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RE:Visellius 5

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Person bei Horaz Sat. I 1, 105
Band IX A,1 (1961) S. 358360
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5) eine nicht weiter bekannte Persönlichkeit (vgl. Prosop. Rom. III 447 nr. 485), deren Name nur bei Horat. sat. I 1, 105 Est inter Tanain quiddam socerumque Viselli erscheint. So wenig wie den V. kennen wir dessen hier nicht mit Namen genannten Schwiegervater, was A. Kießling und R. Heinze im Kommentar zu des Dichters Satiren, Berl.5 1921, 19 zu der Vermutung führte, der Name des socer Viselli sei im Hexameter nicht verwendbar gewesen. Im übrigen schließen sich beide Erklärer ebenso wie – soweit ich sehen kann – die übrigen deutschen und nichtdeutschen Horazausleger (L. F. Heindorf, G. Krüger, P. Hoppe, Luc. Müller, J. Gow, E. P. Morris, V. Ussani, V. d’ Agostino u. a.) bei der Deutung dieses Verses dem Porphyrio an, der erklärt: Tanais spado fuit, ut quidam aiunt, Maecenatis libertus, ut nonnulli L. Munati Planci; Viselli socer autem herniosus. Diese Interpretation muß jedoch in mehrfacher Hinsicht befremdlich anmuten. Aus dem Horazvers erhellt, daß V. ebenso wie der vermeintlich Verschnittene (Tanais) eine den Zeitgenossen des Dichters wohlvertraute, ja stadtbekannte Person war, und dies nimmt auch P. Hoppe a. O. 12 folgerichtig an.

Nun wird man sich aber fürs erste fragen müssen, ob ein Hodenbruchleiden jemanden tatsächlich in weitesten Kreisen bekanntzumachen vermag: es ist doch wohl anzunehmen, daß ein [359] damit Behafteter mit seinem Makel sicherlich kein Aufsehen gemacht haben, sondern ihn möglichst geheimgehalten haben wird; überdies ist ein solcher Leibschaden bekanntlich keine seltene oder gar singuläre Erscheinung. Nicht minder wundernehmen kann es, daß der Hämling Tanais just wegen seines Kastratentums in der römischen Weltstadt Popularität erlangte: solche Leute liefen doch dort zu Tausenden und Abertausenden herum. Und erst recht fraglich muß es erscheinen, ob der Satiriker durch eine solche Gegenüberstellung den Widerstreit ,Habsucht und Verschwendung‘, die Grenzen des Zuwenig und Zuviel wirklich passend oder gar spöttisch-witzig veranschaulichen konnte. Es kann kein Zweifel sein, daß jeder unbefangene Leser dieses Verses bei Tanais an den Don in Skythien dachte und denkt, und jeder Horazkenner weiß, daß der Dichter diesen Flußnamen zur Bezeichnung des äußersten Ostens gebraucht: carm. III 10, 1. IV 15, 24; vgl. auch III 4, 36. Wenn darum P. Hofman Peerlkamp in seiner Ausg. der Horazischen Satiren, Amsterdam 1863, lesen wollte Est inter Tanain quiddam Eridanumque, Viselli (Vok.), so setzte er dem Strom im äußersten Osten einen sagenhaften Fluß im fernsten Westen gegenüber – beide kennzeichneten Enden der Welt: s. o. Bd. VI S. 446, nr. 4; auch in den Ausdrücken fines (v. 106) und ultra citraque scheint uns die Vorstellung örtlicher Begriffe noch weiterhin deutlich vorzuschweben. Im übrigen ist jedoch Peerlkamps textkritisch überkühne Vermutung ebensowenig diskutabel wie der sachlich absonderliche Vorschlag H. Schickingers Wien. Stud. XXVII (1905) 137f., der Est inter T. q. collumque sitellae schreiben möchte.

Statt einer Heilung durch konjekturalen Eingriff versuchte J. Hilberg Wien. Stud. ebd. 302ff. die bestehende Schwierigkeit durch Interpretation zu beheben. Bekanntlich sagt Porphyrio die Deutung auf geschichtlich-tatsächlicher Grundlage am wenigsten zu, und bei der Auslegung inhaltlich schwieriger Stellen scheut er sich bisweilen nicht, dem Dichter allerlei Mattes und Plattes zuzumuten. So allem Anscheine nach auch hier, und die späteren Erklärer haben der frostigen Scholiastenweisheit nicht widersprochen. Horaz, meinte man, übertrage an der vorliegenden Stelle die griechische Redensart ἡ σπάδων ἢ κηλήτης ins zeitgerecht Römische: s. Kießling-Heinze a. O. Demgegenüber wies Hilberg in sinngemäßer Erklärung darauf hin, daß der durch den Tanais bezeichneten äußersten Ostgrenze Europas im Westen der Atlantische Ozean (Oceanus heißt er immer kurzweg bei Caesar) entspreche. Nun gab es ja im Lateinischen auch den seltsamen Personennamen Oceanus: vgl. Heraeus’ Martialausg. S. 404 (s. o. Bd. XVII S. 1764), ferner Symm. epist. V 25 (24). Und ebenso hieß offenbar der stadtbekannte Schwiegervater unseres V.; der Name legt die Ansicht nahe, daß sein Träger ein Freigelassener war. Hilberg äußert nun a. O. 303 die bestechende Vermutung, daß der hochangesehene V., aus dessen Familie bald nachher zwei Consuln hervorgingen, die Tochter diesem Freigelassenen (eines sehr vermögenden Mannes, wie es so viele dieses Standes waren) als Gemahlin heimgeführt habe. [360] Wer die leicht entzündlichen Gemüter der Südländer kennt, begreift unschwer, welche Flut von boshaften Spässen über den seine Standesehre mißhandelnden V. niederging (vgl. etwa Plin. epist. V 15, 2), der die Tochter eines Freigelassenen mit dem vertrackten, den Hohnwitz geradezu heraufbeschwörenden Namen (also eine ,Okeanide‘) gefreit hatte. Daher also sein und seines Schwiegervaters weitreichender Ruf in der Großstadt! Wir tragen kein Bedenken, dieser Deutung beizupflichten, die nicht bloß sprachlich und sachlich zu befriedigen vermag, sondern auch den Schalk in dem römischen Satiriker zu seinem Rechte kommen läßt.