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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/113

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ist, der auch schon die Inzestkonstellation geschaffen hat. Wo, wie in manchen Fällen, die Fixierung an einem der Elternteile deutlich sichtbar wird, ist sie zweckdienlich[1] konstruiert, arrangiert, um der Entscheidung vor anderen Partnern, vor der Liebe und Ehe auszuweichen. Denn meist hat der Nervöse die Liebes- und Ehebereitschaft als mit seinem männlichen Endziel unverträglich zerstört oder unausgebaut gelassen.

Die ursprünglichste der Dreiecksituationen aber, die „Inzestsituation“, löst sich bei näherer Betrachtung in eine durch den „Grössenwahn des Kindes“ erzwungene Affäre auf, die bereits alle neurotischen Charaktere des disponierten Kindes, seinen Neid, seinen Trotz, seine Unersättlichkeit, seine Frühreife aufweist. Ohne dass der Sexualtrieb dabei namhaft beteiligt sein braucht, können in der Vorbereitung für die Zukunft Gedanken und Erwägungen des Kindes zutage treten, die später sexuell gewertet und dargestellt werden, wenn die neurotische Sicherungstendenz daran anknüpfen will. „So masslos, straffällig war ich schon als Kind, so stark ist mein Sexualtrieb, so verbrecherisch bin ich veranlagt, ich bin ein Sklave der Liebe“, also tönt es dann durch die Seele des wachsenden Neurotikers. „Folglich muss ich vorsichtig sein!“ Die Triebfeder zur Festhaltung geeigneter Erinnerungen, zu den Erinnerungsfälschungen und Übertreibungen der Erinnerungsspuren ist durch die Furcht vor einer Niederlage im Leben gegeben. Und wo wirklich der Sexualtrieb sich bemerkbar gemacht hat, wo die Inzestmöglichkeit für das Kind gegeben war, wird die Erinnerung als schreckende Spur, als Memento aufbewahrt. Was die neurotische Psyche lenkt, sind nicht Erinnerungen, Reminiszenzen, sondern das fiktive männliche Endziel, welches die Nutzanwendungen zu seinen Gunsten in Form von Bereitschaften und Charakterzügen gezogen hat. Es macht kaum eine Änderung aus, wenn diese Reminiszenzen durch das Persönlichkeitsgefühl „verdrängt“, ins Unbewusste gestossen wurden; in jedem Falle steht der neurotische Charakter und die sonstigen psychischen Gesten mit ihrem unbewussten Mechanismus gegen die Einordnung in die Wirklichkeit.

So war es auch im Falle unserer Patientin. Sie konnte beispielsweise angeben, dass sie immer den Vater auf ihre Seite bringen wollte, dass sie dies auch durch sorgfältiges Eingehen auf seine Gedankengänge und Wünsche erreicht habe. Von der Mutter ihn loszureissen, war ihr nicht schwer gefallen. Mit 14 Jahren begann sie seinen Küssen auszuweichen, weil sie ein unheimliches, erotisches Gefühl dabei empfunden hatte. Zum Verständnis dieses Arrangements füge ich bei, dass Patientin seit ihrem 12. Lebensjahre deutliche Zeichen der Neurose aufwies. Ihre damalige Situation lässt uns den Sinn dieser Sicherung — durch Konstruktion erotischer Bereitschaften — verstehen. Sie war immer ein ungeberdiges, knabenhaftes Geschöpf gewesen, das damals bereits die Macht des Sexualtriebs empfinden gelernt hatte und seit längerer Zeit masturbierte. Um diese Zeit begannen auch Nachstellungen von seiten der Männer, gegen die sie mit starker Angst reagierte. Seit einigen Jahren war bereits die Sicherungstendenz soweit hervorgetreten, dass Patientin die Angstbereitschaft verstärkt hatte, die aus ursprünglich


  1. Entsprechend dem Lebensplan, dem Finale —.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/113&oldid=- (Version vom 31.7.2018)