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Schein und Wesen

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Textdaten
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Autor: Friedrich von Bodenstedt
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Titel: Schein und Wesen
Untertitel:
aus: Die zehnte Muse. Dichtungen vom Brettl und fürs Brettl. S. 175–177
Herausgeber: Maximilian Bern
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1904
Verlag: Otto Eisner
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons = Google-USA*
Kurzbeschreibung:
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[175]

Schein und Wesen.
(Morgenländisch.)

Der Lehrer sprach zum Schüler: Sieh’,
Mein Sohn, den Schatten dort vom Zelt,
Er gleicht dem Dasein dieser Welt,
Ist ganz so wesenlos wie sie.

[176]
5
Beachte, wie ich meine Hand

Jetzt auf zum Licht der Sonne hebe
Und unter uns dem Wüstensand
Selbst mit den Fingern Schatten gebe:
Er scheint dir greifbar und bezirklich,

10
Allein du siehst, er ist nicht wirklich;

Denn alles Wirkliche besteht,
Derweil der Schatten schnell vergeht,
Zieh’ ich die ausgestreckte Hand
Zurück ins hüllende Gewand.

15
Und wie der Schatten wesenlos

ist Alles, Täuschung unsrer Sinne,
Vorstellung des Gehirnes blos,
Und nichts zu bleibendem Gewinne.
Selbst jener Glutenborn am Himmel

20
Und nachts die leuchtenden Gestirne,

Das ganze atmende Gewimmel
Des Weltalls lebt blos im Gehirne,
Im Schau’n des inneren Gesichts;
Wird dies vernichtet, so bleibt Nichts.

25
So sprach und ging der Lehrer weiter

Mit seinem grübelnden Begleiter,
Der, durch die Lehren ganz verwirrt,
Vom rechten Weg sich bald verirrt
Im endlos dürren Wüstenraum,

30
Wo keine Quelle und kein Baum

Im Sonnenbrande Kühlung bot.
Da fernher tauchte bräunlichrot
Ein Felsblock auf, der schmal und scharf
Gerade so viel Schatten warf,

35
Den Schüler vor der Glut zu schützen.

Dem Lehrer konnt’ er nichts mehr nützen,
Er kam zu spät, doch fleht’ er kläglich:
Mach Platz, die Glut ist unerträglich!
Ich kann nicht weiter vor Ermatten,

40
Sei menschlich, teil’ mit mir den Schatten!

Darauf der Schüler: Du verkehrst
Die eigene Lehre: –- eben erst
Sprachst du, der Schatten sei nur scheinbar,
Nur eine Vorstellung, ein Nichts,

45
Ein Bild des inneren Gesichts;

Dein Wunsch ist nicht damit vereinbar;
Dir sitzt der Schatten im Gehirne,
Mir kühlt er meine glüh’nde Stirne,
Ich find’ ihn wesentlich und wirklich,

[177]
50
Sehr fühlbar und genau bezirklich,

Für mich ist er ein wahrer Schatz.
Doch räum’ ich dir sogleich den Platz,
Wenn du gestehst, dass du geirrt
Und deine Lehre nur verwirrt.

55
Nein – rief mit zornigem Gesicht

Der Lehrer – nein, das thu’ ich nicht!
Was meine höh’re Einsicht fand,
Weicht nicht dem platten Volksverstand.

Der Schüler sprach: Ich warne dich,

60
Leicht wirst du deines Irrwahns Beute! –


Der Lehrer starb am Sonnenstich,
Der munt’re Schüler lebt noch heute

.
Friedr. Bodenstedt.