RE:Excusatio
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Entschuldigungsgrund für die Entbindung von der Übernahme eines Amtes | |||
Band VI,2 (1909) S. 1578–1581 | |||
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Excusatio bedeutet in einem besonderen Sinne den Entschuldigungs- oder Befreiungsgrund, der von der Übernahme irgend eines Amtes entbindet. Hierüber handelt allgemein Dig. L 5 de vacatione et excusatione munerum. Das römische Staatsrecht macht eine Unterscheidung zwischen honores und munera, obwohl beide häufig genug auch zusammen genannt werden, vgl. z. B. Dig. L 4 de muneribus et honoribus. Unter honores werden in älterer Zeit wohl nur diejenigen öffentlichen Ämter verstanden, die in der ehrenvollen Ausübung staatlicher Hoheitsrechte (imperium und iurisdictio) bestanden, also allgemein die magistratus maiores. Die mit der Wahl zu einem solchen Amte verbundene Auszeichnung eines römischen Bürgers verwehrte die Anwendung irgend welches Zwanges zur Übernahme; durch freie Abdikation konnte man sich der Magistratur entledigen. Demnach lag weder Bedürfnis noch Möglichkeit vor, gesetzliche Befreiungsgründe für die Ablehnung der honores aufzustellen. Das geschah vielmehr bei den munera, die zum Teil zwar auch in der Ausübung öffentlich-rechtlicher Befugnisse bestehen, aber zugleich als eine allen Bürgern auferlegte Pflicht erscheinen, z. B. die Pflicht des Kriegsdienstes, des Steuerzahlens, als Geschworener tätig zu sein. Der Übernahme solcher Pflichten darf man sich nur entziehen, wenn einer der gesetzlichen Befreiungsgründe gegeben ist. Diese Befreiungsgründe werden mit e. oder auch vacatio oder immunitas bezeichnet, Ausdrücke, die in den Quellen ziemlich promiscue gebraucht werden. Vgl. Karlowa Röm. Rechtsgesch. I 603f. 6l0f.
Von solchen Befreiungsgründen kommt vor allem das Alter in Betracht; so geben römische Schriftseller als Altersgrenze für Befreiung von negotia publica das zurückgelegte 60. Jahr an (z. B. Varro bei Non. 523. Auct. ad Herenn. II 20. Plin. ep. IV 23, 3. Senec. de brev. vit. 20; ebenso Lex colon. Iul. Genet. c. 98), während in der späteren Kaiserzeit das 70. Jahr genannt wird (vgl. Dig. L 4, 3, 6. 12 [Ulpian]. L 6, 4 [3] [Ulp.]. Cod. X 32 (31), 10 [Diocl. im J. 294]). Die gesetzliche Altersgrenze für den Decurionat ist das vollendete 55. Jahr. Dig. L 2, 2, 8. [1579] Als fernere Gründe werden genannt: Abwesenheit in Geschäften der res publica Romana (Dig. L 5, 4), die Eigenschaft als Veteran (Cod. X 55, 2. 3. VII 64, 9. Dig. XLIX 18, 4. L 5, 7 u. 11 usw.); Betrieb von bestimmten volkswirtschaftlich damals wichtigen Gewerben, so als navicularius, Schiffsherr und Ölhändler, wenigstens für eine bestimmte Frist Befreiung bewirkend (Dig. L 4, 5. 5, 3), so auch die für militärische Bedürfnisse arbeitenden Handwerke (Dig. L 6, 7); in besonderen Fällen konnten noch Befreiungen von munera eintreten auf Grund einer Entscheidung des Provinzialstatthalters nach freiem Ermessen, z. B. wegen Blindheit, Taubheit, Schwäche usw. Dig. L 5, 2, 7. 8. 13 pr. Gegen Heranziehung zu einem munus war, wenn Befreiungsgründe geltend gemacht werden sollten, Appellation binnen bestimmter Frist an den Praeses provinciae vorgeschrieben; bei ungenutztem Ablaufe der Frist trat Verlust des betr. Befreiungsgrundes ein (Dig. L 5, 1 pr.).
Diese Befreiungsgründe erlangen allmählich deswegen eine besondere Bedeutung, weil die Übernahme der munera wegen der damit verbundenen lästigen Dienstleistungen und nicht unbedeutenden Kostenaufwendungen mehr und mehr als eine Last empfunden wurde. So gehörte auch das Richteramt zu den munera publica, zu seiner Übernahme war der an sich Fähige verpflichtet, Suet. Oct. 32. Dig. V 1, 78. L 4, 18, 14. 5, 13, 2. 3. Befreiung von diesem Amte wurde gewährt gemäß den allgemeinen Excusationsgründen oder nur unter bestimmten Voraussetzungen für dieses Amt oder schließlich durch kaiserliches Privileg für eine bestimmte Person. Als spezielle Befreiungsgründe werden angegeben: z. B. höheres Alter, bestimmte Anzahl von lebenden Kindern (gemäß der Lex Iulia iudiciorum privatorum), Zugehörigkeit zu gewissen Ständen usw. Frontin. aquaed. 101. Vat. frg. 194. 197ff. Cic. Phil. V 5 (auf publica iudicia bezüglich). Plin. ep. X 66. Suet. Claud. 15. Lex Acil. repet. 6. Dig. XXVII 1, 6, 8.
Namentlich wird E. von der Ablehnung der Vormundschaft gebraucht. Davon handeln: Vat. frg. 123–248. Paul. sent. II 27. Cod. Theod. III 20. Dig XXVII 1. Cod. Iust. V 62–69; Inst. I 25. Monographien römischer Juristen mit dem Titel de excusationibus sind bekannt von Paulus, Liber singularis de excusationibus tutelarum (Lenel Paling. I 1098f. frg. 850–856), Ulpianus, Lib. sing. de excusat. (Lenel Paling. II 899–903, frg. 1798–1845), und Modestinus, de excusationibus libri VI, griechisch verfaßt unter dem Titel παραίτησις ἐπιτροπῆς καὶ κουρατορίας, besonders provinzielle Verhältnisse berührend (Lenel Paling. I 707–718, frg. 54–69). Einen Kommentar zu Modestins Monographie hat A. Augustin verfaßt und als Anhang zu seinen Emend. et opin. herausgegeben, Lugd. Bat. 1560 p. 222–293. In ältester Zeit scheint überhaupt dieses Ablehnungsrecht unbeschränkt gewesen zu sein, da die tutela zunächst den öffentlichen Bürgerpflichten (munera), z. B. dem Amte eines Iudex, nicht gleichgestellt, sondern mehr als munus privatum angesehen wurde. Ulp. frg. XI 17. Vet. frg. 131. 247. Dig. L 5, 8, 1. 12, 1. L 6, 4 [3]. Als naturgemäß erscheint [1580] es, daß sich das ganze Ablehnungsverfahren zunächst bei der Dativtutel entwickelt hat; hier wird das Bedürfnis, die Übernahme der Vormundschaft eventuell zu erzwingen, besonders hervorgetreten sein. Die Entwicklung dieses Exkusationssystems, ausgehend von der Verwaltungspraxis der Consuln als der Obervormundschaftsbehörde, reicht bis auf Hadrian zurück, vgl. Vat. frg. 222f. 235. 244; eine feste gesetzliche Ordnung ist wohl erst durch Marcus Antoninus bei Einsetzung des praetor tutelaris erfolgt. Vat. frg. 244. Dig. XXVII 1, 6. 19. Rudorff R. d. Vormundsch. II 11f. Pernice Ztschr. d. Sav.-Stift. R. A. V 25f. Mit der Entwicklung der Vormundschaft zu einer causa publica – besonders durch Rückwirkung der Bestimmungen der Lex Atilia und Lex Iulia et Titia über die Ermächtigung von bestimmten Beamten, im Bedürfnisfalle Tutoren zu ernennen – und mit dem Interesse, welches nun der Staat an diesem dem Gemeinwohle dienenden Amte hatte, schließlich auch mit der Schwierigkeit der Vermögensverwaltungen entstanden allmählich feste Grundsätze über das Ablehnungsrecht Karlowa R. Rechtsgesch. II 1, 288f. Leonhard Inst. 241. Derartige gesetzlich normierte Ablehnungsgründe befreien von der Pflicht zur Übernahme einer Vormundschaft oder zur Weiterführung einer bereits übernommenen. Aus der älteren Zeit rühren anscheinend folgende Excusationen her: wegen hohen Alters, und zwar über 70 Jahre, vgl. Symm. ep. I 77. Dig. L 6. 3. XXVII 1, 2, 1 u. 8 pr. L 5, 5 pr.; ferner wegen Abwesenheit in Staatsgeschäften, wenigstens zeitweilige Befreiung bewirkend, vgl. Vat. frg. 135. 222. Dig. XXVII 1, 10 pr. Inst. I 25, 2. Je mehr die Vormundschaft aus einer Familiensache zu einer Staatsangelegenheit und damit die Verpflichtung zur Übernahme dieses Amtes betont wurde, und je mehr auch die Opferwilligkeit zur Ubernahme allgemeiner Bürgerpflichten abnahm, desto zahlreicher wurden auch die Befreiungsgründe, deren rechtliche Anerkennung allmählich im Laufe der Kaiserzeit von der öffentlichen Meinung erzwungen wurde und deren Geltung dann von der Tutel auf die verschiedenen Arten der cura Anwendung fand. Man kann – abgesehen von den bereits erwähnten zwei Gründen – folgende Hauptgruppen unterscheiden:
I. Amt oder Beruf. Bekleidung höherer Magistraturen, bestimmter Priesterämter, Praefecturen; die Senatoren, Militärpersonen und Veteranen; Beruf eines grammaticus (sophista, rhetor, medicus); die Würde gekrönter Athleten. Vat. frg. 135f. 140. 145–147. 150. 160. Dig. XXVII 1, 21. 3. 6, 12. Cod. Theod. VI 21. XIII 3. XIV 9. Cod. Iust. X 52. Inst. I 25, 15. Ferner wurde als Korporationsprivileg Befreiung gewährt den fabri, pistores, mensores, inquilini castrorum usw. Vat. frg. 124. 138. Dig. XXVII 1, 17.
II. Körperliche oder geistige Schwächen, z. B. andauernde Krankheit, Blindheit, rusticitas. Vat. frg. 129. 185. 238. 240. 243. Paul. sent. II 24, 4. 5.
III. Ius liberorum. Und zwar Abstufung: Befreiung für den, der in Rom 3, in Italien 4, in den Provinzen 5 lebende Kinder hat. Hierbei werden Enkel ex filio mortuo für Kinder, im [1581] Kriege gefallene Kinder als lebende gezählt. Vat. frg. 168f. 191. 197f. 247. Dig. XXVII 1, 2, 2–8. Inst. I 25, 1 pr. Cod. Iust. V 66, 1.
IV. Geschäftslast. So namentlich die Verwaltung bereits dreier getrennter Vormundschaften, vgl. Vat. frg. 125ff. Inst. I 25, 5. Cod. V 69; die Vermögensverwaltung für einen Patron senatorischen Ranges durch einen libertus, vgl. Vat. frg. 131; allzu weit entfernter Wohnsitz, Vat. frg. 203ff. Dig. XXVII 1, 21, 2. 46, 2.
V. Persönliches Verhältnis, z. B. inimicitiae capitales mit dem Vater des Mündels, Paul. sent. II 27, 1; Gegnerschaft in einem Streite des Mündels über dessen status oder hereditas paterna, Dig. XXVI 2, 27, 1. Inst. I 25, 4.
Das Zusammentreffen mehrerer unvollständiger Exkusationsgründe gewährt regelmäßig keine Befreiung. Vat. frg. 245. Cod. V 69.
Für das Exkusationsverfahren sind bestimmte Formen und Fristen vorgeschrieben. Die Geltendmachung der e. kann mündlich oder schriftlich, die nähere Ausführung und Begründung des Gesuchs muß schriftlich erfolgen. Die Einreichungsfrist für das Gesuch beträgt 50 Tage für den innerhalb des Gerichtssprengels Wohnenden; für außerhalb Wohnende verlängert sich die Frist in entsprechender Weise. Wird der Ablehnungsgrund nicht rechtzeitig geltend gemacht, so haftet der Vormund für jeden Schaden, der aus der Verzögerung in der Übernahme der Vormundschaft entsteht. Vat. frg. 156. Inst. I 25,16. Dig. XXVI 7, 20. XXVII 1, 17, 2. Vgl. Keller Grundr. z. Vorl. über Inst. 233ff. Rein Privatr. der Römer 522. Puchta-Krüger Inst. 425. Kuntze Exkurse 450f. Salkowski Inst. 189.
E. necessaria [= obrigkeitlicher Ablehnungszwang] lag dann vor, wenn an sich nach ius civile ein spezieller Unfähigkeitsgrund zur Vormundschaft nicht gegeben war, der Praetor aber sofort, da die Notwendigkeit der Ablehnung klar zu Tage lag, einen interimistischen tutor oder curator bestellte; so bei Berufung von furiosi, surdi, muti, caeci und Minderjährigen. Dig. XXVI 1, 17. XXVII 1, 12, 7. 8. Cod. V 68 [67], 1.