Verbreitung des gegensätzlichen, bildlichen Apperzeptionsschemas: „Männlich-Weiblich“ und folgert aus dem Zwang des neurotisch verstärkten und erhöhten Persönlichkeitsideals den darin leicht auffindbaren männlichen Einschlag. Letzterer bedingt auch die Unterstreichung des Gefühls der eigenen Minderwertigkeit durch die Fassung in einem Bilde, das der weiblichen Rolle angehört, um mit den Regungen, Bereitschaften und Charakterzügen des männlichen Protestes dagegen zu reagieren. Eine Reihe der letzten Arbeiten aus der Freudschen Schule haben die von mir veröffentlichten Befunde aufgegriffen. Die weitere Verfolgung führt unwiderruflich zur Erkenntnis der Unhaltbarkeit der Libidotheorie, zur Beseitigung der sexuellen Ätiologie und zum Verständnis des neurotischen Sexualverhaltens als einer Fiktion.
Ist uns so der männliche Protest als Kunstgriff der Psyche klar geworden, mittelst dessen sie zur vollen Sicherung gelangen, sich mit der leitenden Persönlichkeitsidee zur Deckung bringen will, so erübrigt es noch, die Formverwandlung dieser Leitlinie ins Auge zu fassen, wie sie jedesmal eintritt, wenn sich in ihr Widersprüche geltend machen und den Zweck des neurotischen Strebens, das Obenseinwollen, gefährden. Dieser Fall tritt ein, wenn die Wirklichkeit mit einer starken Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls droht. Der Nervöse wird sogar in diesem Falle prinzipieller an seiner „Idee“ festhalten als der Normale. Je weiter er aber in die sichernde Neurose eingesponnen ist, um so eher wird er — auf Erinnerungen und Memento gestützt — den Schaden antizipierend, neue neurotische Umwege konstruieren, weitere neurotische Sicherungen anbringen, die für ein vorliegendes Problem weder ein Fiat noch eine Negation enthalten, vielmehr beide zugleich. Es wird sich sein psychisch-hermaphroditischer Charakter auch darin geltend machen, dass er zurückweicht, sich unterwirft, weiblich wird, während sein Streben gleichzeitig weiterhin ein Vordringen, Herrschsucht, Männlichkeit aufweist, mit dem Ergebnis, dass er nichts vorwärts bringt, da er für jeden Schritt nach vorne einen nach rückwärts macht, dieses Verhalten zuweilen sogar pantomimisch ausdrückt. Ebenso kann die Furcht vor Blamage, vor Strafe, vor Schande, kurz vor dem „Unten“ seine geradlinigen männlichen Züge verwandeln. Die Konstruktion von neurotischen Schuldgefühlen, von ererbten Verbrecherinstinkten, von Rohheit, Grausamkeit und Egoismus schafft schreckende Spuren in gleicher Weise wie das neurotisch zum Ausdruck gebrachte Gefühl der Schüchternheit, Feigheit, Unbeholfenheit, Dummheit und Faulheit. — Das schlimme, unerziehbare Kind, die Flegeljahre und manche Formen der Psychose, häufig das Vorstadium der „entwickelten Neurose“ zeigen uns den männlichen Protest in hoher geradliniger Ausbildung. Ihre Darbietungen sind geradezu getragen von der zum Selbstzweck gewordenen Welle des männlichen Protestes, der voll und ganz die Stelle der verstärkten leitenden Fiktion vertritt.
Unsere theoretische Darstellung von der neurotischen Psyche wäre unvollständig, wenn sie nicht auch auf das Wesen und die Bedeutung des Traumes einginge. Ich kann an dieser Stelle keine abgerundete, geschweige eine vollständige Traumtheorie vorführen. Aber ich bin aus mehreren Gründen genötigt, alle Beobachtungen und Befunde mitzuteilen, die meine Traumuntersuchungen des praktischen Teils dieser Arbeit ermöglicht haben. Freuds Traumdeutung war vielleicht die stärkste Förderung unseres Verständnisses der Neurosenpsychologie.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)