Das Vorstadium der Erkenntnis der eigenen Geschlechtsrolle, der psychische Hermaphroditismus des Kindes, besteht wohl regelmässig. Seine Bedeutung wurde von Dessoir und von mir hervorgehoben. Dass dieses Stadium mit seinem starken, den männlichen Linien zugeneigten Streben von grösster Bedeutung für die Entwicklung der Neurose mit ihrem hoch angesetzten männlichen Leitziel und seinen Sicherungen ist, ergab mir die Analyse der Psychoneurosen. Als guter Beobachter und Kenner der Kinderseele zeigt sich Goethe, der in Wilhelm Meisters theatralischer Sendung hervorhebt: „Sowie in gewissen Zeiten die Kinder auf den Unterschied der Geschlechter aufmerksam werden und ihre Blicke durch die Hüllen, die diese Geheimnisse verbergen, gar wunderbare Bewegungen in ihrer Natur hervorbringen, so war's Wilhelmen mit dieser Entdeckung; er war ruhiger und unruhiger als vorher, deuchte sich, dass er was erfahren hätte, und spürte eben daran, dass er gar nichts wisse“.
In der Tat findet man als erste Äusserung dieser Unerfahrenheit und ihres herabsetzenden Rückschlags auf die Psyche eine ungeheure Steigerung der Neugierde und Wissbegierde, und um doch eine Richtung seines Lebens zu finden, gerät das Kind unter den Zwang einer Leitlinie, die es treibt, so zu handeln, als ob es alles wissen müsste. Macht es die Erfahrung von der Superiorität des männlichen Prinzips in unserer Gesellschaft, so wird das Leitbild vermännlicht, insbesondere, wenn ihm der Mann, der Vater als der Wissende erscheint.
Zu besonderen Charakterzügen, die in der Neurose deutlicher werden, kommt es bei kleinen Mädchen, die sich solcher Art bemühen, die männliche Leitlinie zu halten. Das Gefühl der Verkürztheit überwiegt bei ihnen, ebenso bei Knaben, die sich für weiblich halten, dermassen, dass sie nur Sinn und Interesse dafür haben, Beweise für diese Verkürzung zu sammeln und ihre Aggression gegen die Umgebung zu steigern. Bilder von Kastration, von Verweiblichung, von Verwandlungen in einen Mann, von männlichen Formen des Lebens tauchen bei der Analyse als Wegweiser in der neurotischen Psyche auf, deuten auf die Sucht nach Manngleichheit und lassen in späterem Formenwandel der Leitlinien die männliche Fiktion immer wieder auftauchen. Die typische psychische Attitude dieser Nervösen ist regelmässig so, als ob sie einen Verlust erlitten hätten, oder als ob sie mit grosser Vorsicht einem Verlust ausweichen müssten. E. H. Meyer berichtet in den „Indogermanischen Mythen“ (I. S. 16): „Nach dem Atharva Veda verzehren die Gandharven (phallische Dämonen) den Knaben die Hoden und verwandeln dadurch die Knaben in Mädchen“. — Solcher und ähnlicher Gestalt scheinen in der Kindheit die Vorstellungen vieler Nervöser über die Entstehung beider Geschlechter gewesen zu sein, als von Gedanken über eine erlittene Verkürzung, die sich in einem sexuellen Bilde der Verweiblichung darstellt. Die nächste psychische Folge ist dann in der Regel die verschärfte Aggression gegen die Eltern, denen die Schuld an dieser Verkürzung zugeschrieben wird.
Flies, Halban, Weininger und vor ihnen unter anderen Schopenhauer und Krafft-Ebing fundieren den psychischen Hermaphroditismus auf der Anwesenheit von hypothetischer, männlicher und weiblicher Substanz in einem Individuum. Unsere Auffassung setzt bloss den Gegensatz in der Wertschätzung des Männlichen und Weiblichen voraus, wie er tatsächlich besteht, rechnet mit der allgemeinen
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/60&oldid=- (Version vom 31.7.2018)