RE:Citiergesetz
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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lex, Bezeichnung d. Constitution d. Kaiser Valentinian III. u. Theodosius II. | |||
Band III,2 (1899) S. 2608–2612 | |||
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Citiergesetz ist die wenig zutreffende, aber heute allgemein übliche Bezeichnung der im Cod. Theod. I 4, 3 enthaltenen, an den römischen Senat gerichteten Constitution der Kaiser Valentinian III. und Theodosios II. vom 6. November 426 über die Geltung der Schriften der römischen Juristen vor den Gerichten. Sie bezeichnet sich selbst als Stück eines grösseren Gesetzes (post alia), und von den verschiedenen uns erhaltenen, an demselben Tage und Orte (Ravenna) verabschiedeten und in gleicher Weise adressierten Erlassen (Hänel in d. Ausg. d. Cod. Theod. z. d. St. Krüger 263, 13) mögen diejenigen, welche sich auf die Anwendung der kaiserlichen Constitutionen in der Praxis beziehen (Cod. Iust. I 14, 2. 3. 19, 7. 22, 5) vielleicht ein Ganzes mit unserem Fragment gebildet haben, so dass wir es mit einem die Geltung der Rechtsquellen überhaupt regelnden Gesetze zu thun hätten.
Zum Verständnis unseres Gesetzes ist es nötig, sich die Entwicklung des Juristenrechts in der Kaiserzeit zu vergegenwärtigen. Die bindende Kraft der Responsen der mit dem Jus respondendi begabten Juristen war schon frühzeitig gewohnheitsmässig auf deren in ihren Schriften niedergelegte Ansichten (sententiae et opiniones Gai. I 7) übertragen, und Kaiser Hadrian hatte diesen Zustand in der Weise geordnet, dass er verfügte, die übereinstimmende Lehre der Juristen solle für den Richter massgebend sein, bei Meinungsverschiedenheiten solle er sich dagegen nach eigenem Ermessen der einen oder anderen Ansicht anschliessen (Gai. I 7; Näheres s. im Artikel Ius respondendi). Diese Geltung (die auctoritas prudentium) blieb den sententiae receptae auch, [2609] als seit Diocletian das Jus respondendi nicht mehr verliehen wurde (vgl. den Artikel Innocentius). Die Parteien verlasen bei den gerichtlichen Verhandlungen die Stellen aus den Schriften der patentierten Juristen (und der in Betracht kommenden kaiserlichen Constitutionen), wodurch sie ihren Anspruch zu stützen oder den des Gegners zu Fall zu bringen suchten. Dies recitare wird in unserem Gesetz ausdrücklich erwähnt, begegnet aber auch sonst als etwas ganz regelmässiges; vgl. Paul. sent. V 25, 4. Cons. IV 2. 5. Cod. Iust. VI 61, 5 pr. Iust. Const. Haec 3; Summa 3; Cordi 5; Tanta 22; weitere Nachweise s. bei Mitteis Reichsr. u. Volksrecht 138f. Wilcken Ztschr. d. Sav.-Stfg. XVII 160. Doch ergaben sich allmählich manche Schwierigkeiten für die Praxis: zunächst lag eine solche schon in der Menge der in Betracht kommenden Schriften (copia immensa librorum Const. de Cod. Theod. auct. 1), sodann in der Frage, welche Juristen das Jus respondendi gehabt hatten, denn nur deren Schriften konnten Geltung beanspruchen. Auch die Zuverlässigkeit der vorgelegten Texte liess oft zu wünschen übrig – bei Processen, in denen es sich um Tausende handelte, mochte es sich schon einer Fälschung lohnen –, und schliesslich bot die Litteratur eine unübersehhare Menge von Streitfragen: die Zeiten aber, in denen man vom Richter erwarten durfte, dass er sich hierüber eine eigene Ansicht bilden werde, waren vorüber.
In allen diesen Punkten suchte das C. eine bestimmte Ordnung durchzuführen. Doch bietet seine Auslegung manche Schwierigkeiten. Klar ist zunächst die Art der Regelung der Controversen: die Stimmen der dem Gericht vorliegenden Juristen, welche sich in ihren Schriften über die betreffende Rechtsfrage aussprachen, sollten gezählt werden und die Ansicht der Mehrheit sollte gelten; bei Stimmengleichheit sollte Papinian, wenn er sich unter den vorgelegten Juristen befand, den Ausschlag geben, andernfalls der Richter freie Hand haben. Den Noten des Paulus und Ulpian zu Papinians Schriften (vgl. Bd. I S. 575) wurde einem älteren Gesetze des Constantin vom J. 321 (Cod. Theod. I 4. 3) entsprechend die Geltung versagt. Schliesslich wurde verfügt, dass des Paulus Sententiae immer massgebend sein sollten, so dass also, wenn sich in diesem Werke eine Äusserung über die betreffende Frage fand, überhaupt keine Stimmzählung vorgenommen wurde (vgl. den Art. Iulius Paulus).
Die Frage, welche Juristen bei der Stimmzählung in Betracht kommen sollten, wurde folgendermassen geregelt: Zunächst sollten alle Schriften des Papinian, Paulus, Gaius, Ulpian und Modestin Geltung haben: Papiniani Pauli Gaii Ulpiani atque Modestini scripta universa firmamus ita, ut Gaium quae Paulum Ulpianum et cunctos comitetur auctoritas, lectionesque ex omni eius opere recitentur. Dann folgen die Worte: Eorum quoque scientiam quorum tractatus (hierbei scheint an Überarbeitungen früherer Juristen durch die Vorhergenannten, z. B. der libri posteriores des Labeo durch Iavolenus, oder seiner πιθανά durch Paulus [Vgl. Bd. I S. 2551ff.] gedacht zu sein) atque sententias (gelegentliche Citate) praedicti omnes suis operibus miscuerunt ratam esse censemus ut Scaevolae Sabini Iuliani [2610] atque Marcelli omniumque quos illi (die Citierenden: Papinian u. s. w.) celebrarunt, si tamen eorum (der Citierten: Scaevola u. s. w.) libri propter antiquitatis incertum codicum collatione firmentur. Die Kaiser wollen augenscheinlich die Juristen zur Stimmzählung zulassen, welche das Jus respondendi besessen haben. Dass ihre Worte diesen Sinn haben, zeigt deutlich die entsprechende Vorschrift Iustinians an die Compilatoren seiner Digesten (Const. Deo 4): Iubemus igitur vobis antiquorum prudentium, quibus auctoritatem conscribendarum interpretandarumque legum sacratissimi principes praebuerunt, libros ad ius Romanum pertinentes et legere et elimare, ut ex his omnis materia colligatur ... Quia autem et alii (d. h. solche, die kein Jus respondendi hatten) libros ad ius pertinentes scripserunt, quorum scripturae a nullis auctoribus receptae nec usitatae sunt, neque nos eorum volumina nostram inquietare dignamur sanctionem. Und dem entsprechend heisst es in dem Einführungsgesetz zu den Digesten (Const. Δέδωκεν [der griechische Text spricht noch deutlicher als der lateinische] 20): Νομοθέτας δὲ ἤτοι νόμων ἑρμηνευτὰς ἐκείνους ἠθροίσαμεν οἳ παρὰ πᾶσιν δεδοκιμασμένοι καθεστᾶσιν καὶ τοὺς ἔμπροσθεν ἀρέσαντες αὐτοκράτορας καὶ τῆς παρ’ ἐκείνων τυχόντες μνήμης · εἰ γάρ τις τῶν οὐχὶ τοῖς παλαιοῖς νομοθέταις γνωριζωμένων ἐστίν, τούτῳ δὲ τῆς πρὸς τοῦτο τὸ βιβλίον μετουσίας ἀπηγορεύσαμεν · πᾶσιν γε μὴν τοῖς ἐνταῦθα κειμένοις μίαν τάξιν τε καὶ ἀξίαν δεδώκαμεν, οὐδενὶ μείζονος αὐθεντίας παρὰ τὸν ἕτερον φιλοτιμηθείσης; dass hiermit auf das C. hingewiesen wird, ist zweifellos. Die Worte der Const. Deo 4 quorum scripturae a nullis auctoribus receptae nec usitatae sunt enthalten den Schlüssel für das Verständnis der obigen Stelle des C. Man nahm an, dass die Juristen mit Jus respondendi (iuris auctores, νομωθέται) nur solche Juristen citiert hätten, die ebenfalls das Jus respondendi besessen hätten. Von Papinian, Paulus, Gaius, Ulpian und Modestin stand es fest oder wurde es als feststehend angenommen (vgl. den Art. Gaius), dass sie jenes Privileg gehabt hatten. Demgemäss bestimmten die Kaiser, dass ausser diesen fünf Koryphaeen die Schriften derjenigen Juristen vor Gericht Geltung haben sollten, welche bei jenen angeführt wurden. Nicht aber enthalten ihre Worte – wie oft behauptet ist – eine Beschränkung auf die bei den Koryphaeen vorkommenden Stellen der übrigen Juristen; eine Auslegung, welche übrigens auch durch den Schluss des Satzes ausgeschlossen ist: Die scientia der Citierten soll massgebend sein si tamen eorum libri ... codicum collatione confirmentur. Eorum libri können nur die Originaltexte der Citierten (Iulian u. s. w.) sein, grammatisch ist keine andere Erklärung möglich. Von Papinian, Paulus, Gaius, Ulpian und Modestin hatte man jedenfalls feststehende Texte bei den Gerichten zur Hand, oder man benützte sie aus Sammlungen, wie die vaticanischen Fragmente und die Collatio, deren Citate als authentisch gegolten zu haben scheinen. Von den übrigen aber waren ohne Zweifel die Originaltexte viel seltener, und in jenen Sammlungen werden sie nicht excerpiert (höchstens Vat. frg. 90–93 könnte Zweifel erregen, wäre dann aber eine vereinzelte Ausnahme). [2611] Überhaupt scheint ihre Heranziehung in der Praxis recht selten vorgekommen zu sein (vielleicht liegt eine solche den Constitutionen Iustinians im Cod. VI 61, 5. VII 7, 1. VIII 47, 10 pr. zu grunde; indessen ist auch möglich, dass diese Entscheidungen sich nicht aus der Praxis, sondern bei Gelegenheit der Revision der juristischen Streitfragen durch den Kaiser ergaben; und das letztere dürfte auch bei den sonstigen Erwähnungen von Juristen ausser den Koryphaeen im Cod. Iust. der Fall sein; vgl. II 18, 24. III 33. 15, 1. IV 5, 10 [hier sind die Citate des Marcian, Celsus, Iulian aus Ulpian und Papinian entnommen], V 70, 7, 1. VI 26, 10 [Sabinus sicher aus zweiter Hand]. VI 29, 3 [Sabiniani ebenso], sämtlich aus den J. 530–531). Dass die Compilatoren Iustinians bei der Abfassung der Digesten ihren Kreis sehr viel weiter zogen, wird uns als eine ganz besondere, der bisherigen Praxis widersprechende wissenschaftliche That bezeichnet (Const. Tanta 17. 18: Homines etenim qui antea lites agebant, licet multae leges fuerant positae, tamen ex paucis lites perferebant vel propter inopiam librorum ... vel propter ipsam inscientiam ... In praesenti autem consummatione nostrorum digestorum e tantis leges collectae sunt voluminibus, quorum et nomina antiquiores homines – non dicimus nesciebant, sed – nec unquam audiebant. So erklärt es sich, dass die Kaiser im C. befahlen, die vorgelegten Texte der Juristen ausser den Koryphaeen müssten durch Vergleichung mit zuverlässigen Exemplaren (etwa mit solchen, die bei höheren Gerichten, auf den Rechtsschulen oder in grösseren Bibliotheken vorhanden waren) sicher gestellt werden.
Aus unserer Auffassung des C. ergiebt sich, dass aus den Texten der Koryphaeen immer nur deren eigene Meinung entnommen werden konnte, mit andern Worten, dass wenn beispielsweise Ulpian den Labeo für und den Iulian und Pomponius gegen seine Meinung anführte, nicht zwei gegen zwei, sondern nur die eine Stimme des Ulpian gezählt wurde, dass die abweichenden Äusserungen nur dann in Betracht kommen konnten, wenn sie in den sichergestellten Texten des Iulian und Pomponius selbst nachgewiesen wurden. Selbstverständlich ist dabei einerseits, dass wenn Ulpian die Meinung des Iulian als die seinige vortrug (Iulianus ait, gleichviel ob mit oder ohne den Zusatz hoc verum puto dgl.), sie auch als solche gerechnet wurde, und andererseits, dass die Parteien nicht auf solche Aussprüche des Iulian u. s. w., welche bei den Koryphaeen referiert waren, beschränkt sein sollten; nur für die Frage, ob jene Juristen überhaupt Geltung beanspruchen konnten, nicht für ihren Inhalt waren die Citate der Koryphaeen massgebend. Die Kaiser wollten also nicht – und wahrscheinlich traten sie damit einem in der Praxis vorkommenden Missbrauch entgegen –, dass man die Meinungen der Koryphaeen aus den von ihnen selbst citierten abweichenden Aussprüchen anderer Juristen widerlege, wie sie ja auch vorgeschrieben hatten, dass die Noten der Späteren zu Papinian (zu den übrigen Koryphaeen finden sich keine) ausser Betracht bleiben sollten. Eine Bestätigung findet diese Auffassung durch die Digesten Iustinians: dieser Kaiser versichert uns, dass sich in seinem [2612] Werke keine widersprechenden Ansichten fänden (Const. Deo 8: Tanta 10. 15); die innerhalb der Excerpte in grosser Zahl anzutreffenden Controversen kann er also nicht als einen Widerspruch angesehen haben. Wenn man es für unschädlich hielt, sie aufzunehmen, so liegt der Gedanke nahe, dass die Praxis sie auch bisher, d. h. auf Grund des C., nicht berücksichtigte, mit andern Worten dass man aus den Stellen der Koryphaeen immer nur deren eigene Meinung entnahm. Die Vorschrift aber, dass Iulian u. s. w. nur in ihren beglaubigten Originaltexten vorgelegt werden durften, hatte den Zweck, die Controversen nach Möglichkeit zu vermindern, denn bei der Seltenheit der älteren Werke war deren Herbeischaffung mit grossen Schwierigkeiten verbunden.
Das C. ist 107 Jahre in Geltung geblieben – über einen Plan seiner Beseitigung s. d. Art. Codex Theodosianus –; wir finden es am Ende des 5. Jhdts. in der sog. Consultatio (7, 3) erwähnt, und häufig wird in den Einführungspatenten zu den Digesten Iustinians darauf hingewiesen (Const. Deo 5. 6; Tanta 10. 17. 19. 20). Mit dem Beginn der Gesetzeskraft der Digesten (30. Dec. 533) trat es ausser Kraft.
Neuere Litteratur: Zimmern Gesch. d. röm. Priv.-R. I 214ff. Puchta Rh. Mus. f. Jurispr. V 141ff. VI 87ff. (= Kl. jur. Schr. 284ff.); Inst. I § 134. Huschke Ztschr. f. gesch. R.-W. XIII 17ff. Sanio Rechtshist. Abh. 1ff. Rudorff R. R.-G. I 202ff. Dernburg Inst. d. Gaius 107ff. Karlowa R. R.-G. I 932ff. Krüger Quellen u. Litt. d. R. R. 262ff. Kipp Quellenkunde d. R. R. 92f. Padeletti-Cogliolo Stor. d. dir Rom.² 634f. Landucci Stor. d. dir. Rom. I² 255f.
Nachträge und Berichtigungen
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Band S III (1918) S. 252 | |||
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- S. 2608 zum Art. Citiergesetz:
Vgl. darüber auch Berger Art. Iurisprudentia o. Bd. X.
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Band R (1980) S. 84 | |||
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Citiergesetz, vgl. Iurisprudentia (X 1159).