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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/197

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Hang, insbesondere weil auch die älteren Geschwister, denen er nacheiferte, auffallend viel Lektüre betrieben, dann auch, weil er damit den Eltern, seinen Unterdrückern, zuwiderhandelte, und drittens, weil er auf diesem Wege wieder seinen ursprünglichen männlichen Protest befriedigen konnte, den Helden seiner Bücher in Gefahren und Kampf folgen zu können, was in der Wahl seiner Lektüre auch zum Ausdruck kam: er las mit Vorliebe Karl May.

Der dritte Fall betrifft eine durch psychische Bedingungen protrahierte Pertussis bei einem 11jährigen Knaben, der um diese Zeit noch an Enuresis litt. Es war ein ungeberdiger, jähzorniges Kind, das stets seinen Vater an sich fesseln wollte, während es seine Stiefmutter als die grausame Verfolgerin hinzustellen versuchte. Das empfängliche Gemüt des Vaters zeigte sich in einer übergrossen Besorgnis während der Keuchhustenanfälle. Als eines Morgens die Mutter dem Knaben wieder wegen seines Bettnässens Vorwürfe machte, sprang der Knabe lachend aus dem Bett und lief unbekleidet im Zimmer umher, bis der besorgte Vater unter unwilligen Bemerkungen gegen die Mutter den hastig atmenden Knaben zu Bett brachte. Ein heftiger Hustenanfall, der dem schon geschwundenen Keuchhusten glich, schloss diese Szene ab und verursachte einen heftigen Streit zwischen den Eheleuten. Als der Knabe abends wieder das Bett aufsuchte, sprang er erregt auf und galoppierte im Bett hin und her, wobei sein Atem keuchend ging. Die Deutung des Anfalls lag auf der Hand. Der Knabe wollte abermals einen Vorwurf gegen die Mutter provozieren und den Vater auf seine Seite ziehen. Eine suggestive Behandlung und Aufdeckung des Anfallzweckes brachte die Erledigung dieser Anfälle, die Pertussis zog sich aber noch ein weiteres halbes Jahr in die Länge.

Analoge Mechanismen liegen der Idee des Selbstmordes zugrunde. Die Tat selbst scheitert zumeist an der Erkenntnis des inneren Widerspruches dieser Art des männlichen Protestes. Der psychische Umschlag erfolgt im Gedanken an den Tod, an das Nichtsein, an das herabsetzende Gefühl, zu Staub zu werden, seine Persönlichkeit ganz zu verlieren. Wo sich Hemmungen religiöser Natur einschieben, sind sie wohl nur die Hülle, ein Zurückbeben, als ob auch diese Handlung noch mit Strafe belegt wäre. Hamlet, bis auf unsere Zeit das Leitbild des an seiner Männlichkeit Zweifelnden, des psychischen Hermaphroditen, der sich durch sicherndes Vorausdenken die Hemmungen seines männlichen Protestes selbstbewusst stellt, der gegen seine weibliche Linie sich aufbäumt, nicht ohne dem dialektischen Umschlag auf der männlichen Linie auszuweichen, schützt sich vor Selbstmord durch Heraufbeschwörung jener Träume, „die in dem Schlafe kommen mögen, wenn unser irdisch Teil wir abgeschüttelt“. In der Friedhofsszene zeigt sich sein wahres Entsetzen, weil Yorriks Schädel nicht mehr gilt als die der anderen.

Ich habe seit längerer Zeit die Anschauung vertreten, dass der Selbstmord eine der stärksten Formen des männlichen Protestes, eine erledigende Sicherung vor Herabsetzung darstellt. Die mir zugänglichen Fälle zumeist von Selbstmordversuchen haben stets in ihrer Psyche die neurotische Struktur erkennen lassen. Zeichen von Organminderwertigkeit, Gefühle von Unsicherheit und Minderwertigkeit aus der Kindheit, ein als allzu weiblich empfundener psychischer Einschlag und der darauf antwortende, überspannte männliche Protest fanden sich in gleicher

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/197&oldid=- (Version vom 31.7.2018)