Material betreffen, nie aber die Dynamik des Traumes oder der Halluzination erklären. Die psychische Dynamik der Halluzination besteht also darin, dass in einer Situation der Unsicherheit mit Macht eine Richtungslinie gesucht und durch Abstraktion, per analogiam, mit den Schätzen der Erfahrung, durch Antizipation und durch die einer sinnlichen Wahrnehmung angenäherte fiktive Darstellung hypostasiert wird. Letztere Fähigkeit als wirksamstes Mittel des Ausdrucks kann durch die der Realität geneigte Gegenfiktion, wie der Traum, als in bewusstem Gegensatz zur Wirklichkeit empfunden werden, oder die Sicherungstendenz löst die Gegenfiktion auf und lässt die Halluzination als real empfinden.
Jodl definiert die Kultur als „das unter bestimmten Umständen und besonderer Intensität gesteigerte Streben des Menschen, seine Persönlichkeit und sein Leben vor den feindlichen Mächten der Natur wie vor dem Antagonismus der übrigen Menschen zu sichern, seine Bedürfnisse, sowohl reale als ideale, in steigendem Masse zu befriedigen und sein Wesen ungehindert zur Entfaltung zu bringen“. Der Nervöse hält diese Leitlinie viel fester im Auge, kann aber je nach Bedarf die ins Transzendentale führende Leitlinie oder die zur Kultur geneigte Gegenfiktion schematischer und prinzipieller zum Ausdruck bringen, letztere im Sinne eines neurotischen Umweges, etwa indem er sich dem „Antagonismus der übrigen Menschen“ weitgehend zu unterwerfen scheint, damit aber über sie triumphiert.
Die Entwickelung dieses Strebens, sein Wesen ungehindert zur Entfaltung zu bringen, den Gipfelpunkt dessen zu erreichen, was etwa der Nervöse seine Kultur nennen könnte, führt uns wieder zu den schon erörterten interessanten und psychologisch bedeutsamen Vorbereitungen zurück, zu den tastenden Versuchen, welche die Kompensation des ursprünglichen Minderwertigkeitsgefühls einleiten soll. Alle unfertigen, kindlichen Organe streben darnach, mit allen ihren angeborenen Fähigkeiten und Entwickelungsmöglichkeiten zweckmässige, sozusagen intelligente Bereitschaften auszubilden. Bei den Versuchen konstitutionell minderwertiger Organe mit ihren mannigfachen Fehlleistungen wächst infolge der grösseren Spannung gegenüber den Anforderungen der Aussenwelt der Eindruck der Unsicherheit, und die Selbsteinschätzung des Kindes bringt ein dauerndes Minderwertigkeitsgefühl zuwege. So kommt es, dass bereits in der frühkindlichen Zeit die Beherrschung der Situation nach einem mustergültigen Beispiel, meist über dieses Beispiel hinaus zum Leitmotiv genommen wird, und ein dauernder Willensimpuls wird festgelegt, um einer leitenden Idee, — dem Willen zur Macht, — die dauernde Führung zu überweisen. Dies ist auch die Zwecksetzung in der neurotischen Psyche, die bewusst oder unbewusst der Formel entspricht: ich muss so handeln, dass ich letzten Endes Herr der Situation bin. Längeres Verweilen des Kindes in der Phase des Minderwertigkeitsgefühls führt zur Steigerung und Verstärkung der Intensität jener Leitformel, so dass von der besonderen Intensität alles Strebens, der vorbereitenden Handlungen, der Bereitschaften, der Charakterzüge in irgend einer Entwickelungsperiode auf ein ursprüngliches Minderwertigkeitsgefühl geschlossen werden darf. Auch an den der Norm nahestehenden Organen findet man die tastenden Versuche, wie sie die Bereitschaften zum Gehen, Sehen, Essen, Hören ausgestalten. Exner hebt hervor, wie in
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/55&oldid=- (Version vom 31.7.2018)