Schweizer Alpen-Bilder/Schweizer Alpen-Bilder (1861)
Schweizer Alpen-Bilder.[1]
Juhe, der Geißbub bi–n–i ja!
Mys Hörnli u my Geißli da
Thue mir no nit verleide.
Im Täschli han–i Chäs u Brod,
Mys Haar ist chruus u d’Bake roth
U d’s Herz voll Lust u Freude.
Jungi, Alti,
Melchi, Galti,
Großi, Chleini,
Hübschi, G’meini
Führe–n–ig uf Berg und Weid.
Mit diesem Liede hat der beliebteste der schweizerischen Volksdichter die Persönlichkeit zu charakterisiren gesucht, deren eigenthümliches Treiben und Wirken im schweizerischen Hochlande schon der Titel unseres Bildes deutlich genug bezeichnet. Wir reden hier nicht von dem Geißbuben des schweizerischen Tieflandes, der Höhenzüge zwischen Jura und Alpen, der seinem Vetter im Gebirge nur noch in einzelnen allgemeinen Zügen ähnelt. Zwar auch hier ist er, wie überall, ein Stiefsohn des Geschicks, ein Proletarier unter den Proletariern, das ärmste Waisenkind des Dorfes, das [742] eine über alle Maßen defecte Kleidung über seiner Haut hängen hat. In der Ebene wohnen die reichen Bauern, die nur stattliche Kühe, aber keine Ziegen halten. Diese letztern sind blos Eigenthum armer Häusler und Handwerker, bilden also unter den Milchlieferanten eine verachtete Kaste, sind die Parias unter den Gehörnten, und dieses Verhältniß wirkt in sehr betrübender Weise auf den gesellschaftlichen Rang des Geißbuben selbst zurück.
Schon ganz anders gestaltet sich aber die Sache droben, in den schmalen Thälern des Hochgebirgs, wo der stolzen Bauernaristokraten nur wenige mehr zu finden sind, der schmale, von Geröll und Felsstücken vielfach verkümmerte Boden größern Viehheerden keinen Spielraum mehr darbietet, und die zierliche, jedem einsam wachsenden Grasbüschel nachkriechende Ziege ein für Jedermann hochwichtiges Hausthier ist. Hier oben, wo himmelhohe Felswände, in die Wolken emporstrebende Gletscherpyramiden das Thal umsäumen, wo die Gießbäche wie übermüthige Jungen sich von den Felsterrassen stürzen, und in tollem Laufe das trümmerreiche Bett durchrauschen, da ist das idyllische Element des Geißbuben. Da ist er schon ein ganz anderer Bursche, eine durch und durch poetische Figur, wie er da so auf einem mit Gebüsch und Moos bekleideten mächtigen Granitfündlinge oder Glimmerblock sitzt, den die vulcanischen Kräfte beim geräuschvollen Werdetag des Gebirgs zu Thal geschleudert, oder langsame wirkende neptunische Einflüsse von der überhängenden Felswand gelöst haben. Da lungert der rothbackige zehn- bis fünfzehnjährige Schlingel im sonnigsten Nichtsthun auf seinem felsigen Throne, schaut in den blauen Himmel hinein, oder hinunter die gebüsch- und trümmerreiche Halde, an deren Fuß der Gebirgsfluß sein tolles Wesen treibt, und silbern schäumend seinen Gischt in die Höhe schleudert. Zwischen den Steintrümmern umher weiden die muntern, klugblickenden Ziegen, und das Gebimmel ihrer Glöcklein mischt sich in wundersamer Harmonie mit dem Rauschen des Waldstroms oder dem donnernden Grollen des nahen Wasserfallen. Wie gesagt, er ist schon ein ganz prächtiger Bursche, der Geißbube hier unten, beneidenswerthe Selbstzufriedenheit und Klugheit strahlen in wohlthuender Weise aus dem hellen Auge, das ohne Scheu, blos mit freundlicher Neugierde den vorbeistreifenden Wanderer betrachtet, und auf Gruß und Frage giebt er unbefangenen, oft mit kaustischem Naturwitz gewürzten Bescheid. Und warum sollte er auch nicht so sein? Das „im Täschli ha–n–i Käs und Brod“ des Dichters hat hier seine volle Richtigkeit; Gefahren bietet, ohne etwa die freiwillig gesuchten, der Beruf hier keine, und die Luft ist von einer Frische und von einem Reichthum an Sauerstoff, daß an Appetitmangel kaum zu denken ist.
Trotz all der bestehenden Vorzüge aber, die der Geißbube des Hochthales unbestritten auf sich vereinigt, ist er doch immer noch keineswegs der echte Geißbub, mit dem wir es eigentlich hier zu thun haben, kaum ein schwacher Abklatsch des richtigen Individuums.
Hoch oben an den Rändern des letzten zwerghaften Baumwuchses, in der unmittelbaren Nachbarschaft der höchsten mit ewigem Eis gepanzerten Hochgebirgszacken, stundenweit von jeder Menschenwohnung entfernt, oft 6–8000 Fuß über der Meereshöhe, wo nur noch der Alpenrosenstrauch und die Legföhre dem Frost eines neun Monate langen Winters und den sausenden Stürmen, die da oben ihr Spiel treiben, Widerstand zu leisten vermögen, in dieser todtenhaft stillen Wildniß, die bei all ihren Schrecken doch durch ihre düstere Erhabenheit so wundersam packend einwirkt auf den Wanderer, dessen scheuer Fuß sie zum ersten Male betritt, wo Weg und Steg verschwinden, wo keine Kuh mehr hinaufgetrieben werden kann und selbst das im Klettern noch Erhebliches leistende Schaf sich nicht mehr hingetraut, weil der Abhang zu jäh und zu schroff, der Zugang zu schwierig und gefährlich ist, da, in der majestätischen Grabesstille der einsamen Gebirgsregion, tönt Dir plötzlich sanftschwellendes, märchenhaft in einander verklingendes Läuten und Klingeln entgegen: Du schaust verwundert um Dich, und hoch über Dir, auf einer mit schwachem, dürftigem Grün überflogenen Felsterrasse siehst Du eine Gruppe leichtfüßiger, gazellenartiger Thiere weiden oder vielleicht, durch das Rollen eines Steines, den Dein Fuß aus seiner Lage gebracht, aufmerksam gemacht, neugierig auf Dich herniederschauen. Dir entfährt ein Laut der Ueberraschung – die zierlichen, schlanken Formen der Thiere, selbst ihre häufig lichtbraune Farbe und der halsbrechende Standpunkt, auf dem sie sich bewegen, haben für einen Moment den Glauben in Dir hervorgerufen, Du befindest Dich endlich einem jener von Touristen mit nutzloser Sehnsucht erspähten und ersehnten Gemsrudel gegenüber, die selbst in den höchsten Regionen des Gebirgs beinahe zur Mythe geworden sind. Du lächelst bald über Dich selbst und Deinen leicht verzeihlichen Irrthum; denn schärfer hinsehend bemerkst Du leicht, daß das Klingeln und Läuten, die silberhellen Glockentöne, die Dich vorhin so seltsam ergriffen, von kleinen Schellen herrühren, welche die vermeintlichen Gemsen am Halse tragen, und jetzt hast Du auch den frevelhaft kecken Burschen entdeckt, der oben auf der Felskante sitzt und die Beine sorglos, über den Rand herunterhängt, unbekümmert darum, daß eine Bewegung, ein Losbröckeln des mürben Gesteins ihn in die Tiefe rollen lassen könnte, aus der man seine Gebeine nur in zerschmettertem Zustande wieder heraufholen würde. Er hat Dein Nahen bemerkt, und schaut Dich mit einem eigenthümlich überraschten, wildscheuen Blicke an; denn er begreift wahrscheinlich nicht recht, was Du „vornehmer Herr“ da oben in seinem Königreiche willst, und rührt sich mit dem trotzigen Gleichmuthe eines Indianerhäuptlings nicht von der Stelle, wenn Du nicht mit besonders freundlichen Worten Dir seine Gewogenheit zu erwerben weißt. Das ist der Geißbub von echtem Schrot und Korn, ein Bursche so recht eigentlich aus demselben Stoff gemacht, wie die gewaltigen Gebirgsmassen, die sich rings um ihn in ihrer ganzen wilddüstern Erhabenheit aufthürmen, oder als scheinbar frei in den Lüften hängende Felsterrassen in jähen, schwindelnden Abstürzen zu seinen Füßen ausdehnen. Er ist hier der wahre König des Gebirgs, dem kein Sterblicher sein weites Reich streitig macht. Gegen ihn ist der Geißbub drunten im Thale ein bloßer Dorfjunker, derjenige in der Ebene des Flachlandes ein purer Lump. Des Morgens früh mit dem ersten Sonnenstrahle hat er mit seinem Horne die flinken Unterthanen drunten im Bergdörfchen zusammengeblasen, und ist jauchzend und singend, auf schwindelnden, für gewöhnliche Menschenkinder kaum gangbaren Wegen, über schaurigen Abgründen, auf schmalen Felsterrassen dahin gezogen, hinauf in’s Reich der Lüfte, wo der Lämmergeier und der Goldadler sonst einsam horsten. Da oben braucht’s ein ganz anderes Naturell, als in der Ebene, um auf Pfaden, die sonst kein Menschenfuß betreten, kein Auge nur entdeckt hatte, die Ziegen zu den grünen, wie in den Lüften flatternden Rasenbändern zu führen, und dabei ein stets wachsames Auge zu haben für die Gefahren, mit denen die Schrecknisse des Gebirgs fortwährend seine Schützlinge bedrohen.
Er ist aber auch ganz der Mann zu diesem Wächteramt. Fast unglaublich klingt es, wie weit sein adlerartig geschärftes Auge sehen kann. Täglich und stündlich genöthigt, auf Punkte hinzuschauen, die anscheinend ganz nahe liegen, wie z. B. die auf der andern Seite der Thalschlucht sich gigantisch aufthürmende Felswand, die ein Ungeübter mit einem Steinwurfe glaubt erreichen zu können, die aber in Wirklichkeit stundenweit entfernt ist, hat seine Sehkraft eine solche Ausdehnung gewonnen, daß er auf Entfernungen, wo ein Bewohner der Ebene kaum ein paar schwarze Punkte erkennen würde, genau die weidende Gemsgruppe unterscheidet und er selbst jede einzelne Bewegung der Thiere beschreiben kann. Eben so gut wie mit seinen Augen ist es mit seinen Gliedmaßen bestellt. Keine Furcht, keinen Schwindel kennend, ist der Geißbube der verwegenste und unermüdlichste Kletterer; nimmt nichts sonst seine Zeit in Anspruch, so erklimmt er zu seinem bloßen Vergnügen Zacken und Zinken, bei deren bloßem Anblick den Beschauer der Schwindel erfaßt, und gleitet auf Felsenbändern, so schmal wie der Rücken eines Folianten, über schauerlichen Abgründen dahin, ohne daß die mindeste Besorgniß ihm einen Tropfen Schweißes auf die sonnenbraune Stirne triebe. Das ist aber auch bei seinem Gewerbe eine absolute Nothwendigkeit. Die gleiche verwegene Kletterlust, die dem Hüter innewohnt, beseelt auch seine gehörnten Schützlinge. Je mehr Schwierigkeiten die Passage darbietet, um so eifriger wird die Alpenziege daran gehen, um einen isolirten Punkt zu erreichen, wo einige würzige Kräuter auf schmalem Felsvorsprung in verlockendem Grün prangen; sie wird oft unbedenklich den Sprung über den 8–12 Fuß hohen Absatz hinunter wagen, um zu ihrem Ziele zu gelangen, denn die Bergziege ist eine sehr nahe Base von der Gemse. So geht’s oft weit hinunter, von Absatz zu Absatz, und ist für das genäschige Thier auf ein Stündchen ein Leben in Herrlichkeit und Freuden.
Bald aber, wenn die wenigen Gräser abgeweidet sind, oder der [743] Appetit befriedigt ist, meldet sich die Sehnsucht nach den Gespielinnen wieder: die Ziege versucht es den Rückweg anzutreten. Ja, ja! hinunter ging’s leicht, die stählernen Sehnen und Flechsen und der harte Huf haben den Sprung in die Tiefe recht gut ausgehalten; aber wie jetzt hinauf, über die schroffe Felswand, die wie ein unübersteigbarer Wall die senkrechte Flanke ihr entgegenstellt? Ein klägliches, immer ängstlicher und bänglicher klingendes Blöken fleht um Hülfe in der Noth und dringt endlich zu den scharfen Ohren des Geißers. Es ist wirklich fabelhaft, wie leicht der Schall von den dünnen Luftwellen der Höhe dahergetragen wird, und häufig kann man da oben die Senner bequem auf Entfernungen mit einander reden hören, bei welchen in der Ebene, selbst beim lautesten Rufen, kaum ein verworrenes Getöse zum Ohre des Horchers gelangen würde. Der Bube hat den Nothruf vernommen, und mag der Abhang ein noch so schroffer, die Stelle noch so unzugänglich sein, auf der das „verstiegene“ Thier sich befindet – nichts wird ihn abhalten, seinem Schützlinge zu Hülfe zu kommen. Jetzt kann er seine Naturgymnastik zur Geltung bringen. An Felszacken, Gesträuch und selbst bloßen, aus den Mauerritzen hervorwachsenden Grasbüscheln sich festhaltend, klettert er die Felswand hinunter, auf Rändern und Absätzen sich balancirend, wo kaum seine Zehen den nöthigen Raum zum Aufsetzen finden, hinunter zum verstiegenen Thier, das er auf seinen Schultern wieder den Abhang hinauf schleppt. Sind die Schwierigkeiten gar zu groß, so schlingt er, wie dies unser Bild zeigt, und wo es sich gerade thun läßt, ein Seil um eine spitzige Felszacke, läßt sich daran zu der Ziege hinunter, befestigt das ängstlich blökende Thier an den Strick und zieht es so mit unsäglicher Mühe wieder auf sichern Grund.
Die schroffe Felswand, der schwindelnd tiefe Abgrund boten aber bei dem wagehalsigen Unternehmen nicht die einzigen Gefahren.
Hoch über den Felszinken, im blauen, durchsichtigen Aether hatte das scharfe Auge des Geißbuben gar wohl den kleinen, erst kaum merkbaren, dann allmählich größer werdenden schwarzen Punkt bemerkt, der erst unbeweglich an derselben Stelle gebannt zu sein schien und dann erst mit dem Größerwerden in weiten Kreisen umher zu schweben begann. Der Geißbube war der Einzige nicht, der den Hülferuf der verstiegenen Ziege vernommen. Der mächtige Goldadler droben in seinem luftigen Revier hat ihn auch gehört, und sein feuerfarbenes Auge hat gar wohl die Ziege, auf dem schmalen Felsbande hängend, erblickt. Einen Moment später, und er wäre mit dem durchdringenden, gellen Ruf „Plüf, Ppülüff“ senkrecht wie ein fallender Meteorstein niedergeschossen auf sein hülfloses Opfer, und ein paar Schläge seiner mächtigen Schwingen hätten genügt, das arme Thierchen hinunter zu schleudern in den Abgrund, wo dann seine zerschmetterten Glieder die bequeme Beute des Königs der Lüfte geworden, oder die Ziege hätte, schon durch das brausende Flügelrauschen des gewaltigen Vogels erschreckt und betäubt, in sinnloser Angst von selbst den todbringenden Sprung in die Tiefe gethan. Jetzt, wo der Bube ihm zuvorgekommen ist und das Thier gefaßt hat, wird der Adler vielleicht zwar das Manöver wohl noch versuchen, aber das hilft ihm nichts bei dem eifern zähen Willen des hartnäckigen Gesellen, denn eher würde er sich von den gewaltigen Fängen des riesigen Raubvogels zerfleischen lassen, als seinen Schützling preisgeben. Der Adler scheint aber zu wissen, mit wem er es zu thun hat, und fliegt nach einigen nutzlosen Versuchen, ohne einen wirklichen Angriff zu wagen, mit einem ärgerlichen Aufkreischen davon.
Auf den Goldadler und den Lämmergeier muß der Geißbube überhaupt gar sehr aufpassen. Beides sind die bösen rebellischen Elemente in seinem Reiche, und ohne die rechtzeitige Dazwischenkunft seines tüchtigen Bergstockes würden diese Hyänen der Luft gar manches unerfahrene Zicklein als gute Beute davon führen. Fast noch gefährlicher und mit weit mehr List auftretend ist Meister Reineke dem jungen, zarten Ziegenvolke. Da oben, in den undurchdringlichen Kluft- und Felslabyrinthen, steckt gar manche Burg Malepart, wo Nobel Geißbub nicht hinzudringen vermag und sich also damit begnügen muß, zu steter Abwehr heimtückischer Angriffe bereit zu sein, während er hinwieder gar oft die Brut der vorhin erwähnten gefiederten Räuber für die Sünden der Vater büßen läßt, und keine Mühe und Gefahr scheut, derselben in kaum zugänglichem Horste den Garaus zu machen. Aber auch mit den Alten nimmt’s der kecke Bursche unbedenklich auf, wenn eine seiner geliebten Geißen bedroht ist. Erst im Jahre 1859 hat der vierzehnjährige Johann Guler auf einer Schafalp im Canton Graubünden einen mächtigen Goldadler, der sich auf ein Lamm niederstürzte und darob in den Zweigen der Legföhren sich so verstrickte, daß er von seinen Flügeln keinen rechten Gebrauch machen konnte, mit seinem eisernen Bergstocke todtgeschlagen.
Bei schönem Wetter ist das Leben des Geißbuben wirklich ein frohes und poesiereiches. An Unterhaltung kann es ihm kaum fehlen. Von seinem Felsenthrone aus kann er bequem sein weites Reich überschauen, und wohl mag ihn da oft mit wohlthuenden Schauern das Gefühl der Souveränetät, der absolutesten Unabhängigkeit durchrieseln, drum hat er auch seinen schlechten Filzdeckel so trotzig auf’s krause Haupt gestülpt. In seinem Reviere hausen die geschäftigen Murmelthiere und unterhalten ihn mit ihren possierlichen Spielen und ihrem vorsorglichen Einsammeln der Wintervorräthe; der Mauerläufer oder Fluhspecht mit feinem bunten Gefieder, flink an den glatten Felswänden auf und nieder laufend, giebt ihm Lectionen im Klettern, und die schöne Schneehenne mit ihren zierlichen Küchlein wandert aufmerksam, den schlanken Hals in die Höhe gestreckt und sorglos umherlauschend, zwischen dem Steingerölle umher; das Haselhuhn rauscht in den Legföhren und in den Alpenrosenbüschen; mit tausend Stimmen spricht die erhabene Natur zu ihm, und diese Stimmen sind um so vernehmlicher, weil neben ihnen keine anderen laut werden. Naht der Abend, da senden von den jenseitigen Gebirgsstöcken die Lawinen ihm ihre fast unaufhörlichen Grüße zu, bald sieht er die wirbelnde, qualmende Schneemasse wie ein riesiges Silberband den Abhang hinunter sausen, bald vernimmt sein Ohr nur das grollende Gebrüll des unsichtbaren Ungeheuers. Um ihn blühen in brennend rothem Glanze die Alpenrosen, und Abends beim Scheiden des Tagesgestirns, da erglühen all die gewaltigen Gebirgsstöcke und Firnen, die ihn den Tag über so ernsthaft düster angeschaut, in jenem märchenhaften Feuerglanze, den zu beschreiben noch keine Feder den richtigen Ausdruck gefunden hat. Dann treibt er seine Heerde, den schlechten Filzdeckel mit den röthesten Rosen geschmückt, wieder zu Thal und freut sich schon auf den kommenden Morgen, der ihn wieder hinauf in seine lieben Berge rufen wird.
Freilich ist’s nicht alle Tage so: bei regnerischem Wetter, wo die Gebirgsstöcke ihre grauen Nebelkappen aufgesetzt haben, die Tropfen eisig kalt die Wangen des armen Hirten peitschen, und nur ein alter Zwillichsack seine Schultern vor Nässe schützt, da mag es oft auch gar melancholisch um ihn bestellt sein, da droben in den unwirthbaren Schluchten, wo kaum eine trockene Höhle oder eine aus Geröll und Rasen kunstlos aufgeführte Hütte ihm vor den Unbilden der Witterung Schutz gewähren. Auch der Gewittersturm, wenn er mit seiner von den Bewohnern der Ebene nie geträumten Wuth und Raserei um die Gebirgszacken tobt und tost, der strömende Regen jede Rinne in einen gewaltigen donnernden Wildbach verwandelt, und die Rüfe oder der Schlammstrom, wie ein verderbenschwangeres Ungeheuer brüllend und Alles vor sich niederwerfend, den Berg hinuntertobt, mag ihm gar manche Nothstunde bereiten. Mit seiner Kost ist es gar ärmlich bestellt, und seine Tafel ist nichts weniger denn eine königliche. Brod, so hart wie Stein – denn drunten im Gebirgsdorfe wird kein frisches gebacken, und dasselbe muß oft viele Stunden weit hergetragen werden – und ebenso trockener Käse bilden seine einzigen Subsistenzmittel. Einen frischen und gesunden Trunk, freilich, den liefern ihm stets seine Ziegen. Er zieht zu dem Ende nur eines der Thiere herbei, legt sich unter dasselbe auf den Rücken und melkt sich in den Mund. Da hat er buchstäblich sein Bedürfniß aus der ersten Quelle.
Eben so spärlich, wie seine Kost, ist auch der Lohn, den der Geißbub für seine sommerlange Mühe bezieht; wenn’s hoch geht, erhält er einen halben Franken für je eine Ziege. Und dennoch fühlt sich der genügsame Bursche nichts weniger als unglücklich oder zurückgesetzt in seiner Lebensstellung. Er hat eben gar frühe schon mit der Entbehrung Bekanntschaft gemacht, während er gar Manches, das der Culturmensch zu dem Unentbehrlichen zählt, nicht einmal dem Namen nach kennt. So arm es sonst mit der Bildung des Geißbuben bestellt sein mag, so ist doch das einsame Leben droben auf den sonnigen Höhen ein trefflicher Lehrmeister für seine Phantasie. Ist einmal sein Zutrauen gewonnen, so weiß er ganz schauerlich hübsche Geschichten von Berggeistern, weißen Gemsen und verwunschenen Alpen zu erzählen. Es ist das bei seinem ganzen Thun und Treiben und seinem einsamen Verweilen in der erhabenen, öden, an räthselhaften Tönen und Stimmen so reichen [744] Gebirgswelt auch natürlich. In den phantastisch geformten Felszacken, Höhlen und Schluchten weckt der durchströmende Wind oft die seltsamsten Laute, wimmernden Menschenstimmen nicht unähnlich, und bei der Leichtigkeit, mit der, wie bereits erwähnt, die Luft den vom Echo verzehnfachten Schall auf große Weiten hinträgt, ist es um so leichter begreiflich, daß der einsam träumende Sohn des Gebirgs da der Töne gar manche vernimmt, deren Ursprung selbst seinem Scharfsinn verborgen bleiben muß. Was Wunder also, daß er sein ödes Reich in guter Treu und Glauben mit all den phantastischen Gestalten bevölkert, von denen er während des Winters in den abendlichen Zusammenkünften der Dorfbewohner so viel hat erzählen hören.
Ist der Geißbube einmal groß geworden, dann muß er zu einem andern Gewerbe greifen. Ade, du süßes, träumendes Bubenglück! Die Alp bleibt aber dafür doch meist seine eigentliche Heimath. Aus dem verwegenen Kletterer wird nun ein ebenso verwegener Wildheuer oder Gemsjäger, oft Beides zugleich, und eines schönen Morgens steigt er wohl, die weittragende Büchse über die Schulter gehängt, unter schmetterndem Jauchzen die alten wohlbekannten Pässe hinan, die er als fröhlicher Junge mit seinen gehörnten Unterthanen befahren. Abends wartet sein Liebchen oder seine junge Frau vergebens auf seine Rückkehr – der Berggeist, den er so herausgefordert, hat ihn zurückbehalten, die gähnende Schlucht, an deren schwindelndem Rande er als Bube mit lachendem Muthwillen gespielt, ist sein schweigendes Grab geworden, und die Lawine, deren donnernden Grüßen er so oft gelauscht, hat ihm, vielleicht durch seinen Fußtritt geweckt, die letzten krachenden Ehrensalven nachgesendet.
- ↑ Unter diesem Titel werden wir eine Reihe interessanter Charakterbilder mit Abbildungen aus dem Schweizer Alpenleben bringen. D. Red.