Die wichtigste Aufgabe des Denkens ist vor allem, der Handlung oder Geschehnissen vorauszueilen, Weg und Ziel zu erfassen und so weit als möglich zu beeinflussen. Durch dieses Vorausdenken ist unser Einfluss über Zeit und Raum hinaus einigermassen gesichert. Dementsprechend ist unsere Psyche in erster Linie ein Angriffsorgan, geboren aus der Not allzuenger Grenzen, wie sie ursprünglich die Triebbefriedigung erschweren. Dieser organisch bedingte Zweck der Triebbefriedigung kann aber nur solange gelten, bis er das geeignete Mittel gefunden hat, um stabilisiert und über die grössten Anfechtungen hinaus gesichert zu werden. Gegen Ende der Säuglingszeit, wo das Kind selbständige, zielsichere Handlungen vollbringt, die nicht bloss auf Triebbefriedigung gerichtet sind, wo es seinen Platz in der Familie einnimmt und sich in seiner Umgebung einrichtet, besitzt es bereits Fertigkeiten, psychische Gesten und Bereitschaften. Zudem ist sein Handeln ein einheitliches geworden, und man sieht es auf dem Wege, sich einen Platz in der Welt zu erobern. Ein derartig einheitliches Handeln kann nur verstanden werden, wenn man annimmt, dass das Kind einen einheitlichen, fixen Punkt ausserhalb seiner selbst gefunden hat, dem es mit seinen Wachstumsenergien nachstrebt. Das Kind muss also eine Leitlinie, ein Leitbild gestaltet haben, offenbar in der Erwartung, sich so in seiner Umgebung am besten zu orientieren und zur Bedürfnisbefriedigung, zur Vermeidung von Unlust, zur Erzielung von Lust zu gelangen.[1] Aus diesem Leitbild tritt anfangs insbesondere das Zärtlichkeitsbedürfnis hervor, das ursprünglich die „Bildsamkeit“ (Paulsen) des Kindes ausmacht. Bald gesellen sich zu dieser Einstellung Bestrebungen, das Wohlgefallen, die Hilfe und die Liebe der Eltern zu finden, Regungen der Selbständigkeit, des Trotzes und der Auflehnung. Das Kind hat einen „Sinn des Lebens“ gefunden, dem es nachstrebt, dessen noch schwankende Umrisse es formt, von dem aus sein Vorausdenken angezogen wird, das seine Handlungen, seine Gefühlsimpulse lenkt und wertet. Die kindliche Unbeholfenheit, Hilflosigkeit und Unsicherheit erzwingen das Austasten der Möglichkeiten, das Sammeln von Erfahrungen, und die Schöpfung des Gedächtnisses, damit die Brücke in die Zukunft geschlagen werden könne, wo Grösse, Macht, Befriedigungen aller Art
- ↑ Adler, Trotz und Gehorsam l. c.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/38&oldid=- (Version vom 31.7.2018)