In Rotten Row
In Rotten Row.
Die faule Gasse“ ist eine paradoxe Bezeichnung für den allgemein anerkannten Sammelplatz der vornehmen Welt Englands. Und doch heißt „Rotten Row“ nichts anderes, wie viel man auch versucht hat, daran zu drehen und zu deuten. Es als eine verderbte Form von „Route du roi“ hinzustellen – genannt, weil der König von St. James’ Palast kommend auf dieser Route nach seinen Jagdgefilden gezogen sei – ist zwar genial genug, „die Königs-Route“ klingt auch so viel hübscher; das ist aber leider eine von jenen Erklärungen, bei denen mehr untergelegt als ausgelegt wird, um so mehr, als Rotten Row in früheren Zeiten thatsächlich eine recht „faule“ Gegend gewesen sein muß. Allein was liegt an einem Namen? Gäbe es überhaupt eine „Route du roi“ in England, so müßte jedenfalls diese Strecke gemeint sein: die langen Alleen an der südlichen Seite des Hyde Park, vorn Hyde Park Corner bis Queen’s Gate. Denn etwas Großartigeres, als Rotten Row in seiner Art während der Saison bietet, ist in und außerhalb Englands kaum denkbar.
Genau genommen gilt der Name „Rotten Row“ nur von der breiten Reitallee, auf der zu gewissen Stunden des Tages viele Hunderte von Reitern und Reiterinnen sich einfinden. Für gewöhnlich aber schließt man in die Bezeichnung auch die parallel mit derselben laufende „Ladies’ Mile“ ein, die etwa einen Kilometer lang ist und in ihrer ganzen Ausdehnung oft vier dichtgedrängte Reihen von Equipagen neben einander aufzuweisen hat. Zu Rotten Row im weiteren Sinne gehören auch die breiten Fußwege, in denen Spaziergänger für einen Penny auf einem der die Allee entlang aufgestellten Brettstühle die müden Gliedmaßen ausruhen können.
Wohl mögen die Champs Elysées noch mehr Abwechselung bieten und insofern interessanter sein; der Prater in Wien, der Thiergarten in Berlin, sie haben alle ihre besonderen Reize, allein in Bezug auf Glanz und Reichthum, auf solide Pracht steht Rotten Row unerreicht da. Schon der Umstand, daß gar keine Droschken zugelassen werden, sondern nur Privatwagen, giebt dem Treiben dort etwas Gewählteres, Feineres. Droschken sind zwar im Korso des Berliner Thiergartens auch ausgeschlossen, gleichwohl aber herrscht dort lange nicht eine auch nur annähernde Pracht wie in Rotten Row. Welch edle Rosse traben hier vor den eleganten Equipagen! Viele Familien halten für die Parkfahrt und dergleichen besondere Gelegenheiten auch ihre besonderen Pferde. Das mag für ausnehmend hochgestellte Persönlichkeiten natürlich und einfach sein; allein ich kenne zahlreiche Familien, die sich nicht gut ein Doppelgespann von Pferden leisten können oder wollen. Um das eine Gespann daher in parkfähigem Zustande zu erhalten, brauchen sie dasselbe nur für den Park und besondere Gelegenheiten und nehmen sich sonst einen Miethswagen.
Und nun die englischen Damen! Schon 1698 heißt es in Poor Robin’s Almanack:
„Now in Hyde Park, if fair it be,
A show of ladies you may see.“
Das heißt in ein gleich prosaisches Deutsch übersetzt:
„Hyde Park bei guter Witterung
Ist eine Damenausstellung!“
Die Zahl der Damen ist heute noch viel größer, und was ihre Schönheit betrifft, so können sie sich den Schönen aller anderen Nationen getrost zur Seite stellen. Wie frisch und zart ist schon der Teint!
„Wenn sie eben frisch aufgelegt haben,“ könnte wohl ein sarkastischer Beobachter einwerfen.
Es ist wahr, englische Damen „legen sich nur zu häufig was auf“, aber die Hautfarbe der meisten ist so ausgezeichnet, daß sie dazu gar nicht in Versuchung kommen sollten. Immerhin lassen sie noch Stoff genug für die Diener übrig, die in den ganz vornehmen Häusern sich das Haar damit pudern. Auf solch einen gepuderten Dienerkopf war vordem weislich eine jährliche Steuer von 5 Pfd. Sterl. gesetzt. Aber das that der Sitte oder Unsitte wenig Abbruch; im Gegentheil, manche Herrschaften wurden sich dadurch erst bewußt, daß dieses Dienerpudern thatsächlich einen Werth ausdrückte, und hielten nur um so fester an der althergebrachten Gewohnheit. Auffallenderweise ist aber diese so wohlangebrachte Steuer vor etlichen Jahren wieder abgeschafft worden. Die Kutscher tragen, wenn die Diener gepudert sind, weiße Perücken und sitzen dann häufig allein auf dem Bock, während jene einzeln oder auch zu zweien hintenauf stehen, in buntfarbenen sammetnen Kniehosen, hellseidenen Strümpfen und Schnallenschuhen. Unbeweglich stehen sie da, als wären sie zu nichts anderem gut, als durch die strotzende Fülle unter den schwellenden Strümpfen sich hervorzuthun.
Bei Anblick dieser prunkhaften Schau fährt mir allemal ein seltsamer Kitzel in das Spazierstöckchen, als wollte es sagen: „Laß mich doch einmal draufklopfen, zu sehen, ob das wohl alles echt ist!“
Wie Diener, Pferde und Wagen, so sind auch die eigentlichen Besucher von Rotten Row in vollem Putz. Die Toilette der Damen deutet schon zur Genüge an, daß wir uns in einem reichen Lande befinden, aber auch in einem Lande, wo der Geschmack in Bezug auf Kleidung in steter Besserung begriffen ist. Unter englischen Herren stellt man sich auf dem Festlande kaum etwas anderes vor als in karriertes Grau gehüllte Individuen, deren Tracht aber manchen jungen Herrchen dort verlockend genug erscheint, um sie, mit möglichster Vergrößerung der Karrees, sich zum Vorbild zu nehmen. Diese Nachahmer scheinen aber ganz und gar der Thatsache unkundig zu sein, daß der Engländer jene Stoffe, die für die Reise auch recht geeignet sind, eigentlich nur als Tourist trägt. Es würde aber keinem Gentleman einfallen, darin einen Besuch zu machen oder sich im Park darin zu zeigen. Hier erscheint er nicht ohne langen dunklen Gehrock und den unvermeidlichen Cylinder.
Im Parke bekommt man auch ein paar richtige englische Krieger in voller Uniform zu sehen, ein seltener Anblick in dem unkriegerischen England. Unmittelbar an Rotten Row steht, als wäre sie ein Schaustück für die Besucher des Parkes, die Kaserne der Life Guards, und vor derselben sind, wie sich’s gebührt, zwei Kürassiere in voller Waffenrüstung aufgepflanzt, große stramme Kerle, das läßt sich nicht leugnen, auf denen die Blicke des vorübergehenden Briten mit Wohlgefallen ruhen. Diese zwei grimmen Krieger müssen es sein, die ihn von der Unüberwindlichkeit [339] der britischen Waffen immer aufs neue überzeugen. Allein so gern und unumwunden ich die stattliche, martialische Erscheinung der Leibgarde anerkenne, kann ich mich beim Anblick dieser beiden Posten doch des Gedankens nicht erwehren, ob, dafern sie durch ihr Strammen und Strecken und Steifen und Spreizen sich plötzlich ein Leids anthäten, wohl gleich zwei andere Waffenbrüder bei der Hand wären, ihre Stelle auszufüllen? Denn nur gering ist die Zahlenstärke dieses den patriotischen Busen des Briten schwellenden Trupps.
Wesentlich verschieden von dem Bild, das Rotten Row an den Wochentagen bietet, ist dasjenige des Sonntags. Nicht nur Sonntagsreiter, sondern auch Sonntagsfahrer stehen auf dem Londoner Boden in üblem Ruf, theils aus religiösen Anschauungen, vornehmlich aber aus dem rein menschlichen Grundsatze, daß am Sonntag auch den Pferden und besonders auch dem Kutscher Ruhe zukommt. Sind das eigentliche Rotten Row und die Ladies’ Mile an diesem Tage daher verödet, so sind die angrenzenden Promenaden um so mehr überfüllt, und die langen Reihen von Holzstühlen, die hinter einander auf dem Rasen aufgestellt sind, erinnern an ein großes Theaterparkett, vor dem das promenirende Publikum vorbei defilirt, sich selbst und die eleganteste Toilette bewundern zu lassen. Kommen doch die Schönheiten der letzteren auf diese Weise noch besser zur Geltung, als wenn die Inhaberinnen derselben im Wagen eingezwängt säßen.
Eine verhältnißmäßig große Anzahl der sonntäglichen Rotten Rowbesucher sind Ausländer, die, der englischen Sonntagsstille müde, im Park heimathlicher Gewohnheiten pflegen. Selbst das Lustwandeln an einem so viel besuchten Orte würde in den Augen mancher Engländer als ein sabbathwidriges Unterfangen erscheinen. Die Prediger der Heilsarmee und anderer religiöser Genossenschaften fehlen daher auch nicht. Sie stehen etwas abseits auf den weiten Rasenflächen – bis unmittelbar an die Promenade dürfen sie nicht kommen! – und strengen ihre Lungen gewaltig an. Es bildet sich auch stets bald um den Priester ein kleiner Kreis von Zuhörern, theils Gläubigen, theils Spöttern, die zur Abwechslung dann und wann unter freiem Himmel eine Hymne anstimmen. Daneben spielt seit einigen Jahren auch eine Militärkapelle, eine Neuerung, die nicht nur den Parkpredigern, sondern auch vielen anderen Engländern als ein Werk des Satans erscheint, während sie doch, von einzelnen wohlhabenden Privatleuten ins Leben gerufen, den niederen Klassen Londons die so seltene Gelegenheit giebt, ganz erträgliche Musik umsonst zu hören.
Wer die niederen Elemente der Bevölkerung vermeiden wollte, promenirte früher am Sonntag nachmittag im Zoologischen Garten, zu dem an diesem Tage nur Aktionäre desselben Zutritt haben. Eine Aktie kann man sich schon für zwei Guineen erwerben, und viele bezahlten dieselben gern, nicht aus Interesse an der Thierwelt, sondern wegen des Zutritts zu der Promenade.
Seit einigen Jahren aber ist der „Zoo“ ganz und gar vernachlässigt, und Rotten Row, wohin jedermann unbehindert Zutritt hat, ist an Sonntagen wie an Wochentagen fast ausschließlich der Versammlungsort der vornehmen Welt geworden.