„Martha! Vor den Mädchen!!!“ stöhnte Tante Marie, im Tone der höchsten sittlichen Entrüstung.
Da riß mir die Geduld:
„O über eure Prüderie – und o über eure zimperliche Wohlanständigkeit! Geschehen dürfen alle Greuel, aber nennen darf man sie nicht. Von Blut und Unrat sollen die zarten Frauen nichts erfahren und nichts erwähnen, wohl aber die Fahnenbänder sticken, welche das Blutbad überflattern werden; davon dürfen Mädchen nichts wissen, daß ihre Verlobten unfähig gemacht werden können, den Lohn ihrer Liebe zu empfangen, aber diesen Lohn sollen sie ihnen zur Kampfesanfeuerung versprechen. Tod und Tötung hat nichts unsittliches für euch, ihr wohlerzogenen Dämchen – aber bei der bloßen Erwähnung der Dinge, welche die Quellen des fortgepflanzten Lebens sind, müßt ihr errötend wegschauen. Das ist eine grausame Moral, wißt ihr das? Grausam und feig! Dieses Wegschauen – mit dem leiblichen und mit dem geistigen Auge – das ist an dem Beharren so vielen Elends und Unrechts schuld! Wer nur erst den Mut hätte, hinzuschauen, wo Mitgeschöpfe in Leid und Elend schmachten und den Mut hätte, über das Geschaute nachzudenken –“
„Ereifere Dich nicht“, unterbrach Tante Marie, „wir können doch nicht, so viel wir auch zuschauen und nachdenken wollten, das Übel von der Erde wegschaffen – dieselbe ist nun einmal ein Jammerthal und wird es immer bleiben.“
Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!. E. Pierson’s Verlag, Dresden/Leipzig 1899, Band 2, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bertha_von_Suttner_%E2%80%93_Die_Waffen_nieder!_(Band_2).djvu/113&oldid=- (Version vom 31.7.2018)