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Seine Mutter

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Textdaten
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Autor: A. Merck
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Titel: Seine Mutter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20–21, S. 334–338, 351–352
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[334]

Seine Mutter.

Von A. Merck.

Das ist Er! Da ist Er!“

„Wo? Welcher ist es?“

„Der erste, mit dem braunen Gesicht und dem weißen Rock – jetzt kannst Du ihn nicht mehr sehen, aber das war er ganz gewiß, ich kenne ihn ja.“ –

Ja, das war Er, der Held des Tages, der berühmte Reisende. Er sah gar nicht danach aus, das heißt, er hatte allerdings eine tiefgebräunte Gesichtsfarbe und einen kräftigen breitschulterigen Körper – im übrigen sah er aus wie ein guter Junge.

Aber die Sommerkolonie Waldeck war anderer Ansicht. Waldeck fand in seinem offenen gutmüthigen Gesicht wilde Energie und tollkühnen Muth, Weltverachtung und Melancholie, Trotz – selbst Grausamkeit – kurz Materialien, um ein halbes Dutzend Romanhelden ganz leidlich auszurüsten – nur war Paul Jung leider kein Romanheld. – Und da sagt man noch der Prophet gilt nichts im Vaterlande! Nichts ist ungerechter als dieser Ausspruch; wenn der Prophet nur gelegentlich sein Vaterland verläßt, wie Paul Jung, und „eine Reise thut“ – dann – so dann kann er was erzählen, und sein Vaterland ist ebenso neugierig wie jedes andere Land und öffnet ihm bereitwilligst Arme, Ohren und Salons, damit er diese Neugierde befriedige.

Früher hatte eigentlich niemand erwartet, daß Paul Jung ein Held werden würde. Er war als einziger Sohn reicher, zärtlicher Eltern nicht eben übermäßig angestrengt worden. Er hatte sich so langsam und friedlich durchs Gymnasium gesessen und geträumt, wie es seiner etwas beschaulichem trägen Gemüthsart entsprach, er war daher einige Jahre später damit zustande gekommen, als es gewöhnlich der Fall zu sein pflegt. Seine Freunde hatten ihn weit hinter sich gelassen in der Jagd nach dem Glück, jeder von ihnen hatte schon ein beträchtliches Stück des Weges zurückgelegt, aus dem er diese leichtfüßige Göttin zu erreichen hoffte. Paul ließ sich, wenn sie ihn besuchten, mit vieler Gutmüthigkeit und träger Bewunderung die Thaten seiner Altersgenossen berichten er lag dann in seinen Sessel zurückgelehnt und sah aus freundlichen, halbgeschlossenen Augen bald zu den Erzählenden hinüber, bald den Rauchwolken seiner kurzen Pfeife nach und war ein vortrefflicher Zuhörer. Sagte dann aber einer oder der andere: „Und Du, Paul? Was willst Du eigentlich thun und werden?“ dann lachte er halb verlegen und sagte wohl: „Werden? – Nun, ich denke, ich werde älter werden und thun? Hm! das weiß ich noch nicht recht – mir scheint, ich werde nirgends sehr nöthig sein, es sind überall schon so viele von Euch und Ihr könnt es alle so viel besser.“

„Aber Mensch, Du bist zu jung, um die Hände in den Schoß zu legen. Jeder soll doch eine Beschäftigung haben, und Du Glücklicher kannst Dir so die suchen, die Dir zusagt.“

„Das kann ich eben gerade nicht,“ meinte Paul dann nachdenklich, „ich verstehe mich gar nicht aufs Suchen. Aber ich denke so wenn es wirklich eine Beschäftigung giebt, die für mich paßt, wird sie schon einmal kommen, mich zu suchen, darauf will ich warten!“

Seine Freunde lachten dann und nannten ihn unter sich einen Müßiggänger oder, wenn sie höflich waren, einen Sonderling.

Uebrigens war Paul kein müßiger Mensch. Er ritt und jagte, schwamm und segelte während der Monate, welche seine Eltern auf dem Lande verlebten, mehrere Stunden am Tage oder auch in der Nacht und füllte die übrige Zeit mit sehr mannigfaltiger Lektüre aus. War man nach der Stadt zurückgekehrt, so nahmen die Sitzungen mehrerer wissenschaftlicher Vereine und Gesellschaften, welchen er angehörte, einen großen Theil seiner Zeit in Anspruch. Seinen Eltern war das Leben, welches er führte, gerade recht. Sie hatten nur den einen Sohn und freuten sich, daß er häuslicher war und mehr mit ihnen lebte als die meisten jungen Leute in seinen Verhältnissen. Sie waren ziemlich nüchterne, ruhige Menschen ohne viel Ehrgeiz oder Phantasien sie wünschten nicht, ihren Sohn durch irgend welche hervorragende Leistungen glänzen oder zu hoher Stellung gelangen zu sehen; sie freuten sich seiner Gegenwart und dachten kaum je über die Zukunft nach.

Um so größer war daher ihre Bestürzung, als Paul eines Tages in ganz vorhergesehener Weise über diese Zukunft entschied. – Er hatte in einer Sitzung der geographischen Gesellschaft einem Vortrag beigewohnt, den der berühmte, eben von einer Expedition zurückgekehrte Afrikareisende Herwig gehalten hatte. Er hatte sich nachher, sehr gegen seine Gewohnheit, dem liebenswürdigen lebhaften Herrn vorstellen lassen und eine Frage an ihn gerichtet, welche gründliche Beschäftigung mit dem angeregten Gegenstand und ungewöhnliches Interesse bekundete. Es hatte sich ein längeres Gespräch entwickelt; Herwig hatte Gefallen an dem jungen Mann gefunden, sie waren zusammen nach Herwigs Wohnung gegangen und hatten sich erst spät in der Nacht getrennt. Am anderen Morgen hatte Jung nichtsdestoweniger zu sehr früher Stunde das Haus verlassen und war auch zum Frühstück nicht zurückgekommen. Das that er öfter, und seine Eltern fingen erst an, sich zu wundern, als er auch zum Mittagessen nicht erschien. Als sie aber den Kaffee einnahmen, trat Paul ein. Er sah bleich und etwas aufgeregt aus, sagte seinen Eltern guten Tag, ging einigemale im Zimmer auf und ab und blieb endlich vor dem Kamin stehen. Die beiden alten Leute tauschten einen verwundertem Blick aus, seine Mutter begann eben sorgenvoll. „Bist Du vielleicht heut’ nicht wohl?“ – als Paul sich rasch zu ihnen umwendete.

„Würdet Ihr sehr erstaunt sein, wenn ich eine größere Reise unternähme?“ fragte er.

„Eine Reise, Paul?“ – sein Vater sah ihn in der That sehr erstaunt an über einen derartigen Entschluß, denn bis dahin war Paul noch kaum aus seiner Vaterstadt herausgekommen

„In eine nicht ganz ungefährliche Reise. Ihr wißt, ich habe mich bis jetzt nicht nach einem Beruf umgesehen, weil ich immer meinte, der Beruf, der mich brauchte, würde sich nach mir umsehen. Ich habe es mir so erklärt. Beruf ist das, was einen Menschen ruft; diesem Ruf war ich aber auch bereit Folge zu leisten, sobald er eben an mich erginge. – Das ist nun heute geschehen.“

Die Mutter sah fragend den Vater an – der Vater schüttelte den Kopf. Beide hatten ihren Sohn noch nie so viel hintereinander und so lebhaft reden hören, sie waren aufs höchste gespannt.

„Ich hatte gestern ein längeres Gespräch mit Doktor Herwig,“ sagte Paul. „Er suchte mir klar zu machen, daß ich der geeignete Mann sei, um mit ihm nach Afrika zurückzugehen. Ich sah das selbst sofort ein, nahm aber noch eine Nacht Bedenkzeit, um nichts Uebereiltes zu thun, heut steht mein Entschluß ganz fest, und ich habe eben alles Nothwendige mit Herwig besprochen und verabredet. Er war sehr befriedigt, daß ich zu dieser Entscheidung gekommen bin, und denkt, wir werden in acht Wochen reisen können. Die Zeit scheint etwas kurz zur Vorbereitung, doch habe ich mich zum Glück gerade in der letzten Zeit eingehender mit diesen Gegenden beschäftigt.“

Er hielt inne und sah jetzt erst, daß seine Eltern sprachlos, entsetzt da saßen. Endlich stand die Mutter auf. Sie war eine ruhige Frau, nicht zu Gefühlsäußerungen neigend, Paul hatte sie nie weinen sehen, er war daher gerührt, als er jetzt zwei große Tropfen über ihre Wangen rinnen sah. Sie sagte langsam: „Ich kann nicht glauben, daß das Dein fester Entschluß ist, Paul!“ – aber ihr schmerzlich resignirter Blick strafte diese Worte Lügen; sie kannte ihren Sohn und wußte, daß seine Willensäußerungen ebenso selten wie unabänderlich waren. Er erwiderte auch nichts, sondern strich vorsichtig mit seiner großen Hand über ihr Gesicht, um die Thränen fortzuwischen. Auch der Vater war aufgestanden und sah ihn fragend an. Paul nickte und drückte ihm kräftig die Hand. „Ihr werdet mir keine Schwierigkeiten in den Weg legen wollen.“ Der Alte wich seinem Blick aus und blinzelte zu der Frau hinüber. „Wir sind alte Leute, Paul. Deine Mutter –“ aber sie fuhr heftig dazwischen. „Meinetwegen nicht! Denke nicht an uns in dieser Sache, wir können uns nur freuen, daß wir Dich so lange gehabt haben. Wenn Du glaubst, daß Du gehen mußt, so bin ich die letzte, die Dich zurückhalten wird.“ Sie fuhr sich jetzt selbst entschlossen mit der Hand über die Augen, die aber schon wieder getrocknet waren, und wandte sich zum Gehen. An der Thür blieb sie einen Augenblick stehen. „Du sagst mir dann noch, was Du zur Reise brauchst –“ damit ging sie hinaus.

Sie hatte auch in den acht Wochen, die Paul noch im elterlichen Hause verlebte, kein Wort der Klage oder des Vorwurfs, [335] und ihr Mann folgte einer nunmehr beinah dreißigjährigen Gewohnheit und richtete sich in allem nach seiner Frau. So ging ihr altes friedliches Leben zu dreien in dieser Zeit scheinbar ungestört weiter. Nur stockte bei den Mahlzeiten jetzt oft das Gespräch, welches freilich nie sehr lebhaft gewesen war, und in unbewachten Momenten hingen die Blicke der Frau an ihrem Sohn mit einer sorgenvollen Zärtlichkeit, welche diesen ruhigen, beinah harten Zügen sonst fremd war und der sie auch niemals Worte lieh. Dem Vater wurde es schwerer, seine Gefühle so zu beherrschen. Zuweilen, wenn die drei am Kamin saßen, räusperte er sich eine Weile und fing endlich an: „Paul, mein Sohn –“

Dann warf ihm aber seine Frau einen strengen Blick zu und schüttelte fast unmerklich den Kopf, und der arme Alte stand auf, ging zu dem Sohn, klopfte ihm auf die Schulter und sagte in halbklagendem Ton:

„Paul, mein Sohn, ich gehe jetzt meine Zeitungen lesen.“

„Also auf Wiedersehen, Vater!“ sagte dann der Sohn und nickte ihm freundlich zu.

„Also auf Wiedersehen!“ sagte er, als er auf dem Bahnhof seinen Eltern zum letztenmal die Hand drückte.

„Ach wann, mein Sohn Paul?“ sagte der Vater und seufzte tief.

„Nun, ich denke und hoffe, in längstens zwei Jahren wieder hier zu sein und Ihnen Ihren Sohn sicher wiederzubringen!“ rief Doktor Herwig fröhlich.

Frau Jung warf ihm einen feindlichen Blick zu und trat zu ihrem Sohn, indem sie Herwig halb den Rücken wendete. Sie hatte sich wortlos darein gefunden, daß Paul den gefährlichen und mühevollen Weg eines Forschungsreisenden einschlagen wollte, aber den, der ihn auf diesen Weg geführt hatte, haßte sie.

„Lebe wohl, Paul!“ sagte sie und hielt seine beiden Hände mit männlich festem Druck. „Ich habe Dir keine Hindernisse in den Weg gelegt, das Zeugniß mußt Du mir geben. Aber nun, ehe Du Dich dort unten muthwillig in eine Gefahr begiebst, denke auch an Deine Eltern, die in der Welt nichts haben außer Dir!“

Sie trat zurück und sah ihn noch einmal an. Da verzog sich ihr Gesicht plötzlich wie in äußerstem körperlichen Schmerz. Paul wollte rasch auf sie zutreten, aber sie winkte ihm abwehrend mit der Hand, wandte sich um und war bald im Gewühl des Bahnhofs verschwunden. Als ihr Mann, der bis zur Abfahrt des Zuges geblieben war, um seinen Sohn wieder und wieder ein letztes Mal zu umarmen, etwas später nach Hause kam und besorgt in ihr Zimmer trat, fand er sie in ihrer gewohnten ruhigen Art ihren Beschäftigungen nachgehend.

* * *

Paul blieb ein Jahr und sieben Monate fort, und diese Zeit verging den beiden alten Leuten sehr langsam. Zwar thaten die Freunde das Ihrige, um sie ihnen zu verkürzen, und die verwaisten Eltern erkannten das dankbar an; außerdem kamen Pauls Briefe. Sie kamen natürlich selten und in unregelmäßigen Zwischenräumen; aber jeder Brief war ein Ereigniß. – Wie herrlich konnte er aber auch schreiben, dieser so ruhige, träumerische Mensch! Die Augen der alten Leute strahlten und ihre Herzen erwärmten sich an dem Feuer dieser Schilderungen. Der Träumer war erwacht, der Unthätige hatte seinen Beruf – oder vielmehr sein Beruf hatte ihn gefunden.

„Ich danke es meinen Sternen,“ schrieb er, „daß sie mich verhindert haben, mein Leben an irgend eine gleichgültige Thätigkeit fortzuwerfen, die mir keine Befriedigung gegeben hätte, während ich jetzt erst weiß, was es heißt, zu leben. Ich bedaure die anderen Menschen, die das nie erfahren werden. Hier fühlt man es bei jedem Athemzug, man lebt so kräftig mit Augen und Ohren, Händen und Füßen, Vernunft und allen Sinnen, wie man es in unseren zahmen, lauwarmen, abgeschlossenen Verhältnissen nie könnte.“

Solche Stellen unterdrückte Frau Jung, wenn sie „Pauls letzten Brief“ dem Kreis der Freunde vorlas, die sich dazu stets mit dem lebhaftesten Interesse versammelten. „Sie würden es doch nicht verstehen, es nur für den gewöhnlichen Hochmuth des Reisenden halten, der auf sein Vaterland herabsehen will,“ sagte sie zu ihrem Mann. Aber die Schilderungen von Land und Leuten, von Jagden und halsbrechenden Fahrten über Stromschnellen, von merkwürdigen, neuentdeckten Thieren und Pflanzen las sie vor und genoß die Bewunderung der Freunde schweigend, aber gründlich.

Einmal schrieb Paul in lebhafter Erregung über die Entdeckung einer Insel, die er auf einer einsamen Expedition gemacht hatte. Sie lag in einem der gewaltigen Seen, war gänzlich unbewohnt und erfreute sich einer besonders mannigfaltigen und glänzenden Flora und Fauna. Doktor Herwig hatte ebenfalls eine begeisterte Schilderung eingesendet, welche sogar Frau Jung milder gegen ihn stimmte.

„Ihr Sohn ist zum Forschungsreisenden geboren,“ schrieb er. „Er ist ein unschätzbarer Gefährte für mich. Wir haben die neu entdeckte Insel ‚Pauls-Insel‘ genannt, ich wollte, Sie könnten sie sehen. Hätten Sie nicht Lust, überzusiedeln? Es ist der Mühe werth!“

„Es ist eine kleine Perle,“ schrieb Paul, „wollen wir uns da ein Königreich gründen? Kommt herüber; Ihr müßt mir aber noch eine hübsche kleine europäische Königin mitbringen, denn eine schwarze Schwiegertochter werdet Ihr Euch doch nicht wünschen.“

Einige Photographien und Zeichnungen von seiner Insel lagen dieser Sendung bei und gingen von Hand zu Hand. Ueberall wurden Ausrufe der Bewunderung laut. – Die aufmerksamste Zuhörerin war auch die jüngste des ganzen Kreises. Ein reizendes zierliches kleines Persönchen, zwischen Kind und Dämchen, mit kurzen blonden Locken, die sie von Zeit zu Zeit mit ihren schlanken Fingerchen ungeduldig von der Stirn zurückschob, über die sie immer wieder fielen. Die großen blauen Augen hingen gebannt an den Lippen der Vorleserin, und ein immer tieferes Roth stieg in das liebliche Kindergesicht und färbte dasselbe schließlich bei der Stelle von der hübschen kleinen europäische Königin bis all die Haarwurzeln. Wie hilfesuchend wendete sich die zierliche Kleine an die neben ihr sitzende Mutter, und diese lächelte ihr zu, indem sie ihr die Ansichten von der Pauls-Insel reichte, welche sie eben aufmerksam betrachtet hatte. Ada breitete diese vor sich aus, stützte den Kopf in beide Hände und versank gänzlich in das Studium dieser Blätter.

Von jenem Tage an geschah in Adas innerstem Heiligthum eine große Veränderung. Eine Anzahl älterer Bilder ihrer Anbetung wurden mit ebenso großem Eifer gestürzt, wie sie einst errichtet worden waren, und auf einsamem Sockel erhob sich eine Gestalt, in welcher nur die begeisterte Priesterin das Urbild erkennen konnte. Es war eine Gestalt wie die Riesen der Vorzeit, mit hoch erhobenem Haupt, mit großen dunklen Augen, die von innerem Feuer strahlten und leuchteten, mit langherabwallenden Locken – ach, Ada! sehr lang war das schlichte Haar Deines Helden nie gewesen, aber wenn Du es jetzt hättest sehen können, dicht abrasirt, nur wie eine braune Farbe den runden, etwas dicken Kopf bedeckend! – Um dieses Götterbild wehten und rauschten Palmen, dufteten seltsam prächtige Blumen in leuchtenden Farben. Bunte Vögel flogen durch diesen Märchenwald, und die kleine Priesterin lauschte stundenlang ihrem Gesang und berauschte ihre phantastische Seele an den fremdartigen Gebilden. Mit einem Wort, und um es in unserem geliebten Deutsch auszudrücken: Ada Laurin liebte Paul Jung!

Ada Laurin war einzige Tochter ihrer Eltern, wie Paul Jung einziger Sohn der seinigen war. Die beiden Familien verkehrten seit langen Jahren ziemlich nahe, Ada hatte oft Gelegenheit gehabt, Paul zu sehen und mitunter, wenn er gerade dazu aufgelegt war, auch ihn reden zu hören, aber wir müssen gestehen, daß sie diese Gelegenheiten ziemlich ungenützt hatte vorübergehen lassen. Damals wäre es ihr auch nicht entfernt in den Sinn gekommen, einen Helden in ihm zu sehen, damals entsprach ihr Vetter, der Lieutenant, der tollkühne Reiter, gewandte Tänzer und gefürchtete Pistolenschütz, viel mehr ihrem männlichen Ideal. Aber dann war Paul eines Tages zu ihren Eltern gekommen, lebhaft, munter, mit leuchtenden Augen, wie sie ihn noch nie gesehen hatte – er sah wirklich hübsch aus. Er hatte die Familie aufs äußerste überrascht, indem er, so gemüthlich und selbstverständlich, als handle es sich um eine vierzehntägige Ferienreise, erzählte, daß er eine Forschungsreise nach Innerafrika machen würde. Ada hatte ihn mit großen Augen angesehen, er war unsäglich in ihrer Achtung gestiegen; während der halben Stunde, welche sein Besuch dauerte, verwandte sie keinen Blick von ihm und entdeckte in dieser Zeit, daß er einen höchst bedeutenden Kopf habe. Sie begriff gar nicht, daß sie das früher nie bemerkt haben sollte, obwohl es ihr jetzt ganz klar war, daß sie immer eine besonders gute Meinung von Paul gehabt hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto schwerer [336] erschien es ihr, ihn nun auf unbestimmte Zeit in diese fernen gefährlichen Länder ziehen zu sehen, aus denen er vielleicht niemals wiederkehren würde – nie – o Gott, wie traurig! Dieser frische, lebenslustige, gesunde Mann, der da neben ihr saß und sie so treuherzig mit seinen braunen Augen anlachte! – Unwillkürlich ergriff Ada seine Hand und sagte rasch:

„Nicht wahr, Sie nehmen sich in acht und kommen gesund wieder?“

Ein tiefes Roth überzog ihr Gesichtchen bei diesen theilnehmenden Worten, und Paul, von dem warmen Ton ihrer Stimme angenehm überrascht, schüttelte kräftig die kleine zitternde Kinderhand und sagte herzlich:

„Ich danke Ihnen, liebe Ada, ich werde ganz gewiß wiederkommen.“

Adas Eltern wechselten einen raschen Blick, und als sich nun Paul erhob, um fortzugehen, drückte ihm auch Frau Laurin mit einiger Rührung die Hand und sagte:

„Ada hat recht, lieber Paul, sorgen Sie, daß Sie gesund wiederkommen, um Ihrer Eltern und – um Ihrer Freunde willen!“ –

Das war der Abschied gewesen, und seit jener denkwürdigen Stunde hatte Adas Phantasie rastlos an dem Bilde ihres neuesten Helden gearbeitet, bis sie eine Art Halbgott aus ihm gemacht hatte. Jeder seiner Briefe gab der Flamme neue Nahrung, und sie brannte mit einer Beständigkeit, welche Adas Mutter an ihrem etwas flatterhaften Liebling unbegreiflich erschien und eigentlich Ada selbst ein wenig befremdete. Ihre Neigungen waren sonst ebenso kurz wie heftig, ein Nichts konnte sie erwecken und zerstören und kein tieferes Gefühl hatte bis dahin in ihrem leicht beweglichen Gemüth Wurzel geschlagen. Jetzt nahmen Frau Laurins Züge oft einen besorgten Ausdruck an, wenn ihr Liebling stundenlang nicht müde wurde, von Paul zu reden. – So angenehm ihr dieses im übrigen war, so schien ihr doch der Gedanke schrecklich, ihr einziges Kind an einen Afrikareisenden zu verheirathen und sie sann ernstlich darüber nach, wie sie Ada vor Pauls Rückkehr auf andere Gedanken bringen könnte.

Die günstigste Gelegenheit bot sich unverhofft und wurde von Frau Laurin mit Lebhaftigkeit ergriffen. Eine reiche, kinderlose Verwandte, Adas Firmpathe, lud diese ein, sie auf ihrem Schloß zu besuchen, welches in schönster Gegend gelegen und der Mittelpunkt einer glänzenden Geselligkeit war. Ada schwamm denn auch bald in Seligkeit und Bällen, und ihre kurzen Briefchen handelten nur von Festen und Huldigungen. Die ersten begannen noch regelmäßig mit der Frage: „Was sind von Paul für Nachrichten gekommen?“ Dann wurde dies Hauptinteresse in eines der zahlreichen Postskripte verbannt, endlich versiegte es fast gänzlich. Dies beruhigte Frau Laurin außerordentlich, und um so mehr, als sie die Frage gar nicht mehr hätte beantworten können. Die Nachrichten von Paul waren plötzlich ausgeblieben, und Tag auf Tag, Woche auf Woche war vergangen, ohne daß seine Eltern ein Lebenszeichen von ihrem einzigen Sohn erhielten. – Frau Laurin war aufrichtig betrübt für ihre alten Freunde und aufrichtig froh, daß Adas Herz doch nicht allzu fest an Paul Jung gehangen zu haben schien. Sie traf das verwaiste Ehepaar zuweilen auf der Straße, und dann sah sie schon an dem stumpfen, trostlosen Ausdruck ihrer Gesichter, daß noch keine Nachrichten gekommen waren, sparte die stereotyp gewordene Frage und drückte nur schweigend den armen Eltern die Hand. – Dann wurden die Frühlingstage länger und wärmer, ihre Bekannten verließen Wien, und auch sie rüstete sich zur Sommerreise. – Laurins und Jungs pflegten seit Jahren den Sommer und Herbst in Waldeck zuzubringen, wo jede der beiden Familien ein kleines Bauernhaus gekauft und wohnlich eingerichtet hatte. Man reiste an demselben Tage von Wien ab und hielt auch in Waldeck gute Nachbarschaft. Frau Laurin hielt es daher doch für geboten, einige Tage vor ihrer Abreise bei Jungs anzufragen, ob sie diesmal nicht mitgehen wollten. Der Besuch wurde ihr schwer, denn obwohl sie ein gutes Herz hatte, machte sie gewöhnlich lieber einen Umweg, um Unglück nicht zu sehen. Aber sie hätte nicht nöthig gehabt, sich zu ängstigen. Der Diener sagte, die Herrschaften könnten leider niemand empfangen, vom jungen Herrn wären noch keine Nachrichten da. – Am nächsten Morgen erhielt sie ein kurzes Billet von Frau Jung, worin diese meldete, sie würden vorläufig nicht nach Waldeck gehen, aber sie wünschten den Freunden eine glückliche Reise.

Dann war Frau Laurin abgereist und hatte die alten Freunde zuerst lebhaft in Waldeck vermißt. Indessen machte sie dort bald interessante Bekanntschaften. Endlich kam Ada von ihrer Pathe zurück, strahlend von Frische und Lebenslust, und über den lebhaften Erzählungen ihres Lieblings, um den sich auch hier gleich wieder ein huldigender Kreis bildete, wurde der arme Paul fast vergessen.

Da brachte plötzlich die Zeitung die Nachricht, daß die verloren geglaubte Expedition des Doktor Herwig nach unendlichen Mühen und Gefahren doch in Loanda angelangt sei. Die Karawane habe große Verluste erlitten, dieselben wurden besprochen, dann fuhr der Berichterstatter fort: „Doktor Herwig selbst und sein junger Gefährte, unser kühner Landsmann Paul Jung, gedenken, sobald sie von ihren Strapazen wieder hergestellt sind, nach Europa zurückzukehren, wo die Ihrigen sie schon für todt betrauert hatten.“

Laurins erließen sofort ein langes Glückwunschtelegramm an Jungs; doch sah Frau Laurin mit leiser Besorgniß, wie Adas Gesicht glühte, als sie wieder und wieder die Zeitungsnachricht las. An demselben Tage noch schrieb die vorsichtige Mutter an Adas Vetter und treuesten Verehrer, den Lieutenant, und forderte ihn dringend auf, einige Zeit in Waldeck zuzubringen. – Einige Zeit darauf kamen Laurins in der Abenddämmerung von einem Spaziergang um den See zurück. Die Eltern voran, Ada und ihr militärischer Vetter laut plaudernd und lachend hinter ihnen. Da kamen ihnen auf dem schmalen Weg einige Gestalten entgegen, die ihnen schon von weitem bekannt schienen. Als sie näher gekommen waren, rief Herr Lanrin in höchstem Erstaunen: „Das sind ja Jungs!“ – und eilte den Freunden entgegen. „Das nenne ich eine Ueberraschung! Aber weshalb habt Ihr es uns gar nicht wissen lassen, daß Ihr kommt, und seit wann seid Ihr hier?“

„Nicht lange,“ sagte Frau Jung, „Paul hatte großes Verlangen nach Ruhe und Bergluft“ – sie betonte merklich das Wort Ruhe –, „da kamen wir her.“

„Paul – ah, da ist er ja, unser Held! Willkommen, Paul, willkommen daheim, herrlicher Dulder Odysseus!“ und Laurin schüttelte dem nun herangetretenen jungen Mann beide Hände. Ada hatte sich zwischen ihre Eltern gedrängt und stand nun blaß und tiefathmend vor Paul. Da war er – ihr Held! Der weiße Anzug, den er trug, ließ Gesicht und Hände noch dunkler erscheinen, aber das Gesicht war schmaler geworden und zeigte auch im übrigen noch Spuren der überstandenen Leiden und Entbehrungen. Dennoch war Paul unzweifelhaft zu seinem Vortheil verändert, er sah gereifter und männlicher aus. Sein altes freundliches Lächeln hatte er aber noch und es erhellte seine treuherzigen braunen Augen und spielte um seinen Mund, als er jetzt Adas Hand in seinen beiden hielt. Sie fand vor Aufregung keine Worte und erst auf sein theilnehmendes „Wie ist es Ihnen ergangen, liebe Ada?“ sagte sie tiefathmend:

„O, mir – was liegt daran, aber Sie haben solche Gefahren bestanden, lieber Paul; wir haben schreckliche Angst um Sie gehabt!“

Frau Jung lächelte etwas geringschätzig.

„Es sieht von weitem gewöhnlich schlimmer aus, als es ist,“ meinte Paul gutmüthig, „ich erzähle Ihnen wohl gelegentlich davon.“

Frau Jung machte eine leichte Gebärde der Ungeduld. „Paul, ich fürchte, wir halten die Herrschaften auf. – Adieu, adieu!“

„Auf Wiedersehen!“ sagte Ada mit leuchtenden Augen zu Paul, der ihre kleine Hand noch festhielt, und man trennte sich.

Ach, arme Frau Laurin! Als sie spät abends an Adas Zimmer vorbeiging, sah sie zu ihrem Erstaunen noch Licht und öffnete die Thür. Ada saß am geöffneten Fenster mit zurückgelehntem Kopf und sah mit weitgeöffneten strahlenden Augen zu einem Lichtschimmer am jenseitigen Seeufer hinüber. Frau Laurin folgte der Richtung ihrer Augen und sah, daß dieser Lichtschein von dem Jungschen Hause ausging. Als sie kopfschüttelnd ihre Hand auf Adas Schulter legte, fuhr diese zusammen, dann sprang sie stürmisch auf und fiel ihrer Mutter um den Hals.

„Was hast Du Ada?“

„Mutter, Du fragst?“

„Aber Ada, Du hattest ihn ja längst vergessen!“

„Vergessen, Mutter? Etwa weil ich nicht nach ihm fragte, nicht von ihm sprach? O Mutter, ich habe Tag und Nacht an ihn gedacht!“ Und das leidenschaftliche Kind glaubte wirklich in diesem Augenblick alles, was es sagte. „Sei gut, Mutter, freue [338] Dich mit mir! Er ist wieder hier, da! da!“ und sie wies nach dem Licht drüben. „Jetzt wollen wir ihn hier festhalten, Mutter!“

„Und Günther?“ sagte Frau Laurin vorwurfsvoll.

Ada hielt ihr den Mund zu: „Nicht doch, nicht doch! Wie kannst Du Günther mit Paul vergleichen! Günther ist ein guter Junge, und Paul ist ein Held. Gute Nacht, liebe süße Mutter! Morgen wird er kommen, nicht wahr?“

Aber Paul kam nicht. Zwei, drei Tage vergingen, und Paul ließ sich nicht sehen. Adas Ungeduld erreichte den Höhepunkt. Ganz Waldeck sprach nur von Paul Jung. Die zahlreichen jungen Mädchen besonders, welche sich zur Zeit in Waldeck aufhielten, hatten plötzlich alle möglichen zwingenden Gründe, um an dem kleinen Haus am See vorbeigehen zu müssen. Aber es half ihnen nicht viel. Zwar konnten sie öfter den Helden vor dem Hause an einem großen, mit Karten und Büchern bedeckten Tisch sitzen sehen, aber er war so vertieft in seine Arbeit, daß er fast niemals aufsah. Seine Eltern saßen gewöhnlich dabei, und der Vater grüßte mit verbindlichem Lächeln, während Frau Jungs Züge oft einen ironischen Ausdruck zeigten, bei welchem den harmlosen Spaziergängerinnen nicht ganz wohl zu Muthe war. So ruhig bei einander sitzend, arbeitend und plaudernd verbrachten die Eltern und der Sohn jeden Tag. Abends konnte man sie dann alle drei auf einem von Waldecks reizenden Spaziergängen am See oder im Wald treffen. Dies war denn auch die Zeit, welche alle möglichen Bekannten und Nichtbekannten benutzten, um ihnen zufällig zu begegnen und ein Gespräch anzuknüpfen, aber – man wußte nicht recht, wie es kam – diese Bestrebungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Nicht besser erging es selbst alten Freunden. In den ersten Tagen nach Pauls Ankunft schon häuften sich die Einladungen auf einer Ecke des Arbeitstisches zu einem kleinen Berge, aber es erfolgte auf alle dieselbe verneinende Antwort: er sei leider nicht imstande, seine Gesundheit sei noch etwas angegriffen, und alle freie Zeit müsse er seiner Arbeit widmen – im übrigen – u. s. w. Die Freunde waren wohl etwas gekränkt, aber schließlich fanden es die meisten doch begreiflich, daß Paul sich nach so langer Abwesenheit ausschließlich seinen Eltern widmen wollte. Nur Ada konnte und wollte das nicht begreiflich oder verzeihlich finden und war geneigt, nur eine gegen sie persönlich gerichtete Rancune von Frau Jung darin zu sehen.

„Sie hat etwas gegen mich, Mama!“ rief das verzogene Kind mit strömenden Thränen. „Sie ist eifersüchtig, sie gönnt ihn uns nicht! Wie eng haben wir früher mit Jungs verkehrt, und jetzt weichen sie uns förmlich aus. Paul sagte damals, er würde bald kommen, aber sie erlaubt es ihm nicht!“

Die zärtliche Mutter, welche erst so sehr gefürchtet hatte, Ada könnte ein tieferes Interesse für Paul fassen, war jetzt schon so weit gebracht, daß sie ebenfalls im Innersten gekränkt und empört über „Frau Jungs Manöver“ war. „Was will sie denn für ihren Paul,“ meinte Adas beleidigte Mutter, „wenn ihr mein Kind nicht gut genug ist? Sie könnte Gott danken, wenn er das liebe Mädchen heirathet und seine verrückten Expeditionen aufgiebt!“

Aber der Zorn von Mutter und Tochter erreichte den Höhepunkt, als sie eines Abends, von ihrem gewohnten Spaziergang zurückkommend, die Karten von Paul und dem Jungschen Ehepaar vorfanden. Ada wurde glühendroth und stampfte mit dem kleinen Fuß. „Siehst Du jetzt, daß es Absicht ist, Mama? Sie weiß ja, wann wir ausgehen; das hat sie benutzt, Pauls Schuld ist es sicher nicht – diese häßliche Frau! Du darfst es nicht dulden, Mama!“ Und dann folgte ein so heftiger Thränenstrom, daß Frau Laurin sich schwor, sie würde es allerdings nicht dulden, sondern morgen schon ein ernstes Wort mit dieser verblendeten Mutter sprechen.

[351]
Am andern Tage ging Frau Laurin in großer innerlicher Aufregung zu Jungs hinüber. Es war die Badestunde der Herren Jung; sie wußte, daß sie die Feindin ihres armen Kindes allein treffen würde. „Guten Tag, liebe Frau Laurin,“ sagte diese, sich erhebend, als Frau Laurin mit sehr geröthetem Gesicht in das kleine Zimmer trat.

„Guten Tag, aber störe ich Sie auch wirklich nicht? Gewiß nicht, liebe Freundin?“ entgegnete Frau Laurin mit Betonung. „Sie müssen mir das ganz aufrichtig sagen, ich störe so ungern.“

Frau Jung sah sie mit ruhigem Erstaunen an: „Wie sollten Sie mich stören? Meine Herren sind fort, ich bin ganz allein.“

„Ach so, dann freilich ist es etwas anderes,“ entgegnete Frau Laurin mit etwas gezwungenem Lächeln. „Wenn der Herr Sohn nicht zu Hause ist, sind Sie für alte Freunde wieder einmal zu haben!“

„Wie meinen Sie das?“ sagte Frau Jung in etwas kühlem Ton.

„Nun, alle Welt weiß doch, liebe Freundin wie eifersüchtig Sie den afrikanischen Helden bewachen. Ich begreife das ja ganz gut, aber die alten Freunde haben doch auch gewisse Rechte, und Paul ist ein junger Mensch – Jugend will auch einmal wieder mit Jugend verkehren – Sie nehmen mir das nicht übel, liebe Freundin –“

„Ganz und gar nicht,“ sagte Frau Jung kühlhöflich, „aber Sie irren sehr, wenn Sie meinen, wir hielten Paul zurück. Sie wissen ja, er war nie ein Gesellschaftsmensch.“

„O, wer spricht denn von zurückhalten? Aber ich glaube, meine beste Frau Jung, Sie würden jetzt nicht nur in Pauls, sondern sogar in Ihrem eigenen Interesse handeln, wenn Sie ihn nöthigten, ihn recht energisch veranlaßten, unter Menschen zu gehen.“

„Das verstehe ich nicht ganz.“

Frau Laurin wurde etwas verlegen. Die unerschütterliche Ruhe der anderen verwirrte sie. Aber der Gedanke an Adas verweinte Augen gab ihr neuen Muth.

„Das wundert mich, liebste Frau! Sie können doch nach Ihren trüben Erfahrungen unmöglich wünschen, daß Ihr einziger Sohn in dieses schreckliche Afrika zurückgehe? Nun meine ich, Sie sollten zu verhindern suchen, daß er jetzt beständig an seiner Reisebeschreibung arbeitet; Sie sollten vielmehr diese Zeit benutzen, um ihn zu zerstreuen, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Reden Sie ihm zu, unter Menschen zu gehen; er ist ein so liebenswürdiger junger Mann, daß wir uns alle herzlich freuen werden, ihn öfter in unseren Kreisen zu sehen, und auch für ihn würde gewiß nach seinem langen Aufenthalt unter wilden unkultivirten Menschen ein heiterer und anregender geselliger Verkehr neuen Reiz haben. Sie, liebe Freundin, würden dann zwar mitunter seine Gesellschaft entbehren müssen, aber dafür würde Ihnen vielleicht das größere Glück zu theil werden, daß er sich hier wieder einlebte und sich entschlösse, dauernd hier zu bleiben.“

„Das glaube ich nicht,“ entgegnete Frau Jung. „Daß wir nichts Besseres wünschen könnten, als Paul immer bei uns zu haben, ist selbstverständlich, aber ich habe längst eingesehen, daß das Leben in unserem stillen Hause, bei uns alten Lenten, ihn auf die Dauer nicht befriedigen könnte, selbst wenn er mehr in Gesellschaft ginge.“

„Aber, liebe Frau Jung,“ sagte die Freundin, „wer sagt denn, daß er immer in Ihrem Hause bleiben müßte? Er ist doch ein junger Mann, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich eines Tages sein eigenes Haus gründet.“

„Paul sollte heirathen? O nein, nein!“ rief Frau Jung hastig. Dann saß sie längere Zeit schweigend mit sinnendem Blick und gefalteten Händen, während Frau Laurin sie erstaunt betrachtete. Endlich blickte sie auf, und ihre Züge trugen einen weichen Ausdruck, den ihre alte Freundin noch nie gesehen hatte. Sie begann mit ungewohnt leiser Stimme, die sich aber im Lauf ihrer Rede steigerte: „Meine liebe Frau Laurin! Ich bin überzeugt davon, daß Sie es gut meinen, mit Paul und mit uns, und ich danke Ihnen dafür; nur mit einem Menschen haben Sie es nicht gut gemeint.“

„Und das wäre?“

„Diejenige, welche Pauls Frau werden sollte!“ sagte seine Mutter sehr fest. „Sie sprachen von den traurigen Erfahrungen, die wir gemacht haben, und ich sage Ihnen, niemand kann ahnen, wie grausam diese Erfahrungen waren. Ich bin keine weiche mittheilsame Natur, ich habe meinen Schmerz in mich verschlossen und mit ihm gekämpft – aber es war ein Kampf auf Leben und Tod. Sehen Sie mich an – ich bin, wie Sie wissen, nicht zu Klagen geneigt, und wenn ich jetzt rede, so geschieht es nur, um Sie vor einem verhängnißvollen Irrthum zu bewahren – ich bin in den Tagen eine alte Frau geworden.“

Frau Laurin bemerkte in der That mit plötzlichem Erschrecken, daß ihre Freundin ganz verändert aussah, wie jemand, der eine lange Krankheit überstanden hat, und daß ihr vor kurzem noch volles schwarzes Haar ergraut war. Sie wollte mitleidig ihre Hand fassen, doch Frau Jung machte eine abwehrende Bewegung und fuhr fort: „Vier Monate lang haben wir ihn Tag und Nacht sterben sehen – unseren Einzigen, unser ganzes Glück, unsere Gegenwart und unsere Zukunft! – Und nicht bei ihm sein, nichts, gar nichts thun zu können – ohnmächtig dazustehen mit einem Herzen voll Liebe und heißer Sehnsucht, und denken zu müssen – jetzt stirbt er vielleicht, in diesem Augenblick vielleicht, aus Mangel an Pflege, an der nothdürftigsten Nahrung – o! wir sind vom Tische aufgestanden, sein armer Vater und ich, und haben uns an unseren Thränen gesättigt. Tag und Nacht und Tag und Nacht, Woche auf Woche und Monat auf Monat! Zuerst hatten wir noch Hoffnung, aber dann die gräßlichen Tage, als wir uns sagen mußten, daß diese Hoffnung nur noch ein kläglicher Selbstbetrug sei, als jede Stunde uns in unserer schrecklichen Einsamkeit langsam, bleiern verging, als jeder Schlag der unbarmherzigen Uhr uns klang wie eine Hand voll Erde auf seinen Sarg – seinen Sarg? wer konnte uns sagen, auf welchem Feld, in welchem wilden Dickicht die Leiche unseres Lieblings lag – nackt, entstellt! Gott! Gott! möge jeder Mutter erspart sein, solche Stunden zu durchleben …“ Sie drückte beide Hände an die Stirn und schwieg einen Augenblick überwältigt.

Frau Laurin war sehr gerührt: „Liebe, arme Freundin! Aber ich bitte Sie, lassen Sie ihn doch nie wieder fort.“

Pauls Mutter hob den Kopf, ihr Gesicht war wieder ruhig wie immer, aber ihre Augen leuchteten in ungewohntem Glanze. „Ich sollte ihn zurückhalten? Ich sollte meinen einzigen Sohn verhindern, das Leben zu führen, an dem sein ganzes Herz hängt, in dem er zum erstenmale volle Befriedigung gefunden hat; und weshalb? aus feiger Schwäche, aus kläglichem Egoismus? Das sei ferne von mir! Wenn er morgen fortgeht, so werde ich mein Herz mit beiden Händen festhalten und ihn mit keinem Worte daran zu hindern suchen. Aber so lange ich ihn habe, genieße ich jeden Augenblick und sehe sein liebes Gesicht an, als sollte ich es nie wiedersehen. Und ich sollte ihm, da es ihm selbst keine Freude macht, zureden, jeden Tag zu anderen Freunden zu gehen, die sich interessante Geschichten von ihm erzählen lassen wollen und mit angenehmem Grauen hören, wie oft er dem Tode nahe war, ich sollte ihm zureden, ein junges warmes Herz an sich zu fesseln, um es bei einer zweiten Reise all den tausend Qualen und Schmerzen preiszugeben, die seine Eltern gern um ihn dulden? Liebe Freundin, ich möchte jedes Mädchen, das ich liebe, davor bewahren! Es müßte ein sehr starkes, sehr festes Herz sein, das das ertragen könnte, und eine Liebe, die auf einen Fels gegründet ist.“ Sie schwieg, und auch Frau Laurin konnte lange nichts erwidern. Endlich stand sie auf, drückte ihrer alten Freundin warm die Hand und sagte leise: „Ich danke Ihnen, ich habe Ihnen großes Unrecht gethan.“ Dann winkte sie ihr, nicht aufzustehen, und verließ das Zimmer. – – –

* * *

Seitdem waren einige Jahre vergangen, es war Winter, in der schönen Laurinschen Stadtwohnung war eine große fröhliche Gesellschaft versammelt, um Adas Geburtstag zu feiern. Unter ihren zahlreichen Verehrern that sich besonders der stets getreue Vetter hervor, den schon die Stimme der Gesellschaft Adas [352] Verlobten nannte. Wenn er es noch nicht war, so konnte doch der flüchtigste Beobachter merken, daß er es bald werden würde.

Ada, strahlend heiter und reizend, trat eben zu einer Gruppe, welche in lebhafter Diskussion begriffen war.

„Ich versichere Sie, daß er unmöglich noch am Leben sein kann, unmöglich!“ rief ein dicker älterer Herr eifrig. „Mein Vetter, der selbst drüben war und die Verhältnisse genau kennt, sagt mir, daß man schon seit Wochen alle Hoffnung aufgegeben hat.“

„Die armen Jungs,“ sagte eine Dame mitleidig, „er ist ja wohl ihr einziger Sohn? Wie glaubt man denn, daß er umgekommmen ist?“

Der Gefragte zuckte die Achseln. „Vermuthlich im Kampfe um Lebensmittel – die schwarzen Herren verstehen keinen Spaß.“

Ada schauerte es leicht; sie wechselte einen Blick mit ihrer Mutter. Diese trat zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: „Sagte ich Dir nicht, Du würdest Frau Jung noch einmal dankbar sein?“

Ada nickte. „Der arme Paul! Ja, Mama, von Herzen dankbar,“ und ihre Blicke flogen zu Günther hinüber, und sie ging ihm entgegen und hing sich mit beiden Händen an seinen Arm, als müßte sie sich seiner lebendigen Gegenwart versichern.

Die alten Jungs saßen im dämmernden Zimmer am Kamin; seit Stunden war kein Wort mehr gesprochen worden. Plötzlich sagte Frau Jung halblaut: „Ernst!“

„Was ist es?“

„Ernst – weißt Du wohl, heute ist unser Hochzeitstag.“

Ein lautes Stöhnen klang aus der Ecke, in welcher der alte Mann saß, Frau Jung stand rasch von ihrem Platz auf, ging zu ihm hinüber und legte die Arme um ihn, sein Kopf fiel an ihre Schulter, und ihre Thränen vereinten sich.

Endlich sagte sie leise: „Wir brauchen doch noch nicht alle Hoffnung aufzugeben, denke nur, wie lange wir damals ohne Nachricht waren!“

Er schüttelte nur den Kopf: „Nicht so lange wie diesmal.“

Aber sie fuhr fort: „Es kann doch ein Brief von ihm in dem verunglückten Schiff gewesen sein! Nicht wahr, das mußt Du doch auch einsehen?“

„Ja, das ist möglich,“ sagte er, dann seufzte er tief, „es ist ja die letzte Hoffnung, glaubst Du, ich könnte die fahren lassen?“

Plötzlich fuhr die Frau empor. „Was war das?“

Er lächelte trübe: „Heute kann kein Brief mehr kommen, arme Anna!“

Aber sie stand hochaufgerichtet, beide Hände auf dem wildschlagenden Herzen. „Dieser Schritt, Ernst, höre nur, Gott im Himmel –“

Da ging die Thür auf, und Frau Jung fiel bewußtlos in die Arme ihres Sohnes!

– – – – – – – – – – – –

Der erste Sturm der Erregung war vorüber gegangen, die Gemüther von Eltern und Sohn hatten sich etwas beruhigt, und nun saßen die drei Hand in Hand vor dem sinkenden Kaminfeuer; Paul erzählte und die Eltern lauschten athemlos. Bei dem Bericht von den überstandenen schrecklichen Gefahren faßte der Vater die abgemagerte braune Hand des Sohnes so fest in seine beiden, als wollte er sie nie wieder loslassen; der Mutter Lippen aber zuckten, und endlich bat sie:

„Heute nichts mehr, lieber Paul! Wir haben Dich – Gott sei ewig Dank – wir haben Dich wieder, und ich vermag es nicht anzuhören, wie nahe wir daran waren, Dich zu verlieren.“

Paul lächelte gutmüthig: „Unkraut verdirbt nicht, Mutter! Aber Du hast recht, es wird Zeit, die Sitzung aufzuheben; – sieh nur, da scheint wahrhaftig schon die Morgensonne ins Fenster! Gute Nacht denn, Vater, gute Nacht, liebe Mutter!“

Die Eltern geleiteten ihn in sein Zimmer.

„Es stand immer bereit für Dich,“ sagte der Vater, „selbst in der schlimmsten Zeit, da wir fast nicht mehr hofften, daß Du es je wieder bewohnen würdest.“

Paul trat lächelnd über die Schwelle: „Und ich habe mir oft gewünscht, das alte Zimmer wiederzusehen, wenn meine Aussichten dazu recht schwach schienen! Also so sieht ein Bett aus? Das hatte ich wahrhaftig beinahe vergessen; nun, ich werde ungewiegt schlafen.“

Die Eltern gingen, und der Vater schlief bald fest. Aber die Mutter fand keine Ruhe; sie schritt durch alle Räume des Hauses und öffnete endlich leise Pauls Thür. Er lag angekleidet auf dem Bett, und in dem voll hereinströmenden Morgenlicht erschienen die energischen Züge des ruhig Schlafenden mild verklärt. Die Mutter fuhr mit leichter Hand über Stirn und Haare des Sohnes, dann stand sie regungslos neben ihm in seinen Anblick versunken, bis die hervorstürzenden Thränen sie blendeten. Da ging sie leise hinaus und sagte vor sich hin: „Ob eine Frau, die ihn wahrhaft liebt, wirklich zu beklagen wäre? Das Glück dieser letzten Stunden ist doch viele Thränen werth!“