Frau zu schützen, nicht gänzlich ihrem Einflusse zu unterliegen, kam er, — auch schon im Kampfe um die männliche Herrschaft, — zum Arrangement einer psychischen Impotenz. Die Frau hinwieder griff dieses Moment der Impotenz heraus und setzte den Mann öffentlich herab. Sein Flirt mit dem Kindermädchen war der Beginn seiner Rache. Diese konnte aber nur ihre erhebende Wirkung üben, wenn er den Ehebruch mannhaft eingestand. Folglich griff er zur Wahrheitsliebe, die ihm schon öfters als Vehikel für allerlei Bosheiten gedient hatte. Dass er seinen Fehltritt weinend gestand, entspricht seinem Zagen vor der Entscheidung, erleichterte ihm andererseits die für seine Frau schmerzhafte Botschaft. — Der weitere Verlauf entschied gegen den männlichen Triumph des psychischen Hermaphroditen: die Frau ging in ihrer Aggression noch weiter und beklagte sich bei ihren Angehörigen, die ihm nun die schwersten Vorwürfe machten. Jetzt verfiel er mit steigender Sicherungstendenz in Apathie, wollte auch seinen zwecklosen Fehltritt ungeschehen machen, da er ihm nicht zum männlichen Triumph verholfen hatte, und fand die Lösung in der Fiktion eines reinigenden Wunders, das Gott an ihm vollzogen hatte. Jetzt war er wieder auf der Höhe, seine Prädestinationsphantasie brach durch, er stand mit Gott in Verbindung, bekam Aufträge und Befehle von ihm und errichtete ein Wahngebände, in dem er als Prophet auf Erden wandelte. Auch die Masturbation, die er gelegentlich offen übte, bezeichnete er als Wunder, um so dem Gefühl einer Herabsetzung zu entgehen. Stereotypien bestanden unter anderem in einer zeitweiligen Geraderichtung des Körpers und Emporwerfen des Kopfes, eine Bewegung, die ich gelegentlich bei einer Hysterika als männliche Erektionsphantasie deuten konnte. —
„Jemandem eine bittere Wahrheit sagen!“ Dies Wort enthält den Kern der vorgetragenen Auffassung. Der Neurotiker bedient sich oft der Wahrheit, um dem andern weh zu tun. Angenehme Wahrheiten wird man von nervösen Patienten nie hören, ohne dass die Reaktion, gewöhnlich eine Verschlimmerung des Leidens, bald sichtbar würde. Jeder Liebesregung, die als weiblich, als Unterwerfung empfunden wird, folgt eine Hassregung als männlicher Protest, letzterer im Gewande der Wahrheit, — ein Mann, ein Wort. — Auch in diesem Falle von Demenz finden wir ein Stadium, wo der Zweifel an der eigenen Männlichkeit durch Kunstgriffe und durch Anspannung der leitenden Fiktion im männlichen Protest überbaut wird, wo die kompensierende Sicherungstendenz dazu drängt, ein leitendes Symbol (als ob man Lehrer, Kaiser, Heiland etc. wäre) wörtlich zu nehmen und zu arrangieren.
Andere Züge wie die der Launenhaftigkeit, der Ungeselligkeit sind ebenfalls deutlich als Bereitschaftsstellungen zu erkennen, jederzeit geeignet, die Überlegenheit anderer, die Durchsetzung des Willens anderer zunichte zu machen. Der nervöse Mensch ist der typische Eigenbrödler und Spielverderber, kommt von seinem Grössenideal abgelenkt in die stärkste Unsicherheit und ist stets am Werke, seine eigenen Richtungslinien zu hypostasieren und zu vergöttlichen, die anderer zu durchkreuzen. — Auch einer weiteren Verwendung sind diese Züge fähig. Der Nervöse nimmt seine Unfügsamkeit, seine störenden Attacken als Beweise dafür, dass ihn die anderen beeinträchtigen wollen und richtet schützend die Mauer seiner Prinzipien auf, innerhalb deren sich sein Herrschergefühl entfalten kann. Hier
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/131&oldid=- (Version vom 31.7.2018)