Ich habe die Patientin gewarnt, — im Traume mache ich die laszive Geberde, deren sich der Bewerber schuldig gemacht hat, das heisst, ich stehe auf der gleichen Stufe, ich bin „auch nicht besser als die anderen Männer“. Dazu muss ich im Traume noch schweigen und eine zustimmende Geste machen. Der Gegengedanke, ich könnte besser sein, ist der Patientin unerträglich, von ihm, der mir eine Art Überlegenheit gibt, geht die vorbauende, sichernde, nach der neurotischen Perspektive gebaute Traumfiktion aus. Die Patientin fühlt sich nur sicher, wenn prinzipiell alle Männer gleich schlecht sind. Dann ist sie auf ihrer alten Leitlinie und fühlt sich überlegen. In ihrem Lachen spiegelt sich ihre Überlegenheit, ebenso in meinem Schweigen.
Bemerkenswert ist der Umstand, dass sie diese erste gefährlichere Liaison mit einem verheirateten Manne begann. Man kann in allen ähnlichen Fällen eine solche Beziehung als Sicherung vor der Ehe, meist auch vor Geschlechtsverkehr nachweisen. Die männliche Leitlinie bleibt gewahrt, aber die Realität macht sich durch den Einschlag weiblicher Regungen und Empfindungen geltend; es ist, wie ich des öfteren ausgeführt habe, ein männlicher Protest mit weiblichen Mitteln, der uns an die Tatsachen des psychischen Hermaphroditismus erinnert. Letzter Linie kommt auch die Überlegenheit über die Ehefrau im Dreieck zur Geltung, was in allen analogen Fällen die treibende Kraft ungemein verstärkt.
Wenn wir nun im Sinne einer vergleichenden Psychologie vorgehen und die Bestandteile der apperzipierenden Grundlage dieser Patientin zu bewusstem Ausdruck bringen wollen, indem wir uns die Frage vorlegen: woher hat die Patientin diese Bereitschaft, die psychische Vorbereitung, den Mann durch das weibliche Mittel ihrer Liebesregung zu entmannen, damit gleichzeitig ihr männliches Persönlichkeitsgefühl zu heben und eine Frau zu überflügeln?, so lautet die Antwort: aus ihrer Beziehung zu Vater und Mutter. Dort hat sie die Vorbereitung bekommen, sich dem Vater als konkretem Leitbild liebend und schätzend zu nähern, hat ihn beherrschen gelernt und hat so sich der Mutter überlegen gezeigt. Abstrahiert man von dem männlichen Protest des neurotischen Kindes und apperzipiert man selbst, wie es der Nervöse häufig tut, diese Geschehnisse in einem sexuellen Schema, so erhält man den „Inzestkomplex“. Man kann nun, wie ich in früheren Arbeiten gezeigt habe, aus dem „Inzestkomplex“ wieder herausziehen, was die männliche Leitlinie in ihn hineingetragen hat, nämlich die Sicherung des Persönlichkeitsgefühls unter dem Titel einer Liebesbedingung. In der psychoanalytischen Literatur taucht immer wieder die Behauptung auf, die Libido des Nervösen sei am Vater, an der Mutter fixiert, weshalb er ähnliche Bedingungen, eigentlich den geliebten Teil der Eltern suche. Die einzige wirkliche Liebesbedingung schafft der „Wille zur Macht und zum Schein“. Und diesen Leitpunkt sucht der Nervöse mit aller Vorsicht, aber unabänderlich, mit all seinen wohlausgebildeten, vorbauenden Bereitschaften, die von der Sicherungstendenz starr und mit ausschliesslicher Geltung geschaffen wurden und jeder Abänderung widerstreben. Die Bedeutung der Liebesbedingungen ist keine andere wie die der Sicherung des Persönlichkeitsgefühls, wobei die ausschliessende Wirkung desselben noch deutlicher verrät, dass die treibende Kraft im männlichen Protest zu suchen
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/112&oldid=- (Version vom 7.12.2022)