Eine Frage nach dem letzten Auftreten seines Weinens ergab, dass er ermahnt wurde, sich rascher zur Schule zu begeben, als er schon eine halbe Stunde vor dem Spiegel bemüht war, die aufwärts strebenden Haare mit der Bürste glatt zu bürsten. Die Analyse ergab, dass er sich auf bösen Wegen sah, und sich durch sorgfältige Massnahmen vor peinlichen Herabsetzungen sichern wollte. Er machte sich schwere Vorwürfe wegen knabenhafter sexueller Ausschreitungen, die er im Verein mit anderen Knaben und Mädchen begangen hatte. Vor allem fürchtete er die Entdeckung durch seine Eltern, und diese Furcht hatte sich ungeheuer gesteigert, als er eines Nachts im Schlafe nachtwandelnd ins Dienstbotenzimmer geraten war und zu seiner Verwunderung des Morgens im leeren Bett der Köchin erwachte. Dieses Nachtwandeln erfolgte, wie alle anderen Fälle, die ich ergründen konnte, im männlichen Protest gegen ein Gefühl der Herabsetzung. Tags vorher war er nämlich wegen schlechten Fortkommens aus der Mittelschule genommen und in die Bürgerschule gebracht worden. Der Eindruck dieser Szene, der Gedanke, dass er im Schlafe verraten könnte, was ihn und seine Freunde beschäftigte, war bei ihm, der im Schlafe wie alle Nachtwandler zu sprechen pflegte, ein so ungeheurer, dass er zu starken Sicherungen schritt. Diese betrafen in erster Linie seine Erektionen, die er vor den Eltern sorgfältig zu verbergen suchte. Dies tat er, indem er das „aufgerichtete“ Membrum mit der Hand nach abwärts strich. Nun hatte die Sicherungstendenz so sehr von ihm Besitz ergriffen, dass er auch die aufgerichteten Haare so behandelte, als ob sie Sexualorgane wären, wie ja starke Sicherungstendenzen immer weiter greifen, als unbedingt nötig ist. In diesem Falle aber sehen wir den schüchternen Beginn einer Zwangshandlung, deren Mechanismus regelmässig in einer Darstellung des männlichen Protestes oder der gegen ihn gerichteten Sicherungstendenz besteht. Letztere wird dann Inhalt und treibende Kraft der Zwangsneurose, wenn der männliche Protest zu weit geht, und durch innere Widersprüche ins „Weibliche“ zu geraten droht, weil die Konsequenz in einer Bestrafung, Herabsetzung oder Blamage bestünde. Dann erscheint die Sicherung noch als das Männlichere, wenngleich das lockende Gefühl des Triumphalen nicht leicht dabei zustande kommt. Unter Umständen lässt es sich gleichwohl erzeugen, insbesondere durch Bekämpfung der Lust in jeder Form, so dass dann eine machtvolle Askese als Triumph gewertet wird.
In der Tat gewannen in der Sicherungstendenz asketische Neigungen als Formen der Selbstquälerei bei dem Knaben Raum, und seine Essunlust war darauf berechnet, nach Analogie des Begriffs der „Enthaltsamkeit“ den hervorbrechenden sexuellen Gelüsten Einhalt zu tun. Der ohnehin schwächliche Junge kam herab, so dass die Eltern einzugreifen gezwungen waren. Dabei trafen sie auf seine mühsam errungene Sicherungstendenz. Da führte die psychomotorische Vertrautheit mit den elterlichen Angriffen zur Sicherung durch das Weinen, wobei seine Geltung sich wieder hob.
Sein eifriges Bücherlesen war ursprünglich gleichfalls der Sicherungstendenz entsprungen. Die Unsicherheit, die ihn in der Pubertät erfasst hatte, zwang ihn, Trost, Belehrung und sichernde Furcht vor Erkrankungen aus dem Lexikon zu holen. Er zeigte in den einschlägigen Problemen eine unglaubliche Belesenheit. Einmal auf dem Wege, Sicherung aus den Büchern zu schöpfen, übertrieb er diesen
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/196&oldid=- (Version vom 31.7.2018)