Schiffbruch
[772] Schiffbruch. (Zu dem Bilde S. 761.) Es ist noch gar nicht so sehr lange Zeit her, daß in den Kirchen Nordfrieslands am Sonntag um einen „gesegneten Strand“ gebetet wurde… Das war ein Rest jener schrecklichen Gepflogenheit, daß der Schiffbrüchige mit Leib und Gut und Geschirr dem Strande und seinen Bewohnern verfallen war, unter die der wütende Sturm ihn warf; eine Art internationalen Wildenrechtes, dessen Spuren Gott sei Dank, seltener und immer seltener zu finden sind. Wir haben es erst in jüngster Zeit mit Freuden vernommen, wie menschlich hilfreich die Chinesen den Gestrandeten vom „Iltis“ zur Hilfe gekommen sind, und wie bei der Strandung des „Adlers“ auf Samoa sogar die feindlich gesinnte Partei der Insulaner mit aller Kraft helfende Hand geleistet, und unvergessen soll es den Dänen sein, wie sie in fünfzehnstündiger heldenhafter Arbeit die gesamte Besatzung der Brigg „Undine“ gerettet. Das klingt doch anders als die grausige Mär von dem Elternpaare, das den eigenen an den Strand geworfenen Sohn, ohne zu wissen wen sie aufgenommen, als ohnmächtigen Mann um des mitgeführten Goldes wegen ermordeten! – Wieviel Kraft und Mut und Aufopferung wird in unserer milderen Zeit jährlich von den wackeren Männern aufgewandt, die sich in den Dienst der „Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ gestellt haben und rücksichtslos ihr Leben dran setzen, um das anderer dem Verderben zu entreißen. Ein „gesegneter Strand“ ist heute der, an dem kein Schiff zerschellt und kein Menschenleben verloren geht. – Aber die See läßt nicht mit sich Verträge schließen. Sie bleibt selbstherrlich wie je, und im ungebändigten Stolz achtet sie ein Panzerschiff und einen Salonschnelldampfer nicht höher als ein Fischerboot und schleudert sie miteinander auf den Strand oder auf die Klippen, wie ein Kind eine Eierschale ins Wasser wirft. Am schrecklichsten und im wildesten Toben offenbart sie sich, wenn sie ihre brüllenden Wogen, statt auf den plattgeschlagenen Strand und Sand, brandend und donnernd gegen felsiges Ufer schleudert, daß der Gischt siedend gen Himmel fährt und wie schneeiger Nebel davongeführt wird vom Sturm. Weh’ dem armen Boot, das von übermächtiger Sturmgewalt und Strömung an solch Ufer geworfen wird! Dem Verderben entgeht es nicht, wenn nicht eisenharte Hand und adlerscharfes Auge das überflutete Schiff durch die Klippen in den sicheren verborgenen Hafen steuern kann. Hinter dem Gestein übersprüht vom verstiebenden Gischt, knieen die Mütter und Frauen und Väter in heißer Angst um die, welche draußen um ihr Leben kämpfen und den Weg durch die neblig versprühenden Schwaden suchen! – Seemannsbrot – hartes Brot! – Und allen, die draußen im Sturm fahren, einen gesegneten Strand, an dem sie in Frieden landen mögen! P. H.