, der andere im Billardzimmer nach Herzenslust karambolieren; die eine kann auf dem vorzüglichen Pianino ihrer Finger Fertigkeit und Fixigkeit zeigen und die andere zum Danke dafür das Goethesche Wort beherzigen: „Das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn, der reichlich lohnet“; die einen können sich auf den Croquet- und Lawn-Tennisplätzen tummeln und die anderen daneben unter dem Schatten dichtbelaubter Linden und Buchen aus der Anstaltsbücherei leichten Unterhaltungsstoff, Tages- oder Kunstzeitungen lesen. Aber Abwechslung muss sein, und Veränderung ergötzt; darum finden während des Sommerhalbjahrs im neuerbauten Musikpavillon des Anstaltsparkes öfters Konzerte statt. Wer mit alledem noch nicht auskommt, der kann sich an den Aufführungen im Chemnitzer Stadt- und Thaliatheater und denen der rühmlichst bekannten Stadtkapelle erfreuen. Was bietet ihm die Anstalt aber in den stillen Stunden der Beschaulichkeit? Zu kleineren Spaziergängen bietet bei weniger günstigem Wetter die geschmackvolle Wandelbahn, bei besserem der Anstaltsgarten und der in unmittelbarer Nähe gelegene Stadtpark geeigneten Boden. Für den Stadtpark, durch dessen Laub milde Südwestwinde streichen, gilt besonders Dieffenbachs Wort:
„Das jubiliert und musiziert, das schmettert und das schallt, |
Das geigt und singt, das pfeift und klingt im frischen, grünen Wald!“ |
Wer auf seinem Zimmer oder im Lesesaale bleibt, kann sich an der herrlichen Aussicht weiden, denn jeder Rahmen umfasst ein Landschaftsgemälde. Am Horizont erheben sich die langgestreckten Höhen des Erzgebirges mit dem vollen Reize deutscher Waldherrlichkeit. Fürwahr, die Anstalt „hat Freuden ohne Mass und Zahl, lässt keinen leer ausgehn.“
Bei solchen inneren und äusseren Vorzügen der Anstalt, die durch Centralheizung und elektrische Beleuchtung selbst im Winter behaglich wird, ist es nicht zu verwundern, dass sich der Besuch immer mehr gesteigert hat, so dass in der letzten Zeit jährlich über 1000 Kurgäste zu verzeichnen gewesen sind. Wir zweifeln nicht, dass die Anstalt auch in Zukunft ihren Weltruf behaupten und die günstigen Heilerfolge, deren sie sich bis jetzt rühmen darf, zum Wohle der leidenden Menschheit vermehren wird.
Zum Schluss mag an dieser Stelle noch diejenige Einrichtung eine Besprechung finden, die für einen grossen Teil gerade der Chemnitzer Bevölkerung von hervorragender Bedeutung ist, die gemeinsame Ortskrankenkasse. Sie verdankt ihre Entstehung dem ersten der grossen sozialpolitischen Gesetze des Reiches, dem Krankenversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883. Auf Grund dieses Gesetzes errichtete der Rat zehn am 1. Dezember 1884 eröffnete Ortskrankenkassen, neben denen eine Gemeindekrankenversicherung und vier Innungskrankenkassen fortbestanden und in denen alle die Versicherungspflichtigen Aufnahme fanden, die nicht einer der zahlreichen, gleichzeitig begründeten Betriebs-Krankenkassen und Hilfskassen angehörten. Nun hatte der Rat zwar gleich von Anfang an eine gemeinsame Verwaltung dieser zehn Ortskrankenkassen und der Gemeinde- Krankenversicherung zu stande gebracht; allein deren gesonderte Rechnungsführung und verschiedene Erwägungen allgemeiner Art legten bald den Gedanken an eine völlige Verschmelzung der Kassen nahe. Bereits im November 1885 fassten die Generalversammlungen der zehn Ortskrankenkassen einen dahin gehenden Beschluss, dem ein vom Rat entworfenes Statut zu Grunde lag. Nachdem dieses die Zustimmung der städtischen Kollegien sowie die Genehmigung der Regierungsbehörden erhalten hatte, wurden die Vertreter der Arbeitgeber und Kassenmitglieder gewählt und so mit der fast gleichzeitigen Wahl eines Vorstandes die gemeinsame Ortskrankenkasse Ende September 1886 konstituiert. Gleichzeitig wurde mit dieser gemeinsamen Ortskrankenkasse eine ärztliche Beratungsstelle für die Kassenmitglieder verbunden, an der ursprünglich zwei, später – seit 1894, 1895 und 1896 – vier, beziehentlich fünf und sechs von der Kasse angestellte Ärzte thätig waren.
: Chemnitz am Ende des XIX Jahrhunderts in Wort und Bild. Körner & Lauterbach, Chemnitz ca. 1900, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Chemnitz_am_Ende_des_XIX_Jahrhunderts_in_Wort_und_Bild.pdf/70&oldid=- (Version vom 7.3.2025)