Die Sicherung durch die übertriebene Persönlichkeitsidee und das Haften an ihr bedingen oft auch das Gefühl oder sogar die Tatsache einer gewissen Weltfremdheit, die freilich meist tendenziös übertrieben wird. Furcht vor allem Neuen, Schwerbeweglichkeit, Ungeschicklichkeit, Schüchternheit begleiten den der Wirklichkeit abholden Neurotiker und zeigen immer sein Bestreben, die Realität umzudeuten, umzudichten, umzukonstruieren. Auch dieser Mangel sucht seine Kompensation und findet sie in leichteren Fällen in der zur Realität leitenden Gegenfiktion, die wieder in abstrakter, meist aufdringlicher Form die Bedeutung der Realität zu überschätzen sucht, um aus übertriebener Furcht vor dem Irrtum und vor Niederlagen für alle Fälle Bereitschaften herzustellen. Das Schwanken zwischen Ideal und Wirklichkeit kommt in der neurotischen Psyche übertrieben zum Ausdruck, wobei die Zweifelsucht als Paradigma das Suchen nach der „einzigen Wahrheit“ vorbereitet, nach dem männlichen Endzweck des Neurotikers. Oder es werden die äusseren Formen pedantisch, wie ein Fetisch festgehalten und überschätzt, als ob sie Sicherheit verbürgten. Aus Hebbels Briefen[1] scheint mir folgende Stelle diesen Zug anzudeuten: „Man kann äussere Formen, die man in der Jugend so leichtsinnig bespöttelt, nie genug verehren, denn sie sind in der regellosen, rastlos bewegten Welt die einzigen Hilfslinien für die notwendige Unterscheidung.“ — Im Kleinen wie im Grossen, immer zeigt sich die Sehnsucht, Sicherheit zu gewinnen, und immer sucht sie der Mensch nach Analogien und auf abstrakten, prinzipiellen Wegen.
Die Häufigkeit des Befundes von sexuellen Leitlinien in der Neurose erklärt sich bei unbefangener Analyse aus folgenden Gründen:
1. weil sie eine geeignete Ausdrucksform des männlichen Protestes abgeben können,
2. weil es in der Willkür des Patienten liegt, sie als real zu empfinden.
Die Eignung der sexuellen fiktiven Leitlinie beruht demnach gleichfalls in ihrem Wert für die Sicherung des Persönlichkeitsgefühls, haftet an ihrer Bedeutung als Abstraktion und an ihrer halluzinatorischen Erregbarkeit, an ihrer Fähigkeit, sich leicht zu konkretisieren und Antizipationen zuzulassen.
Der halluzinatorische Charakter der Nervösen ist demnach ein besonderer Fall des Sicherungsmechanismus. Er bedient sich, wie auch das Denken, die Sprache, der primitiven, auf das kleinste dynamische Mass reduzierten Erinnerungen, zu denen er durch die abstrahierende Kraft der suchenden Sicherungstendenz geleitet wird. Seine Funktion und Aufgabe ist es, aus einfachen, kindlich gelegenen Erfahrungen durch Unterstreichung einer erlittenen Herabsetzung oder durch die tröstende Erinnerung an ein überstandenes Übel per analogiam den Weg zur Höhe zu berechnen. Die halluzinatorische Kraft stellt eine fertige Bereitschaft der angespannten Sicherungstendenz vor, und entnimmt ihr Material, wie es die Funktion des Denkens und Vorausdenkens tut, dem ehernen Bestand des neurotisch gerichteten Gedächtnisses. Was von den Autoren die Regression im Traume und in den Halluzinationen genannt wird, ist der alltägliche Vorgang des auf Erfahrungen zurückgreifenden Denkens, kann bloss das
- ↑ R. M. Werner, Aus Hebbels Frühzeit, Österreichische Rundschau 1911.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/54&oldid=- (Version vom 31.7.2018)