Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution/Ausweisung
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Die schmähliche Behandlung der Reichsdeutschen und Österreicher, sowie derjenigen Personen, die nach einer bestimmten Frist in den russischen Untertanenverband aufgenommen worden waren, oder sich sonst „verdächtig“ gemacht hatten, kann hier nur flüchtig gestreift werden, denn das gewaltige Material ließe sich im völligen Umfange nur in einem mehrbändigen Werke niederlegen, behandelt doch der Moskauer Professor Lindemann allein die an den deutschen Kolonisten seitens der russischen Regierung verübten Bedrückungen in einem stattlichen Quartbande von beinahe 400 Druckseiten.
Die ersten Maßregelungen von Reichsdeutschen fanden in Petersburg unmittelbar nach der Kriegserklärung statt, und zwar ging die Initiative hierzu, wie zu vielen anderen gegen Deutsche gerichteten Teufeleien von der Ssuworinischen „Wetscherneje Wremja“ aus, die eine spezielle Spalte für Denunziationen einrichtete, die nicht nur von besonderen Mitarbeitern, sondern von jedem bearbeitet wurde, der sein Mütchen an dem einen oder anderen ihm unliebsamen Deutschen oder Österreicher kühlen wollte und sich hierbei entweder von rein persönlichen, zumeist aber geschäftlichen Interessen leiten ließ.
Die ersten Opfer dieser schandbaren Denunziationen waren, was für das Ssuworinsche Blatt ungemein charakteristisch ist, die Korrespondenten reichsdeutscher und österreichischer Blätter, soweit es diesen nicht gelungen war, sich beizeiten in Sicherheit zu bringen.
[27] Ich möchte an dieser Stelle bemerken, daß die Kriegserklärung überraschend kam. Am späten Abend des 28. Juli 1914 hoffte man in der deutschen Botschaft in Petersburg noch, daß die aufs äußerste gediehene Spannung nachlassen würde. Ein solcher Bescheid wurde mir kurz vor 12 Uhr nachts des genannten Tages. Um 3 Uhr morgens des 29. Juli überreichte Graf Pourtalès dem Minister des Auswärtigen Sasonow die Kriegserklärung, die Würfel waren gefallen!
Schon vorher hatten nicht wenige vorsichtige, oder weitschauende, namentlich wehrpflichtige Deutsche Rußland verlassen, und es gelang zahlreichen anderen, nach bereits erfolgter Kriegserklärung die Grenze zu gewinnen. Man mußte nur die Schlupflöcher kennen, oder aber den bekannten Esel Philipps von Mazedonien vorführen, der in Rußland Festungen, Geheimarchive, Boudoirs, Grenzen und die Herzen von Ministern öffnet.
Kurzum, es gelang vielen, oft unter abenteuerlichsten Umständen, über die Grenze zu schlüpfen, aber Tausende und aber Tausende mußten zurückbleiben. Ihren traurigen Schicksalen sind diese flüchtigen Zeilen gewidmet.
Man fahndete also zunächst nach den so furchtbar gefährlichen Berichterstattern reichsdeutscher und österreichischer Blätter, weil diese mit den Botschaften der feindlichen Mächte in Beziehungen gestanden und überhaupt verdächtig erscheinen mußten, stand doch jeder russische Journalist unter der väterlichen Aufsicht der zarischen Geheimpolizei, — um wieviel gefährlicher mußten also die unheimlichen Gesellen sein, die Nachrichten an das Ausland vermittelten! Also fort mit ihnen, seien sie nun Reichsdeutsche, Österreicher oder russische Untertanen.
Die Gendarmerie stellte bei ihnen nächtlicherweile Haussuchungen an und verhaftete sie auch dann, wenn nichts Gravierendes vorgefunden wurde. So geschah es auch mit einem lieben Kollegen, mit dem ich im Laufe vieler Jahre [28] Schulter an Schulter gearbeitet hatte und der im Nebenamte Vertreter des größten Wiener Blattes war. Mein Kollege wurde um vier Uhr morgens in seiner Wohnung von Gendarmen überfallen, man durchwühlte seine Papiere und verhaftete ihn dann, wenngleich man bei ihm, der russischer Reserveoffizier war und in dem von ihm bedienten Wiener Blatte über Rußland nie eine Zeile geschrieben hatte, die nicht in einem beliebigen russischen Blatte hätte abgedruckt werden können, nicht das geringste fand. Man verhaftete ihn nur, weil er für ein feindliches Blatt korrespondierte.
Ich besuchte meinen Kollegen am nächsten Tage und fand ihn in einem Schulgebäude, das provisorisch als Haftlokal für Reichsdeutsche und Österreicher diente, in einer nach Hunderten zählenden Gesellschaft von zumeist zu den angesehensten Vertretern der deutschen Kolonie gehörigen Personen, die das gleiche Schicksal ereilt hatte, wenngleich sie keine Ahnung davon hatten, wessen sie sich eigentlich schuldig gemacht haben sollten.
Vorab ging es in diesem „Gefängnis“, das alle Inhaftierten ohne Ausnahme in Bälde verlassen zu können hofften, noch recht lustig zu; man durfte die Gefangenen besuchen, ihnen Lebensmittel und Bücher bringen, sie durften sich in allen Räumen des großen Hauses frei bewegen, rauchen und Briefe befördern. Leider wurden aber die Gefangenen weder bald entlassen, noch auch konnten sie sich auf die Dauer des in mancher Beziehung fidelen Gefängnisses erfreuen — wenige Tage später hieß es, daß mein Freund und seine Leidensgenossen in das sog. Verschickungsgefängnis überführt seien. Ihr Schicksal hatte also eine durchaus tragische Wendung genommen, denn abgesehen davon, daß das Verschickungsgefängnis eine Kloake von unsäglicher Verschmutzung darstellte, könnte über seiner Tür das Dantesche Wort: „Laßt die Hoffnung hinter euch!“ stehen. Wer das Verschickungsgefängnis betritt, verläßt es nur, um in die Verbannung zu gehen.
[29] Alle Bemühungen, zu den Gefangenen zu gelangen, schlugen fehl, selbst einem lutherischen Pastor, der die Gefangenen besuchen wollte, wurde dieser Besuch vom Gefängnisdirektor kategorisch verweigert, wobei dieser Wackere dem Pastor mit sichtlicher Genugtuung mitteilte, daß die „verfluchten“ Deutschen mit gemeinen Verbrechern zusammen eingesperrt seien und gleich diesen behandelt würden. Schritte, die bei der obersten Gefängnisverwaltung unternommen wurden, blieben gleichfalls erfolglos; einer der höchsten Beamten des Ressorts sagte mir unumwunden, daß er eine Zusammenkunft nicht genehmigen könne, weil er einen deutschen Namen trüge und fürchte, denunziert zu werden.
Es gelang mir also weder meinen Freund, noch so manchen anderen guten Bekannten zu sehen; sie wurden, soweit sie in militärpflichtigem Alter standen, nach einigen Wochen in die nördlichen Gouvernements deportiert, und zwar zu Fuß auf dem sog. Etappenwege, zusammen mit gemeinen Verbrechern, aller brutalen Willkür der Begleitsoldaten preisgegeben. Was diese Männer auf dem Wege zu ihren Verbannungsorten, in den Etappenstationen und den entsetzlichen russischen Gefängnissen erlitten, kann sich selbst die düsterste Phantasie nicht ausmalen. Viele von ihnen sind schon unterwegs infolge Entkräftung und Hungers zugrunde gegangen, denn Geld, das sie bei sich hatten, wurde ihnen während des Transports abgenommen und erst am Verbannungsorte, oft nach Monaten, zurückerstattet, wenn es sich um kleinere Beträge handelte, größere Summen sind vergeblich reklamiert worden, sie konnten nicht ermittelt werden.
Mein Freund ist nach anderthalb Jahren in der Stadt Troizk im Gouvernement Orenburg im Elend gestorben. Ein anderer Freund, der in dasselbe Gouvernement verschickt worden war, erhielt, obwohl er militärpflichtig war, nach einem halben Jahre die Genehmigung, nach Deutschland abreisen zu dürfen; ich sah ihn bei seiner Durchreise [30] durch Petersburg und mußte mit Entsetzen konstatieren, daß ein halbes Jahr Verbannung den jugendstarken, lebensprühenden Mann in einen müden und gebrochenen Greis verwandelt hatte. Seine Freilassung hatte er in der Weise erwirkt, daß er sein ganzes Vermögen dem Gouverneur von Orenburg, Ssuchomlinow, dem Bruder des nachmaligen Kriegsministers, hingegeben hatte.
Es waren das unheilschwangere, in hohem Grade niederdrückende und aufregende Tage und Wochen, die die Deutschen Petersburgs zu durchleben hatten. Nicht nur die Reichsdeutschen und Österreicher hatten die Massendenunziationen zu fürchten, sondern auch die Deutschrussen, die in geschäftlichen oder sonstigen Beziehungen zu Deutschland bzw. Österreich gestanden, zum Deutschen Verein gehört oder gar irgendwann einen Beitrag für den Deutschen Flottenverein gezeichnet hatten. Das Deutschtum wurde zum Verbrechen und die deutsche Sprache zum strafbaren Vergehen gestempelt. Kein Deutscher war in seinen vier Wänden sicher, denn man konnte fürchten, das Opfer einer wahnwitzigen Denunziation zu werden und auf die törichtesten Verdächtigungen hin in das Untersuchungsgefängnis zu geraten.
Harmlose Zeitungsnummern, Ansichtskarten und ähnliche „belastende Dokumente“ konnten die Verschickung einbringen, daher war man bemüht, alle derartigen Dinge beizeiten zu vernichten, oder sich auf einen glücklichen Zufall zu verlassen, wie jener Musiker, bei dem die haussuchenden Gendarmen das Bildnis eines deutschen Prinzen in Kürassieruniform vorfanden.
„Ein deutscher Kürassier?“ fragte frohlockend der Gendarmenoberst.
„Nein, sondern ein Wagnersänger in der Rolle des Lohengrin.“
„Ah, Lohengrin! Wunderbare Oper; habe sie gehört. Sehr gut.“
[31] Damit war der Zwischenfall erledigt. Der Musiker war gerettet. Währenddessen mußte ein Großindustrieller, bei dem man eine Karte, die Verbreitung der Deutschen in Rußland darstellend, fand, viele Monate in Untersuchungshaft verbringen, obwohl diese Karte die Zensur passiert hatte und von der „Petersburger Zeitung“ als Beilage ihren Abonnenten geliefert worden war.
Im Laufe der nächsten Monate konnte man nun auf den Straßen Petersburgs häufig genug sehen, wie angesehene deutsche Männer in Gemeinschaft mit Kriminalverbrechern transportiert wurden; sie alle mußten, soweit sie nicht in den Norden verbannt wurden, die „Wladimirka“, die unendliche Deportationsstraße, beschreiten, um dann in irgendeinem Kirgisen-, Tataren- oder Kalmückendorfe zu landen und dort neuen Leiden entgegenzugehen.
Das waren die ersten Opfer der Deutschenverfolgung, die sich zunächst nur gegen die bekannteren Mitglieder der deutschen Kolonie Petersburgs richtete, dann aber gigantische Maße annahm. Neben dem von der „Nowoje Wremja“ und ihrem Ableger, der „Wetscherneje Wremja“, mit verbissener Wut genährten politischen Haß machte sich bald der geschäftliche Brotneid breit, der schließlich zur Prägung des Schlagwortes von der „deutschen Vergewaltigung“ und endlich zur Sequestrierung, Konfiszierung und Verzettelung deutschen Eigentums im Werte von vielen hunderten Millionen Rubeln führte.
Zunächst wurde aber noch weiter ausgewiesen. Personen, die über das wehrpflichtige Alter hinaus waren, sowie Frauen und Kinder wurden nach Deutschland abgeschoben, und zwar auf dem Wege über Finnland und Schweden. Anfänglich gestattete man den Ausgewiesenen, Geld und Wertgegenstände in beliebiger Menge mitzunehmen, aber bald wurde die freigegebene Summe erheblich verringert und schließlich sank sie auf etwa 50 Rubel pro Person, während die Mitnahme von Gold-, Silber- und anderen kostbaren [32] Gegenständen vollständig untersagt wurde. Die Ausgewiesenen wurden in Waggons gesperrt, deren Fenster mit Ölfarbe dick verschmiert waren, und sie wurden auf der Grenzstation Beloostrow, sowie an der schwedischen Grenze einer peinlichen Durchsuchung unterworfen, es wurden hierbei nicht nur Geldsummen und Wertsachen, sondern auch jeder beschriebene Fetzen Papier abgenommen; trotzdem gelang es nicht wenigen, das Ihrige durchzubringen, man mußte nur findig sein und einen hilfreichen russischen Freund besitzen. Nicht jeder Ausgewiesene brauchte wie jene Dame ihr Vermögen in Petersburg in großen Diamanten anzulegen und diese dann zu verschlucken — eine Thesaurierung, die bei einer Eisenbahnreise entschieden mit großem Risiko verbunden ist.
Welche Einnahmen die Ausweisungen der russischen Polizei verschafften, kann man sich unschwer denken, wenn man berücksichtigt, daß der Appetit eines Petersburger höheren Polizeibeamten allenfalls von dem eines ausgewachsenen Haifisches übertroffen werden kann, und daß andererseits oft enorme geschäftliche Interessen auf dem Spiele standen, die ausgiebige Schmiergelder begreiflich erscheinen ließen. So mancher Kaufmann oder Fabrikant hat trotz alledem monatelang ruhig in der Residenz leben und seine Geschäfte ordnen können, wenngleich sein Stündlein schon längst geschlagen hatte. Freilich mußte er sich die häufigen Besuche der freundwilligen Polizisten gefallen lassen, die ihren Sold prompt abholten und den Betrag beständig steigerten, indem sie darauf hinwiesen, welches enorme Risiko sie trügen und daß die „Nachsicht“, die sie übten, sie leicht Stellung und Ehre (!) kosten könne.
Aber schließlich hatte auch die „Nachsicht“ der Polizisten ein Ende, und man mußte nun entweder nach Deutschland oder aber in die Verbannung. Mitunter gestaltete sich diese übrigens nicht allzu schlimm, namentlich wenn man über ausgiebige Geldmittel verfügte und sich dank diesen mit den [33] örtlichen Autoritäten zu stellen wußte, dennoch wurde die Verbannung für die weitaus meisten Deutschen, auch für Begüterte, zu einem Martyrium, zu einem Leidenswege ohnegleichen. Tausende und aber Tausende mußten in elenden, von Schmutz, Verkommenheit und Ungeziefer starrenden Dörfern inmitten einer barbarischen, zum Teil fanatisierten Bevölkerung leben und mußten von dieser das Schlimmste gewärtigen. Ganz besonders schwierig gestaltete sich das Verhältnis zu den niederen Polizeichargen, die eine wahre Pest im Lande bildeten; es ist daher nur zu verständlich, daß eine der ersten Sorgen des revolutionären Rußland darin bestand, daß es sich der Polizei entledigte. Diese Kerle, die das russische Dorf terrorisierten und es zu ihrer Milchkuh machten, nutzten die armen Verbannten bis aufs Blut aus und ließen sie trotzdem ihre Gewalt auf Schritt und Tritt fühlen.
Der „Patriotismus“, der hohe Wellen schlug, verlangte aber nach immer neuen Opfern und man suchte und schnüffelte sie an allen Ecken und Enden heraus. Man scherte sich weder um Stellung noch Verdienst, sondern es genügte, daß einer Deutscher war, um ihn zu verderben. Schließlich konnte auch die Petersburger Polizei nicht mehr gut „Nachsicht“ üben, denn man denunzierte nun von allen Seiten. Insbesondere zeichneten sich die russischen Angestellten vieler deutscher Geschäfte in dieser Beziehung aus — Leute, die oft Jahrzehnte hindurch auskömmliche Stellungen in solchen Geschäften bekleidet hatten, verrieten ihre Prinzipale ad majorem gloriam des Patriotismus, oder auf Betreiben russischer Konkurrenten, die sich ins Fäustchen lachten und nicht unterließen, auf die ungeheuerliche Vergewaltigung hinzuweisen, unter der die unglücklichen Russen gelitten haben sollten. Die „Nowoje Wremja“ war unentwegt am Werke, sie spritzte Gift und Galle. Wehe dem, der auch nur ein Wort gegen diese unglaubliche Mißhandlung der Deutschen und gegen die mit diesen Nachstellungen verknüpften [34] kolossalen Mißbräuche geäußert hätte, er hätte seinen Wagemut mit Verbannung büßen müssen. Sogar der Hof konnte sich der allgemeinen Hetze nicht entziehen, er mußte eine Anzahl von alten und bewährten Beamten und Dienern nur deshalb entlassen, weil sie Deutsche waren. Das Hofministerium nahm den Hoflieferantentitel allen deutschen Firmen, sogar auch solchen, deren Inhaber seit 35 Jahren zum russischen Untertanenverbande gehörten. Jede dieser Entlassungen und Maßregelungen wurde mit Genugtuung registriert. Kaiser Nikolai kam schließlich der Bewegung so weit entgegen, daß er den traurigen Mut hatte, die Schöpfung des Größten seines Geschlechts, Petersburg, in „Petrograd“ umzubenennen und sich damit für alle Zeiten als Miniatur-Herostrat lächerlich und verächtlich zu machen.
Als man mit den wehrpflichtigen Männern aufgeräumt, d. h. sie in die Verbannung geschickt hatte, da machte man sich an die Frauen und Knaben, die das 15. Lebensjahr erreicht hatten; auch sie wurden ausgewiesen, doch wäre es gar zu menschlich gewesen, wenn man sie mit ihren Männern und Vätern zusammengeführt hätte, man zerriß ganz systematisch Familien, indem man die einzelnen Mitglieder auseinandersprengte und die einzelnen Personen in Ortschaften internierte, die tausende Werst voneinander entfernt waren. Was das für die heranwachsende Jugend, die ohne Leitung und Schulunterricht blieb, bedeuten muß, ist unschwer zu ermessen.
Und das Schlimmste war, daß die Hilfe, die man anfänglich den Verbannten erweisen konnte, schon nach wenigen Monaten eingeschränkt werden mußte, denn jeder, der verbannten Reichsdeutschen Dienste in irgendeiner Form erwies, machte sich verdächtig. Wenn er abgefaßt wurde, dann blühte auch ihm das Schicksal der Verbannung, natürlich nach vorhergehender Haussuchung und hochnotpeinlichem Verhör durch die Gendarmerie, die in diesen Dingen einen flammenden Eifer entwickelte. Daß man nur zu leicht abgefaßt [35] werden konnte, dafür sorgten schon die Denunzianten, die wie Pilze aus der Erde schossen und jedem anständigen Menschen das Leben in Rußland zum Ekel machten. Trotzdem fanden sich auch hier die Hintertüren, durch die man in Rußland zu jedem Ziel gelangen kann. Immerhin haben aber selbst sehr wohlhabende Menschen oft monatelang die bitterste Not erleiden müssen, denn nicht immer ließen sich die vielen Schwierigkeiten rasch aus dem Wege räumen. Sehr vielen konnte jedoch gar nicht geholfen werden und sie mußten elend zugrunde gehen.
Unter solchen Umständen ist es wohl verständlich, daß viele schwache und haltlose Menschen dem drohenden Unheil dadurch sich entziehen zu können vermeinten, daß sie ihre deutschen Namen ablegten oder gar dem Bekenntnis ihrer Väter untreu wurden und sich in den Schoß der russischen Landeskirche aufnehmen ließen. Einige mögen diese Manöver vor dem Ärgsten bewahrt haben, während andere von der „Nowoje Wremja“ voll hämischer Freude an den Pranger gestellt wurden und ihrem Schicksal nicht entgingen.
Soll ich noch schildern, welche Orgien der „Liquidation“ und „Verwaltung“ des herrenlos gewordenen reichsdeutschen Eigentums entfesselt wurden? Soll ich schildern, wie die in „patriotischem“ Wahnsinn blind gewordene russische Regierung unzählige deutsche industrielle Betriebe, die für die Landesverteidigung von größter Wichtigkeit gewesen wären, vernichtete? Soll ich schildern, wie dieses wahnsinnige Treiben nicht wenig dazu beigetragen hat, daß es an allen Ecken und Enden an verschiedenen notwendigen industriellen Erzeugnissen zu fehlen begann und diese zu fabelhaften Preisen aus England, Schweden, Amerika und Japan bezogen werden mußten? Soll ich schildern, wie Rußland aus der eingebildeten deutschen Zwingherrschaft rettungslos sich in den Banden Englands, Japans und Amerikas verstrickte?
[36] Dem Eifer der „Nowoje Wremja“ und der Kreise, deren Sprachrohr sie bildete, genügte die Verfolgung der Reichsdeutschen bald nicht mehr. Je mehr die auf den Schlachtfeldern erlittenen Schlappen sich häuften, um so stärker machte sich das Bedürfnis nach Ablenkung geltend. Man konnte doch unmöglich zugeben, daß die Armee schlecht vorbereitet und schlecht ausgerüstet war, daß in Zivil- und Heeresverwaltung neben Unvernunft und Unfähigkeit schreiende Mißbräuche herrschten. Das konnte man doch nicht zugeben, man mußte also nach „Schuldigen“ suchen, und sie wurden bald gefunden. Man entdeckte sie in der Person der deutschen Kolonisten, die seit anderthalb Jahrhunderten an der Wolga und in Südrußland saßen und keinerlei Beziehungen zum einstigen Mutterlande unterhielten, dagegen aber an deutscher Art, deutscher Sprache und dem lutherischen Bekenntnis zäh festhielten; man fand sie in der Person der baltischen Deutschen, die nun der abscheulichsten Verbrechen, wie des Vaterlandsverrates, der Spionage usw. geziehen wurden und Drangsalierungen schlimmster Art zu erdulden hatten.
Die „Nowoje Vremja“ entsandte spezielle Mitarbeiter in die genannten Gebiete, die immer neue Lügen und Verleumdungen erfanden und sie urbi et orbi verkündeten, ohne daß sich eine Stimme gefunden hätte, die für die Deutschen russischer Untertanenschaft eingetreten wäre. Man siedelte die Kolonisten von ihren Wohnsitzen aus und ruinierte sie vollständig, wobei man vergaß, daß die Brachlegung gewaltiger Landstrecken die Verpflegungsnot verschärfen mußte, was denn auch prompt eintrat; man verschickte hunderte baltischer Deutscher auf haltlose Denunziationen und ganz vage Verdachtsgründe hin. Man verbot deutsche Zeitungen, den Gebrauch der deutschen Sprache, den Druck deutscher Bücher, löste deutsche Schulen auf, kurzum, man suchte alles Deutsche mit Stumpf und Stiel auszurotten, und schließlich ging die Verrücktheit so weit, daß man russische Offiziere deutschen [37] Namens durch Verdächtigungen und Zurücksetzungen brüskierte und sie mit Vorliebe zu den gefährlichsten Dienstleistungen benutzte.
Selbst die liberalen russischen Blätter, die während der Revolution so überzeugt für Freiheit und Menschenrechte eintraten, schwiegen damals wohlweislich, sie entdeckten ihr Herz für diese höheren Dinge erst später, als die Sache nicht mehr gefährlich war. Die von der „Nowoje Wremja“ veröffentlichten Denunziationen, die vielfach auf den ersten Blick die Herkunft aus der Gesindestube verraten, sind von ihrem Autor Rennikow zu einem Sammelbande vereinigt worden, und sie bilden eines der merkwürdigsten Zeitdokumente, das durch einen Band von Widerlegungen, der von dem Abg. Baron Meyendorff gesammelt und herausgegeben worden ist, ergänzt wird. Nebenbei sei nur bemerkt, daß zahlreiche Denunziationen, soweit sie sich auf Deutschbalten beziehen, auf lettische Quellen zurückzuführen sind. Hatte doch die lettische Presse aller Parteifärbungen, insbesondere aber die der Großbourgeoisie in bezug auf Verleumdungen den Rekord der „Nowoje Wremja“ nicht ohne Erfolg bestritten.
Doch ich sehe, daß ich von meinem eigentlichen Thema abgekommen bin. Ich will dieses Kapitel mit einem humoristischen Zwischenfall beschließen. Ein guter Bekannter, der den Sommer in Finnland verbracht hatte, wurde von schwedischen Freunden festgehalten — sie glaubten ihm die drohende Verbannung ersparen zu können. Sie sahen sich aber getäuscht, denn die für Reichsdeutsche gültigen scharfen Bestimmungen wurden sehr bald auch auf Finnland ausgedehnt — daß das wieder eine der unzähligen Verletzungen der finnländischen Verfassung war, kümmerte die zarische Regierung wenig. Trotzdem hielt der Betreffende, ein Österreicher, sich noch längere Zeit verborgen, bis es ihm doch angezeigt schien, sich zu melden, um seine Freunde nicht einer schweren Strafe auszusetzen. Er fuhr also nach Wiborg und meldete sich dort beim Polizeimeister, der ihn verhaften [38] ließ, worauf er dann nach einigen Tagen nach Petersburg transportiert wurde, um den dortigen Behörden übergeben zu werden. Die Reise ging unter Bedeckung von zwei finnländischen Konstablern vor sich, die zur Feier des Tages ihre Helme aufgesetzt hatten, sich aber trotz dieser höchst kriegerischen Aufmachung durchaus manierlich benahmen und sich um ihren Arrestanten herzlich wenig kümmerten.
Als der Zug gegen Abend in Petersburg anlangte, da sprach der Arrestant mit seinen Begleitern ein vernünftiges Wort, er wollte nämlich seine Petersburger Wohnung aufsuchen, um dort einige Anordnungen zu treffen. Die Finnländer gingen darauf ohne weiteres ein, und sie verzichteten sogar darauf, dem Arrestanten in die Wohnung zu folgen, weil sie sich unterdessen die ihnen fremde, sie höchlich interessierende Stadt ansehen wollten; nach einiger Zeit würden sie den Arrestanten abholen und ihn dann im russischen Gefängnis abliefern.
Die vereinbarte Frist war schon längst verstrichen, doch die Begleitmannschaft war noch immer nicht erschienen. Nachdem der Arrestant sich auf der Straße vergeblich nach ihr umgeschaut hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ruhig schlafen zu legen und die weitere Entwickelung der Dinge abzuwarten. Doch auch am anderen Tage wartete er vergeblich, statt dessen las er gegen Abend in der „Nowoja Wremja“ einen empörten Artikel über die Schlampigkeit der Militärverwaltung, die deutsche Kriegsgefangene in voller Uniform, mit der verhaßten Pickelhaube auf dem Kopfe, in Petersburg herumlaufen lasse. Nun ging dem wackeren Österreicher allmählich ein Talglicht auf: die dingfest gemachten „deutschen Kriegsgefangenen“ konnten nur seine finnländischen Konstabler sein, denn man konnte, wenn man einige Phantasie besaß, ihre Helme für die deutsche Pickelhaube hinnehmen. Die armen Kerle hatten in der Tat sich verhaften lassen müssen, weil sie kein Sterbenswort russisch verstanden und sich daher gegen den gegen sie erhobenen [39] furchtbaren Verdacht in keiner Weise zu wehren vermochten. Sie waren kurzerhand eingesperrt worden, und man ließ sie erst dann frei, als die Wiborger Polizei ein paar Detektivs nach Petersburg kommandiert hatte, die den Verbleib der Konstabler ausfindig machten. Der Österreicher hatte sich nach ein paar Tagen vergeblichen Harrens auf seine Begleitmannschaft in das Gefängnis begeben und den Versuch gemacht, den verzwickten Fall aufzuklären, aber seine Bemühungen waren an dem eisernen Gefüge des Satzes: quod non est in actis, non est in mundo, zuschanden geworden. Er konnte kein „Papier“ beibringen und man schmiß ihn zum Tempel hinaus, und zwar mit der Drohung, daß er sich vorsehen möge, sonst könne er gar zu leicht in Spionageverdacht geraten. So blieb dem Manne nichts anderes übrig, als zu warten und bis auf weiteres die „Nachsicht“ der Polizei in Anspruch zu nehmen. Er hatte etwa drei Monate zu warten, dann war der Fall endlich in allen Instanzen entwirrt, und nun wurde er sofort verhaftet, ins Loch gesteckt und irgendwohin in die Kalmückensteppen deportirt.
Ich fürchte aber, daß der weitere Verlauf seiner Verschickung eine weniger heitere Wendung genommen hat, als ihr Beginn.