tantum ad illam respicit et luxuria et
avaritia. Ad opinionem dolemus. Tam miser
est quisque, quam credidit!
Die Untersuchung des neurotischen Charakters ist ein wesentlicher Teil der Neurosenpsychologie. Wie alle psychischen Erscheinungen ist er nur im Zusammenhang mit dem ganzen seelischen Leben zu erfassen. Eine flüchtige Kenntnis der Neurosen genügt, um das Besondere daran herauszufinden. Und alle Autoren, die dem Problem der Nervosität nachgegangen sind, haben mit besonderem Interesse gewisse Charakterzüge ins Auge gefasst. Das Urteil war ein allgemeines, dass der Neurotiker eine Reihe scharf hervortretender Charakterzüge bietet, die das Mass des Normalen überschreiten. Die grosse Empfindlichkeit, die Reizbarkeit, die reizbare Schwäche, die Suggestibilität, der Egoismus, der Hang zum Phantastischen, die Entfremdung von der Wirklichkeit, aber auch speziellere Züge, wie Herrschsucht, Bösartigkeit, opfervolle Güte, kokettes Wesen, Feigheit und Ängstlichkeit, Zerstreutheit figurieren in den meisten Krankengeschichten, und man müsste alle gründlichen Autoren namhaft machen, um ihren Beitrag zu bestätigen. Von den Neueren ist insbesondere Janet zu nennen, der die Traditionen der berühmten französischen Schule fortführt und namhafte scharfsinnige Analysen zutage gefördert hat. Insbesondere seine Betonung des „sentiment d'incompletude" des Neurotikers stimmt so sehr mit den von mir erhobenen Befunden überein, dass ich in meinen Arbeiten eine Erweiterung dieser wichtigsten Grundtatsache aus dem Seelenleben des Neurotikers erblicken darf.
Wo immer man mit der Analyse psychogener Krankheitszustände einsetzt, drängt sich nach kürzester Beobachtung ein- und dieselbe Erscheinung vor: dass das ganze Bild der Neurose ebenso wie alle ihre Symptome von einem fingierten Endzweck aus beeinflusst, ja entworfen sind. Dieser Endzweck hat also eine bildende, richtunggebende, arrangierende Kraft. Er lässt sich aus der Richtung und dem „Sinn" der krankhaften Erscheinungen verstehen, und versucht man auf diese Annahme zu verzichten, so bleibt eine verwirrende Fülle von Regungen, Trieben, Komponenten, Schwächen und Anomalien, die das Dunkel der Neurose für die einen so abstossend gemacht haben, während andere in ihm kühne Entdeckungsfahrten unternahmen.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/11&oldid=- (Version vom 31.7.2018)