RE:Geheimschrift
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Schrift, die nur wenigen Eingeweihten verständlich ist | |||
Band S IV (1924) S. 517–521 | |||
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Geheimschrift. Wenn man im Altertum einen Brief schrieb auf das Holz der Schreibtafel, statt auf den Wachsüberzug, oder auf die Kopfhaut des Boten, die später vom Haarwuchs bedeckt wurde, so war das eine geheime Schrift, aber keine G.; Flaggensignale mit verabredeter Bedeutung gehören ebenfalls nicht hierher, denn sie entsprechen nicht einmal dem Begriff der Schrift. G. ist eine Schrift, die aber nur wenigen Eingeweihten verständlich ist, die den vereinbarten Schlüssel erwerben oder besitzen. Die Mittel, den Sinn der G. der großen Menge zu verbergen, sind sehr verschiedene.
G. des Schreibens.
1. Eine der ältesten und einfachsten Arten ist die σκυτάλη der Ephoren, bei der ganz gewöhnliche Buchstaben geschrieben wurden auf langen schmalen Riemen, die um einen runden Stab mit unregelmäßigen Knoten gewickelt waren (vgl. Leopold Mnemosyne N. S. XXVIII 1900, 365); wenn dieser Stab von den Spiralen des Riemens fast vollständig bedeckt war, so schrieb man den Brief in der Richtung der Langsachse; dann löste man die Windungen des Riemens und schickte die Depesche an den Feldherrn, der einen ganz genau entsprechenden Stab besaß, auf den der Riemen wieder in der vorgeschriebenen Weise aufgewickelt wurde; das Geheimnis der G. besteht hier also darin, daß nur die Eingeweihten es verstanden, die ursprüngliche Ordnung der Buchstaben wiederherzustellen.
2. Bei einer anderen Methode behalten die Buchstaben ihre Form und ihren Platz; aber sie wechseln ihre Bedeutung; in einer orientalischen G. (s. Nöldeke Cryptogr. in der Encyclop. Brit.9 16, 604), Atbasch genannt, wird der erste Buchstabe des Alphabets ersetzt durch den letzten, der zweite durch den vorletzten usw. Dasselbe Prinzip fand auch in Rom Anwendung; in der G. des Iulius Caesar vertrat D das A, E das B usw. Augustus aber verwendete (Suet. Aug. 88) B pro A, C pro B – – pro X autem duplex A. Augustus also schrieb wirklich ein x für ein u.
3. Nach Galen benutzten die griechischen Ärzte eine Art von G., welche die Kranken nicht verstehen sollten; sie verwendeten die gewöhnlichen Majuskeln, aber mit einigen bis jetzt unerklärten Buchstabenverbindungen (s. Wenkbach S.-Ber. Akad. Berl. 1920, 243).
4. Auch die Monokondylien der byzantinischen Hss. sind eine Art von G.; die Minuskelbuchstaben sind so verzerrt und verzogen und eingehüllt in eine Wolke von Schwüngen und Zügen, daß sich der Sinn oft nur schwer erraten läßt (s. Gardthausen Gr. Pal. I² 51).
5. Spiegelschrift wurde nur selten angewendet (Gött. Gel. Anz. XVI 1919. 9). [518]
6. Ein anderes Mittel, das Verständnis zu erschweren, ist die Unterdrückung der Vokale; schon Aeneas von Stymphalos (ca. 360 v. Chr.) machte den Vorschlag, die 7 Vokale durch 1–7 Punkte zu ersetzen.
7. Ein Rest dieser Schreibweise hat sich im lateinischen Abendlande erhalten; dort wurden die Vokale durch die nachfolgenden Konsonanten ersetzt: Karolus / b p x. Eine ähnliche bis jetzt nicht entzifferte G. wird erwähnt in Pertz Arch. XII 274 m. 314. In byzantinischen Hss. später Zeit wurden die Vokale manchmal ganz ausgelassen: Ν(εο)φ(ύ)τ(ου), bei einem einzelnen Namen macht das keine Schwierigkeit; ganze Sätze sind aber oft schwer zu entziffern.
8. Manchmal bleibt von dem ganzen Worte nichts übrig, als der Anfangsbuchstabe; die Christen gebrauchten Ἰχθύς im Sinne von Ἰησοῦς Χριστὸς θεοῦ υἱὸς σωτήρ (s. Dölger P. J. Ἰχθύς, Rom 1910).
9. Rationeller war die Verwendung eines fremdartigen Alphabetes; die Lateiner verwendeten griechische Zeichen; vgl. Nieschmidt Quatenus in scriptura Romani litteris graec. usi sint, Marburg 1913; die Griechen statt des gewöhnlichen das tachygraphische Alphabet, s. Desousseaux Sur l. fragm. crypto-tachygr. du Pal.., gr. 73; Mélanges d’arch. et d’hist. VI 1886, 544ff. Ein Bischof, der sich nicht weigern konnte, seinen Namen unter die Beschlüsse des Konzils vom J. 459 zu setzen, wahrte sein Gewissen durch einen tachygraphischen Zusatz (s. Nöldeke Arch. f. Stenogr. LIII 1901 nr. 2). In einer G. des 9. Jhdts. sind griechische, koptische und arabische Zeichen gemischt (s. Führer durch d. Ausstellung S. 226 nr. 884).
10. Aber je mehr die G. sich einbürgerte, desto mehr stellte sich heraus, daß man eigene kryptographische Alphabete brauchte, die schwerer zu entziffern sind, als die oben genannten Notbehelfe. Je mehr die neu erfundenen G. von der gewöhnlichen Schrift abweichen, desto besser sind sie, desto schwieriger lassen sie sich verstehen. Hier war also der Erfindungsgabe der einzelnen ein weiter Spielraum gelassen; durch ein offenes oder geschlossenes Quadrat in Verbindung mit Punkten und Diagonalen gewinnt man viel mehr Buchstabenformen, als man braucht. □ ⧄ ⚀ ◺ ⊏ ⟓ Die Zahl dieser fremdartigen Alphabete in den mittelalterlichen Hss., namentlich mystischen und magischen Inhalts, aber auch bei Amuletten und Talismanen ist daher eine sehr große; s. Kopp Paläogr. crit. I 475. III 222ff. Als Probe wähle ich ein Alphabet des Cod. Laurent. 52, Collez. Fiorent. t. XXXVIII (vgl. Catal. codd. gr. astr. 8 III T. [I. 2] Schluß). [519]
C. E. Ruelle (†), der den Plan hatte, ein großes zusammenfassendes Werk über die griechische G. herauszugeben, hat in den Mélanges Picot p. 2f. nicht weniger als 47 kryptographische Alphabete zusammengestellt.
G. des Rechnens.
11. Im Orientalischen und im Griechischen haben die Buchstaben einen bestimmten Zahlenwert, der dem Lateinischen fehlt. Im Orientalischen entsprechen sich Zahlzeichen und Buchstaben aufs Genaueste; es lag also nahe, beide zu vertauschen; die geheimnisvolle Zahl der Apokalypse 666 wird erklärt als Nero Caesar;
נ 50, ר 200, ו 6, ד 50, ק 100, ס 60, ר 20 = 666
im Griechischen allerdings stimmen beide weniger genau, da die Zahlzeichen zahlreicher sind, als die Buchstaben. Im Griechischen konnte man ΡΙΒ als ριβ, aber auch als 112 lesen. Demokrites führte den Beinamen ΧΝΑ, weil die Buchstaben seines Namens diesen Zahlenwert hatten; das nannte man Isopsephie (s. Gardthausen Gr. Pal. II2 308–309 A.). Einzelne Abschnitte griechischer und koptischer Hss. endigen mit der Zahl ς θ (99), das ist das Äquivalent von ἀμήν. Ob das oft angewendete ΧΜΓ als 643 zu erklären ist, muß zweifelhaft bleiben (ebd. II2 310).
12. Da die lateinischen Buchstaben einen Zahlenwert nicht haben, so benutzen selbst im Abendlande sehr gelehrte Schreiber die griechischen:
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
a b c d e f g h i k l m n o p q r s t
α β γ δ ε ς ζ η θ ι ια ιβ ιγ ιδ ιε ις ιζ ιε ιθ
(G.)
z. B. ιε α ιγ ιθ α ια ε ιδ ιγ θ ιη θ ιγ γ ιδ ια ιδ ιγ θ α
P a n t a l e o n i s i n C o l o n i a
s. Bull. d. l'éc. d. h. et. LXXI 1910, 712.
Die Schwierigkeit der Entzifferung wird hier besonders dadurch erhöht, daß man niemals weiß, ob einer oder zwei Buchstaben einem lateinischen Buchstaben entsprechen.
13. Die Griechen haben im Laufe der Jahrhunderte ihre Buchstaben in sehr verschiedener Weise als Zahlen verwendet, zuletzt ausschließlich unter Verwendung veralteter Buchstaben, die nur hier noch als Zahlzeichen gebraucht werden (Episema: ς, Ҁ, Ϡ) - Diese vermehrten Zahlbuchstaben bildeten die Grundlage der alten und am weitesten verbreiteten G. der Griechen. Für die drei eingeschobenen Zahlbuchstaben wurden zunächst drei der gewöhnlichen (δ, ι, ρ) entfernt, und dann wurde nach Art des Atbasch (s. o.) die Ordnung innerhalb der einzelnen Dekaden umgekehrt :
9 8 7 6 5 3 2 1 | 90 80 70 60 50 40 30 20 | 900 800 700 600 500 400 300 200
θ η ζ ς ε γ β α | Ҁ π ο ξ ν μ λ κ | Ϡ ω ψ χ φ υ τ σ
(G.)
α β γ δ ε ζ η θ | ι κ λ μ ν ξ ο π | ρ σ τ υ φ χ ψ ω
nur 3 Buchstaben in der Mitte jeder Dekade (ε, ν, φ ἀμετάβολα) bleiben sich gleich. Es ist also eine recht künstliche G., die nur einmal erfunden und dann vom Meister dem Schüler anvertraut wird; die wir vom 3. Jhdt. n. Chr. verfolgen können bis in die Zeit nach der Eroberung von Konstantinopel. Das älteste Beispiel findet sich in einem Zauberpapyrus (s. Gardthausen Gr. Pal. II2 282), den Wessely mit voller Sicherheit las; da hier dieselben Worte tachygraphisch und kryptographisch wiedergegeben sind:
- κλψҀωξθ πθολν oθηῶ[rc.σ]ν υθϠψҀλν ҀεϠαξ
- ποτ ισμα καλον . λαβω [ ]ν χαρτ ιον ιερα [τικον]
- d. h. Schöner Zauberbecher! Nimm hieratischen Papyrus!
Wo man Griechisch schrieb in Hellas, Unteritalien, Asien und Ägypten wurde diese G. geschrieben und verstanden bis in die späteste Zeit, ich verweise nur auf cod. Paris. 831 vom J. 1541 und cod. Bodl.-Land. 29 vom J. 1593.
14. Diese allgemein verbreitete G. wurde schließlich allzuleicht verstanden und deshalb gelegentlich durch eine noch verzwicktere ersetzt, so entstand die doppelstellige G. der halbierten Zahlen; die mit der oben erwähnten einstelligen nur das gemein hat, daß die Zahlenbuchstaben verwendet werden; aber hier ist die Zahl stets durch ihre Hälften ausgedrückt: κκ 2×20 = 40 = M.; ΛM 30+40 = 70 = O. (s. Gardthausen Gr. Pal. II2 315). Dieses System versagt allerdings im Anfang, denn für die beiden Hälften von A (1) gibt es bei den gewöhnlichen griechischen Zahlen kein Zeichen; aber in einer älteren griechischen Zahlenschrift ist 1/2 = ❰. Jedoch Michael, der Schreiber des cod. Petropol. 71 vom J. 1020 (vgl. Cereteli-Sobolevski Exempla c. Graec. 2 Text p. 8) ist so inkonsequent, statt A vielmehr zu schreiben A A. – Etwas verändert [520] ist ❰ in einem Pariser Codex (s. Gardthausen Gr. Pal. II2 314) durch einen ähnlichen Minuskelbuchstaben wiedergegeben, nämlich z. B. ά δδ' κεκε d. h. Ἀμήν.
15. Eine G. arabischer Zahlen ist in griechischen Hss. sehr jung, da die Byzantiner, solange ihr Reich bestand, sich stets gegen diese fremdartigen Zeichen gesträubt haben; außerdem reichten die 9 einfachen Zeichen nicht aus für 25 Buchstaben; sie erhielten daher einen Punkt für die Zehner, zwei Punkte für die Hunderter: 1 = α; ·9 (× 10) = ι; ¨3 (× 100) = τ.
16. Eine G. byzantinischer Zahlen gemischt mit arabischen ist sehr selten; vgl. Thompson-Lambros Pal. S. 156.
17. Auch die Litterae formatae des lateinischen Abendlandes verwendeten eine G. griechischer Zahlen; so nennt man einen Paß der Geistlichen für die Reise. Nach den Vorschriften des Konzils von Nicaea enthielt er außer dem Text in gewöhnlicher Sprache und Schrift das Formular einer G. die sich nachrechnen ließ: Anfang und [521] Ende war allen Pässen gemeinsam: die Anfangsbuchstaben von πατήρ, υἱος, ἅγιον πνεῦμα in ihrem Zahlenwert addiert (561) und zum Schluß αμην (99); dann in der Mitte den I. Buchstaben vom Namen des Schreibenden, den II. vom Namen des reisenden Geistlichen, den III. vom Namen des Adressaten, den IV. vom Namen des Bestimmungsortes und schließlich zur Bestimmung der Zeit: die Zahl der laufenden Indiktion. Alle diese Einzelposten werden zum Schlusse zu einer Gesammtsumme addiert. Wer einen solchen Reisepaß fälschen wollte, mußte sich vorsehen. Wunderbarerweise kennen wir diese griechische G. nur in lateinischen Texten (s. Gardthausen Gr. Pal. II² 318).
G. wird auch heute noch angewendet im praktischen Leben, namentlich von unseren Diplomaten, aber die moderne ist grundverschieden von der antiken und mittelalterlichen. Die G. des mittelalterlichen Schreibers sollte schwer, aber schließlich doch verständlich sein für seine scharfsinnigen Zunftgenossen; bei der modernen ist es aber die Hauptsache, daß sie den Zunftgenossen unverständlich bleibt (A. Langie Cryptogr. 198: Un système indéchiffrable). Oft wird dieses Ziel erreicht, oft aber auch nicht. Deshalb ziehen unsere Diplomaten es manchmal vor, sich den Schlüssel zu erkaufen und dementsprechend, den eigenen schon nach wenigen Jahren zu wechseln.
Literatur: La Grande Encyclopéd. XIII 531; Encyclopaedia Brit. s. cryptographie. Trithemius Steganographia, Frankf. 1606. Breithaupt Disquisitio ... de variis modis occulte scribendi, Helmstadt 1727. Fleisner Handb. d. Kryptogr., Wien 1881. Jacob La Cryptograph., Paris 1858. Kasiski Geheimschr., Berlin 1863. Langie Cryptogr., Paris 1919. Ruelle La cryptogr. grecque, Mélanges Picot (1913) 288. Gardthausen Gr. Pal. II2 298. Lupi Manuale di pal. 145–152. Wattenbach Anleitung z. latein. Paleogr.4 12–14 Paoli Paleogr. lat. (1888) I 40.
Nachträge und Berichtigungen
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