Rotterdam (Meyer’s Universum)
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„Adieu les canards, les canaux, les canailles!“ – so verabschiedete boshaft und ungerecht Voltaire die Holländer und ihr Land. Und doch ist es schön und es sieht in der That einem Garten gleich, zumal, wenn man die Straße von Arnheim nach Rotterdam fährt. Man wird zwar weder Felsen noch Berge gewahr werden, denn die ganze Landschaft ist eben, wie ein Tisch; nichts desto weniger ist eine unglaubliche Bewegung in der Landschaft, und die Mannichfaitigkeil der Gegenstände hält die Aufmerksamkeit fortwährend beschäftigt. Städte, Dörfer, Schlösser mit ihren reichen Umgebungen, Villen von jeder Bauart mit Blumengärten der verschiedensten Formen, die fetten Weiden, die sich ausdehnen wie die Savannen Amerika’s und bevölkert sind mit tausenden von Rindern; die Seen, blos durch den Torfstich entstanden, mit ihren Inseln, wo die Wasservögel in unzähligen Schaaren das baumlange Schilf beleben; das fortwährende Erscheinen von Städten und Thürmen am fernen Horizont läßt keinem Gefühl von Langeweile und Einförmigkeit Raum. Die Nähe des reichen Rotterdams selbst verräth sich zuerst durch die Größe und Menge der Landhäuser und die Ausdehnung der Gartenanlagen. Schon eine Viertelstunde von der Stadt rücken die Landsitze zu beiden Seiten der Straße in 2 Reihen an einander, mit fortlaufenden Blumenparterres vor denselben, welche durch Kanäle von der Chaussee getrennt sind. Zu jedem derselben führt eine Zugbrücke. Unzählige Windmühlen ragen von den Dämmen, welche das Land vor den Fluthen der Maas schützen, und der barockste Geschmack hat sich erschöpft, ihre Formen und ihre Verzierungen zu vermannichfaltigen. Manche gleichen chinesischen Glockenthürmen, andere sind wieder mit Schnitzereien im sonderbarsten Style überdeckt. Sie sind alle sehr hoch, und ihre ungeheuern Flügel mit rastloser Bewegung vergrößern die Lebensfülle des Bildes. Dazwischen ragen die Masten des Hafens, ziehen die grauen Segel auf den Kanälen, schauen die großen, mit Glas bedeckten Gebäude der Docks und Werfte hervor, unter denen die Arbeiter zu Hunderten sich mit dem Neubau oder der Ausbesserung von Schiffen und Fahrzeugen aller Größen beschäftigen. Dieses, das geschäftige Gewühl und die Eile der Kommenden und Gehenden, und viele andere Zeichen lassen die große See- und Handelsstadt schon von weitem erkennen.
[76] Rotterdam hat die Gestalt eines Dreiecks, dessen breiteste Seite sich an die Maas lehnt. Ein hoher Damm scheidet die Binnenstadt (Altstadt) von der äußern, oder dem neuern Stadttheil, der ungleich schöner als jene ist, und wo der colossale Reichthum der Rotterdamer Handelsherren sich auch wohl in Palästen zur Schau legt. Neben solchen sind gewöhnlich die Ankerplätze für die Schiffe der Eigenthümer, und stolz flaggen um manchen Balkon ein Dutzend Wimpel. Die Kayen sind mit Rüstern und Linden bepflanzt und dienen den Städtern zur Promenade. Die schönsten sind auf dem Boomjes, einer Kay an der Maas, das Nieuwe Werk und die Plantandje.
Die Sehenswürdigkeiten der Stadt beschränken sich zumeist auf Anstalten zur Förderung des Handels: z. B. Admiralitätsgebäude, Arsenal, Börse, die Gebäude der niederländischen Compagnie. Den großen Erasmus ehrte seine Vaterstadt mit einer Statue. Sie steht auf der Mitte einer Brücke über den Hauptkanal; aber sein Geburtshaus in der „breede Karl-Straat“ ist jetzt eine Branntweinschenke. – In der Lorenzkirche sieht man Grabmäler vieler Seehelden aus der großen Zeit der Republik.
Rotterdam ist die blühendste Handelsstadt Hollands und die einzige, welche durch die Trennung von Belgien neue Elemente ihres Gedeihens gewonnen hat. Sie ist fortwährend im Wachsen und hat gegenwärtig über 7000 Häuser und an 90,000 Bewohner. Der Handel selbst steht an Größe dem von Amsterdam schon gleich. Rotterdam ist nicht nur fortwährend der Hauptmarkt für die süd-holländischen Produkte und die auf dem Rhein ausländischen Absatz suchenden Waaren Deutschlands: – für Getreide, Krapp, Holz, Kleesaat, Käse, Genever; sondern auch ein Hauptstapelplatz für die Erzeugnisse der Ostseeländer und die der Colonien. Als Kaffeemarkt rangirt es gegenwärtig in der vordersten Reihe. Die Einfuhr dieses Artikels hat in den letzten Jahren jährlich über 60 Millionen Pfund betragen. Dem Waarenhandel und der Rhederei dienen hier sehr große Kapitale; in Wechsel-, Assekuranz- und Fondsgeschäften hingegen behält Amsterdam das Uebergewicht. Rotterdam ist auch der Sitz der niederländischen Dampsschifffahrtsgesellschaft, welche eine große Anzahl Schiffe auf dem Rhein, nach den englischen Häfen, Antwerpen, Havre etc. etc. unterhält und ihre Geschäfte jetzt bis nach Ostindien ausdehnt. – Unter den hiesigen Gewerben spielen Zuckersiederei, Kattundruckerei, Tabak- und Bleiweißfabrikation und die Bereitung chemischer Produkte hervorragende Rollen. – Eine Eisenbahnverbindung besitzt Rotterdam nicht; die vielfachen und wohlfeilen Wasserkommunikationen machen sie auch weniger zum Bedürfniß.
Die hiesige Lebensart nähert sich der englischen Sitte. Man steht spät auf, ißt um 4 Uhr, trinkt des Abends Thee. Für den Fremden, der etwas Anderes als Geschäfte sucht, bietet die große Stadt wenig Abwechselung; sie hat nicht einmal ein stehendes Theater. Die Familien schließen sich, nach altholländischer Weise, gegen [77] Fremde sehr ab, und da Alles sich mit dem Handel und den Gewerben beschäftigt, oder mit denselben in Beziehung tritt, so ist auch die Unterhaltung ihnen fast ausschließlich gewidmet. Der Rotterdamer ist häuslicher, als der Amsterdamer, und die Sucht, mit dem erworbenen Reichthum zu glänzen, hat im Ganzen hier noch wenige Jünger gefunden.
Eine zahlreiche Colonie hier ansässiger Briten, meist Handelsleute, bildet eine Gemeinde für sich. Sie hat mehre Kirchen inne, in denen englische Prediger administriren, und ihre Glieder bewegen sich in abgeschlossenen, wenig zugänglichen Kreisen. –