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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/103

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II. Kapitel.
Neurotische Grenzerweiterung durch Askese, Liebe, Reisewut, Verbrechen. — Simulation und Neurose. — Minderwertigkeitsgefühl des weiblichen Geschlechts. — Zweck des Ideals. — Zweifel als Ausdruck des psychischen Hermaphroditismus. — Masturbation und Neurose. — Der „Inzestkomplex“ als Symbol der Herrschsucht. — Das Wesen des Wahns.

Eine Betrachtung, die sich hier anreihen darf, will zu zeigen versuchen, wie die kompensierende Leitidee: „Alles haben zu wollen“, von ihrem geraden Wege abbiegen kann, um auf Umwegen oder nach Art eines Kunstgriffes sonderbare neurotische, verbrecherische, aber auch schöpferische Leistungen anzuregen, um endlich bei ihrem Ziele anzulangen und eine Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls irgendwie durchzusetzen, zumindest aber, und so lange bleibt die Neurose produktiv, vor einer Herabsetzung zu bewahren. Schon die Sparsamkeit, Kargheit und Askese mancher Neurotiker zeigt uns einen derartigen Umweg, auf dem sich der Patient treiben lässt, als ob er nur in dieser Weise vor Gefahren gefeit wäre. Er handelt dann strenge nach diesen fiktiven Leitlinien, glaubt an sie, steigert auch sein abnormes Wesen in Fällen besonderer Unsicherheit bis zur Psychose. In der Melancholie, bei Vorwiegen von Verarmungsphantasien, antizipiert der Patient, um der wirklichen Gefahr zu entgehen, ähnlich wie bei der Hypochondrie einen befürchteten Zustand, versucht eine Fiktion zu realisieren, unterstreicht sein Minderwertigkeitsgefühl und verwendet sein Leiden zur Sicherung seines Persönlichkeitsgefühls. Auch Fälle von Kaufzwang, Fetischismus, neurotische Sammelwut und Kleptomanie kommen als Äusserungen dieser Gier, Alles haben zu wollen, zustande. Immer ist ein Zug sichtbar, die von der Realität gesetzten Grenzen entlang einer fiktiven Leitlinie zu durchbrechen, um einem Gefühl der Verkürzung zu entkommen. Immer tritt dabei die Apperzeption nach dem strengen bildlichen Gegensatz von „männlich-weiblich“ zutage und lässt den Patienten häufig Betonungen und Unterstreichungen vornehmen, durch welche bewiesen werden soll, dass er ein Mann sei. Dazu nun eignet sich das sexuelle Symbol als Ausdrucksmittel recht gut, dessen Auflösung die übertriebene männliche Richtungslinie zuweilen auf sonderbaren Umwegen ergibt. Hier reihen sich nervöse Lügenhaftigkeit, Prahlerei, Hochstaplertum an, ebenso Versuche mit dem Feuer, mit der Liebe zu spielen und so die gegebenen Grenzen so weit als möglich hinauszuschieben. Harmlosere Erscheinungen sind pathologische Reiselust, deren Ausartung im Weglaufen, in der Fugue neurotischer und psychotischer Personen zu finden ist. Regelmässig ist im Leitbild dieser Nervösen ein Persönlichkeitsideal, dessen Höhe durch Nachahmung oder durch trotziges, negativistisches Verhalten zu erreichen gesucht wird. Die gleiche Richtung, männliches Können bis an die äusserste Grenze

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/103&oldid=- (Version vom 31.7.2018)