Bei unserer vorhergehenden Betrachtung konnten wir die mannigfachen Versuche, Vorbereitungen und Bereitschaften einer Patientin beobachten, die durch ihre männliche Einstellung bedingt waren. Die resultierende Furcht vor dem Manne war so gross, dass jede Knüpfung einer Liebesbeziehung verhindert war, bis die Behandlung sie ermöglichte. In sehr vielen Fällen sieht man den männlichen Protest in einer scheinbar entgegengesetzten Weise zum Ausdruck kommen: die Patientinnen knüpfen ununterbrochen neue Beziehungen an, die freilich leicht verkümmern und von den seltsamsten Schicksalen bedroht sind. Auch Ehen zu schliessen sind sie ein- oder mehrere Male fähig, ebenso sie wieder aufzuheben. Sehr häufig brechen die heftigsten Leidenschaften der Liebe durch, die alle Hindernisse überwinden können, durch sie meist nur gesteigert werden. Die gleichen Erscheinungen kann man bei männlichen Nervösen beobachten. Bei näherer Betrachtung findet man die bekannten Züge des Neurotikers wieder, in erster Linie seine Herrschsucht, die sich wie seine anderen Charaktere der Liebesbeziehung als eines Vehikels bedienen, um sich beweisbar durchzusetzen. Die Sehnsucht, alles haben zu wollen, drückt sich auf diesem Wege derart aus, dass alle Männer, zuweilen alle Menschen zum Ziel der Eroberung gemacht werden, wobei die Koketterie und das Zärtlichkeitsbedürfnis, die Unzufriedenheit mit dem erreichten Lose gar sehr in die Halme schiessen. Auffällig ist oft das Junktim mit Schwierigkeiten. Ein kleines Mädchen bevorzugt nur grossgewachsene Männer, oder die Liebe bricht erst los bei Verboten der Eltern, während das Erreichbare mit offener Geringschätzung behandelt wird. In den Gesprächen und Erwägungen solcher Mädchen taucht immer das einschränkende Wörtchen „nur“ auf. Sie wollen nur einen gebildeten, nur einen reichen, nur einen männlichen Mann, nur platonische Liebe, nur eine kinderlose Ehe, nur einen Mann, der ihnen volle Freiheit lässt usw. — Man sieht dabei oft die Entwertungstendenz so stark am Werke, dass schliesslich kaum ein Mann übrig bleibt, der ihren Anforderungen genügte. Meist haben sie ein fertiges, oft ein unbewusstes Ideal, dem Züge des Vaters, Bruders, einer Märchenfigur, einer literarischen oder historischen Persönlichkeit beigemengt sind. Je mehr man sich mit diesen Idealen vertraut macht, desto grösser wird unsere Überzeugung, dass sie als fiktives Mass aufgestellt sind, um daran die Wirklichkeit zu entwerten. Die psychische Richtung mit den begleitenden Zügen „unweiblichen“ Wesens, die vielfach zu „männlichen“ Zügen der Sexualfreiheit, Untreue und Unkeuschheit Anlass gibt, zielt deutlich nach dem Leitbild der Manngleichheit. Die Analyse ergibt leicht ursprüngliche Organminderwertigkeiten, ein übertriebenes Minderwertigkeitsgefühl, eine auffällige ursprüngliche Höherschätzung
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/119&oldid=- (Version vom 31.7.2018)