des Mannes, der die Entwertung als Sicherung auf dem Fusse folgt. Andere Sicherungen bekräftigen unsere gewonnene Anschauung. Prinzipielle Anschauungen wie: alle Männer sind roh, tyrannisch, haben einen üblen Geruch, sind infiziert etc., zeigen den Einfluss der tendenziösen Apperzeption. Bei männlichen Nervösen findet man misstrauische Grundauffassungen, welche jede Frau als lasterhaft, unersättlich, leichtsinnig, physiologisch schwachsinnig, ihrer Sexualität schrankenlos preisgegeben hinstellen. Unsere Lehrmeister, — Philosophen und Dichter, — die uns die Leitbilder unserer Zeit, den „heimlichen Kaiser“ (Simmel) formen, unterliegen nicht selten den gleichen Fiktionen. Der Nervöse greift sie dann gerne auf, um eine sichernde Linie in der Unrast des Lebens zu gewinnen. Für die obige neurotische Richtung der Männer haben ausser den Religionslehrern und Kirchenvätern noch Schopenhauer, Strindberg, Moebius und Weininger die beliebtesten Klischees geschaffen. Den gelehrten Disputationen der Kleriker, ob das Weib eine Seele habe, ob sie ein Mensch sei, folgte der Hexenhammer und die Schmach der Hexenverbrennungen. — Die sichernden schematischen Fiktionen nervöser Mädchen sind, — da die Kunst fast ausschliesslich noch Männerwerk ist, und die neurotische Apperzeption der Frau weniger geeignete Stoffe bietet, — einer kindlichen Anschauungsstufe entnommen, deshalb noch schwerer mit der Realität in Einklang zu bringen.
Wo aber die Realität auf die neurotische Fiktion der Mädchen wirken kann, wird sie meist Charakterzüge und Tendenzen zeitigen, die noch immer deutlich genug die männliche Neigung zur Überwältigung des Mannes, bei stärkster Sicherung — in homosexueller Art — des Weibes aufweisen, aber den entwerteten, in geringerem Grade kampffähigen Mann zur Liebe oder Ehe suchen. Der Ausdruck des Mitleids kann dann oft den wahren Sachverhalt verschleiern, und die Liebe wird dann frei, wenn der Mann machtlos, gesunken, ein Krüppel, gealtert ist. In Phantasien, Träumen, Halluzinationen, in denen der Mann entmannt, in ein Weib, in eine Leiche verwandelt, „unten“ ist, besonders aber in der Tendenz den Mann wehrlos, klein, erniedrigt zu sehen, äussert sich der Zwang der männlichen leitenden Fiktion, und findet in der Nekrophilie seinen gesteigerten Ausdruck[1].
Ein anderer Weg führt, wie schon erwähnt, über die Linie des „Alles haben Wollens“ zur neurotischen Koketterie. Der männliche Protest drückt sich dabei aus: 1. in der Tendenz, ein ursprüngliches Gefühl der Minderwertigkeit, der Verkürztheit, apperzipiert nach dem Bild des verloren gegangenen männlichen Geschlechtsteiles durch Herrschaft und Beherrschung vieler, aller Männer zu kompensieren, 2. durch die Ablehnung einer weiblichen Rolle im Sexualverkehr, in der Ehe; an Stelle dieser als Herabsetzung gewerteten Rolle setzen sich Kunstgriffe, die von der männlichen Leitlinie diktiert sind, wie sexuelle Anästhesie und Perversionen aller Art, unter denen sadistische, den Mann herabsetzende überwiegen. Bloch hat die Herrschsucht der Koketten gut hervorgehoben, indem er sagt (Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sex. 1903): „Die Koketterie, welche man als die Bemühung der Weiber, die Männer an sich zu fesseln und unter ihre Herrschaft zu bringen, definieren kann, bedient
- ↑ Eulenburg hat die innige Beziehung der aktiven Algolagnie (v. Schrenck-Notzing) zur Nekrophilie in der gleichen Weise hervorgehoben.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/120&oldid=- (Version vom 31.7.2018)