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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/102

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in der Kindheit immer mehr entzog, kam er, wie so viele Kinder in ähnlicher Situation, auf den Gedanken, er sei nicht das Kind dieser Familie. Die Märchen vom „Schneewittchen“ und „Aschenbrödel“ dürften bei diesen Kinderphantasien häufig Leitgedanken abgeben. Als sein älterer Bruder einst erkrankte, wich die Mutter nicht von ihm. Seither reizte es unseren Patienten ununterbrochen, durch schwere Ohnmachtsanfälle, wie er sie von einem Onkel kannte, die Eltern, insbesondere die Mutter zu prüfen, ob die Stimme des Blutes sprechen würde. Diese Prüfungen nahm er mit echt neurotischer Unersättlichkeit vor, und so zeigt sich auch in diesem Falle die völlige Auflösung des Ödipuskomplexes, sein Wesen als das einer arrangierten Fiktion, seine Bedingtheit als Ausdrucksmittel des männlichen Protestes gegen ein Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit, seine Abhängigkeit von der neurotischen Sicherungstendenz des „Alles haben Wollens“.

Der innere Widerspruch, der sich bei dieser Form des männlichen Protestes oft geltend macht, die moralische Verurteilung eines dem Grundsatz des „Alles haben Wollens“ entsprechenden Handelns, aber auch die stärkere Einsicht in die Unerfüllbarkeit, oder die Furcht vor der Entscheidung, die gegen den Patienten fallen könnte, erzwingen häufig ein Kompromiss. Man kann dieses am besten in die Worte kleiden: Halb und halb! Der Patient sucht einen Ausweg aus dem Dilemma und kommt auf diesem Wege zu dem: Divide et impera! Zuweilen ist dieser Weg gangbar, — wegen der Möglichkeit einer Befriedigung der Herrschsucht. Manchmal kommt es dabei zu starken kulturellen, aber auch zu utopischen Ausprägungen von Gleichheitsgefühlen und Gerechtigkeitsliebe.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/102&oldid=- (Version vom 31.7.2018)