moralischen Bereitschaften erproben und insbesondere — principiis obsta! — sich vor Weiterungen und vor moralischem Falle, die er vorausahnend stark übertreibt, dadurch sichern, dass er anticipando die moralische Niederlage empfindet. Dieser letztere, halluzinatorische Kunstgriff gleicht der Sicherung durch die neurotische Angst, wie sich ja auch Gewissen, Schuldgefühl und Angst in der Neurose oft ergänzen, oft ablösen. Von grosser Wichtigkeit für den Psychotherapeuten ist diese Kenntnis für den Zusammenhang von Masturbation und Neurose, aus welchem sich gleichfalls die sichernde Bedeutung des aus der Tatsache der Onanie konstruierten Schuldgefühles ergibt. Wird dieses Schuldgefühl in ein Junktim mit der Masturbation gebracht, um gegen den Zwang der Sexualität als Bremse zu wirken, so fundieren beide später die Operationsbasis, von der aus der Patient seine neurotischen Bereitschaften erweitert, um sich gegen eine Herabsetzung seines Persönlichkeitsgefühls zu wehren. In der Regel werden beide, — meist unter Zuhilfenahme von antizipierten „Folgen“ wie Impotenz, Tabes, Paralyse, Vergesslichkeit, — als Vorwand verwendet, um vor Entscheidungen zurückzuweichen, immer auch, um die Furcht vor dem sexuellen Partner zu vertiefen. Derartige Zusammenhänge habe ich des öfteren in dieser und früheren Arbeiten beschrieben.
Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit grenzen in der Neurose deutlich an Pedanterie. Und so wird es uns nicht wundernehmen zu erfahren, wie oft diese Vorzüge ihren wahren Wert aus der durch sie hergestellten Bereitschaft beziehen, Andere herabzusetzen, mit ihnen in Konflikt zu geraten, sich über sie zu erheben und sie in den Dienst zu stellen. Gerade der Nervöse, dessen Herrschsucht das Schema innehält, alles haben zu wollen, der nicht selten Erinnerungen an Laster aufbewahrt, wird sich meist sorgsam hüten, sein Geheimnis preiszugeben, was ihm die sichere Niederlage einbrächte. Er wird vielmehr mit Peinlichkeit, meist auch mit Angst den Schein zu wahren suchen, wird ängstlich erröten, wenn er seine eigene Brieftasche vom Boden aufhebt, oder wird das Alleinsein in einem fremden Zimmer vermeiden, um bei Verlust eines Gegenstandes nicht in den Verdacht des Diebstahles zu kommen. Ebenso fand ich einen Starrsinn, immer vorausbezahlen zu wollen, nichts schuldig zu bleiben, bei Patienten, denen jede Ausgabe als weitere Verkürzung ihres Persönlichkeitsgefühls erschien. Sie zogen ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vor, hatten dabei aber zugleich ein Gefühl der Überlegenheit über den Empfangenden.
Desgleichen entpuppt sich der Wahrheitsfanatismus vieler Neurotiker — man denke an das Urbild, das enfant terrible, — in der Regel als Racheakt des Schwächeren gegen überlegene Kraft. Aus der Vorgeschichte eines Katatonikers erfuhr ich, dass er von seiner Frau bedrückt und herabgesetzt wurde. Eines Nachts brach er in Schluchzen aus und gestand seiner Frau, dass er sie mit einem Dienstmädchen betrogen habe. Sein männlicher Protest bediente sich des Kunstgriffes, einen Ehebruch zu versuchen, um daran ein offenes Geständnis zu knüpfen, wieder in der Form des uns bereits bekannten neurotischen Junktims. Es ergab sich, dass die Frau nicht bloss über den stärkeren Willen, sondern auch über den Geldschrank verfügte. Patient selbst, ein schwächlicher Prestigemensch, musste von ihren Revenuen leben, was die Frau und deren Familie, obwohl sie es voraus wussten, zum Anlass mannigfacher Kränkungen nahmen. Um sich vor der Überlegenheit der
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/130&oldid=- (Version vom 31.7.2018)