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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/12

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Pierre Janet hat diesen Zusammenhang sicherlich gekannt, wie aus einzelnen seiner klassischen Schilderungen über den „Geisteszustand der Hysterischen" 1894[1] hervorgeht. Er hat sich aber einer eingehenden Darstellung entschlagen. Er betont ausdrücklich: „Ich habe bis jetzt nur allgemeine und einfache Züge des Charakters beschrieben, die durch ihre Verbindungen und unter dem Einflusse bestimmter äusserer Umstände Haltungen und Handlungen eigentümlicher Art in allen Formen erzeugen können. Es ist hier unstatthaft, auf diese Beschreibung näher einzugehen, da dieselbe mit einem Sittenromane grössere Ähnlichkeit aufweisen würde als mit einer klinischen Arbeit.“ Mit dieser Stellungnahme, der er bis zu seinen letzten Werken treu geblieben ist, hat dieser Autor, trotz seines klaren Verständnisses für den Zusammenhang von Neurosenpsychologie und Moralphilosophie den Weg zur Synthese nicht beschritten.

Erst Josef Breuer, ein genauer Kenner der deutschen Philosophie, hat den glitzernden Stein gefunden, der am Wege lag. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf den „Sinn" des Symptoms und wollte Herkunft und Zweck desselben bei dem Einzigen, der darauf antworten konnte, beim Patienten erfragen. Damit hat dieser Autor eine Methode begründet, die historisch und genetisch individualpsychologische Erscheinungen aufklären will, unter Zuhilfenahme einer vorläufigen Voraussetzung, der einer Determination psychischer Erscheinungen. Wie diese Methode von Siegmund Freud erweitert und ausgebildet wurde, woran sich eine Unzahl von Problemstellungen und versuchten Lösungen knüpften, gehört der Gegenwartsgeschichte an und ist ebenso auf Anerkennung wie auf Widerspruch gestossen. Weniger einer kritischen Neigung folgend als um den eigenen Standpunkt hervorzuheben, mag es mir gestattet sein, aus den fruchtbaren und wertvollen Leistungen Freuds vor allem drei seiner fundamentalen Anschauungen als irrtümlich abzusondern, da sie den Fortschritt im Verständnis der Neurose zu versperren drohen. Der erste Einwand betrifft die Auffassung der Libido als treibender Kraft für das Geschehen in der Neurose. Gerade die Neurose zeigt deutlicher als das normale psychische Verhalten, wie durch die neurotische Zwecksetzung die Empfindung der Lust, die Auswahl derselben und ihre Stärke in die Richtung dieses Zweckes gezwungen werden, so dass der Neurotiker eigentlich nur mit seiner sozusagen gesunden psychischen Kraft der Lockung des Lusterwerbs folgen kann, während für den neurotischen Anteil „höhere“ Ziele gelten.

Als diese neurotische Zwecksetzung hat sich uns die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls ergeben, dessen einfachste Formel im übertriebenen „männlichen Protest“ zu erkennen ist. Diese Formel: „ich will ein ganzer Mann sein!“ ist die leitende Fiktion in jeder Neurose, für die sie in höherem Grade als für die normale Psyche Wirklichkeitswerte beansprucht. Und diesem Leitgedanken ordnen sich auch Libido, Sexualtrieb und Perversionsneigung, wo immer sie hergekommen sein mögen, ein. Nietzsches „Wille zur Macht“ und „Wille zum Schein“ umfassen vieles von unserer Auffassung, die sich wieder in manchen Punkten mit Anschauungen Férés und älterer Autoren berührt, nach welchen die Empfindung der Lust in einem


  1. Übersetzt von Dr. Max Kahane.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/12&oldid=- (Version vom 31.7.2018)