RE:Brief
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Mittel d. Nachrichtenmitteilung, Kommunikation, Unterhaltung u. Lehre | |||
Band III,1 (1897) S. 836–843 | |||
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Brief, griechisch γράμματα, γραμμάτιον, σύγγραμμα, oder (vom Material) δέλτος, δέλτιον u. s. w., oder (mit der Nebenbedeutung des Förmlichen, daher auch als Litteraturwerk) ἐπιστολή, ἐπιστόλιον; lateinisch litterae, tabulae, tabellae, epistula; im Zusammenhang auch πίναξ, βίβλιον und ähnlich charta, codicilli, libellus. Er enthält an Entfernte gerichtete schriftliche Aufträge und Nachrichten zum Ersatz mündlicher Mitteilungen durch Boten und beschränkte sich in ältester Zeit natürlich auf Fälle, wo die mündliche Botschaft nicht auszureichen schien. Nächst den Aufzeichnungen zur Unterstützung des eigenen Gedächtnisses zeigte sich im B. wohl die früheste Verwendung der Schreibkunst für private Zwecke; bei den Griechen betrifft sogar die Stelle, welche zuerst Kenntnis der Schrift verrät, einen B. (Hom. Il. VI 168ff. in der Bellerophonepisode). Dieser war so geschrieben, wie man vermutlich B. bei Phoinikern gesehen hatte, auf zusammengelegten Holztafeln (ἐν πίνακι πτυκτῷ), also bereits in der Form, welche zum Teil und mit unwesentlichen Änderungen die B. bis zum Ausgang des Altertums beibehalten haben. Bei den Ägyptern spielte das B.-Wesen eine sehr grosse Rolle (s. Ad. Erman Ägypten 165ff. 653f.) und war offenbar sehr alt. In Keilschrift sind viele B. erhalten (vgl. Frd. Delitzsch Zur assyr.-babyl. Brieflitt., Beiträge z. Assyr. I 185ff. und II 19ff. Br. Meissner Altbab. Briefe, ebd. II 557ff.). Im Alten Testament betrifft die früheste Erwähnung eines B., nämlich Davids an Joab wegen des Urias (Sam. II 11, 14f.), einen ähnlichen Fall wie der bei Homer a. O. Neben der geschlossenen Form des B., welche in jenem ersten Falle schon durch den Inhalt gefordert war, wurden in alter Zeit kurze Nachrichten für Entfernte den Boten in den Bast ihres Wanderstockes (σκυτάλη) geschnitten zur Ergänzung und Sicherung des ihnen mündlich gewordenen Auftrages (s. K. Dziatzko Zwei Beiträge z. Kenntn. d. ant. Buchwesens [1892] [837] 5ff.). Aus dieser Sitte hat sich in Sparta die besondere Art der Geheimcorrespondenz entwickelt, die aus Plut. Lys. 19. Gell. XVII 9, 6ff. u. a. St. bekannt ist (s. Dziatzko a. O. 5). Die Hauptform der B. wurde indes zunächst die der zusammengelegten Holztäfelchen (s. o.; auch diptycha, triptycha, polyptycha genannt), deren innere vertiefte Seite mit Wachs überzogen war (s. Diptychon, Schreibtafel). Sie wurden mit einem Faden umwickelt und zugebunden (συνδεῖν, obligare) und die Enden gesiegelt (κατασημαίνεσθαι, σφραγίζειν, signare, con- oder obsignare) mittels der in Wachs (μάλθα, att. ῥύπος), Thon, Pech (Plaut. Poen. 837) oder Siegelerde (creta asiatica) eingedrückten σφραγίς (δακτύλιος, sigillum, anulus) des Absenders, dessen Bild sich häufig auf dem Siegel befand (Plaut. Ps. 56. Ovid. ex P. II 10, 1f.; vgl. Cic. Cat. III 10). Als neben dem Holz das billigere Papier von der Byblospflanze aufkam, welches auch die Schrift sicherer und lesbarer bewahrte, wurde dieses bald vorzugsweise als Material für B. verwendet (bei Herodot steht meist schon βίβλιον für B., I 123, 4 u. s. oft, δελτίον VII 239, 4); es wurde in gleicher Weise behandelt (s. V. Gardthausen Griech. Pal. 54ff.), indem das Chartablatt gefaltet oder gerollt und in der Mitte mit einem Faden umschnürt wurde; Abbildungen s. Mus. Borb. XIV tav. A. B (= Niccolini Le case di Pomp. I, casa di Lucr. tav. 1 n. 4. Not. et extr. XVIII 2 pl. 46. Mon. d. Inst. IV 21). Dass für B. regelmässig βίβλιον (βιβλίδιον), nicht βίβλος, gesagt wurde, ist bei dem geringen Umfang der B. natürlich (s. Th. Birt D. ant. Buchw. 20f.). Die Holztäfelchen blieben auf den B.-Wechsel über geringfügige Dinge zwischen nahen Angehörigen und intimen Bekannten beschränkt und wanderten in der Regel vom Empfänger an den Schreiber mit der Antwort zurück; vgl. z. B. Prop. IV 23, 1ff. Ergo tam doctae nobis periere tabellae … has quondam nostris manibus detriverat usus. Fest. 359 tabellis pro chartis utebantur antiqui, quibus ultro citro, sive privatim sive, publice opus erat, certiores absentes faciebant. Augustin. ep. 15, 1 = vol. II p. 19 Maur. sed tabellas, si quae ibi nostrae sunt, propter huiusmodi necessitates mittas peto). Für amtliche Zwecke scheinen gerade tabellae als B. sich lange im Gebrauch erhalten zu haben (z. B. Cic. Cat. III 10). Von ihnen hatten der tabellarius, B.-Bote (s. u.) und die naves tabellariae, Postschiffe (Sen. ep. 77, 1) ihren Namen. Doch war charta für B., die man in den Händen der Adressaten lassen wollte, auch bei den Römern frühzeitig das gewöhnliche; s. z. B. Cic. ep. VII 18, 2. Catull. 35, 2. Ovid. trist. IV 7, 7. Plin. n. h. XIII 88 (cur… Homerus… Bellerophonti codicillos datos, non epistulas tradiderit?, vgl. auch Marquardt-Mau Pr.-Leben I² 811, 3). In der Kaiserzeit war für B. der Vornehmen eine besonders feine Sorte des Papiers im Gebrauch (Plin. n. h. XIII 80 Augustae in epistulis auctoritas relicta), die für vielbenutzte Bücher zu dünn war. Charta epistolaris ist auch bei Mart. XIV 11 genannt. Pergament, bezw. Leder (διφθέρα) war für B. durchaus ausser Gebrauch (vgl. Birt a. O. 61f., der auch den von Jos. ant. XII 55ff. erwähnten Brief Eleazars an Ptolemaios Philadelphos [838] nicht ausnehmen durfte); jedoch von dem der Inder an Augustus wird das Gegenteil berichtet (Strab. XV 719). Es war für den vorübergehenden Gebrauch zu dauerhaft und in der Regel wohl nicht ansehnlich genug, konnte auch nicht massenhaft produciert werden. Erst gegen Ausgang des Altertums fing man in theologischen Kreisen an, sich über diese Sitte wegzusetzen, wenn Charta fehlte; vgl. Hier. ep. VII 2 (op. I 1 col. 18 Vall.: chartam defuisse non puto…, ut penuria chartae pellibus pensaretur) und Augustin. ep. 15, 1 (op. II 19 Maur.: non haec epistola sic inopiam chartae indicat, ut membranas saltem abundare testetur… tu enim huic pelliculae facilius ignosces). Der Faden, welcher zum Verschluss diente, wurde zuweilen der grösseren Vorsicht halber durch das gerollte Papier hindurchgezogen, bevor man ihn umwickelte (Front. ad M. Caes. I 8 p. 24 Nab. versus… ita remisi: chartam diligenter lino transui et ita linum obsignavi, ne musculus iste aliquid aliqua rimari possit). Die tabellae scheinen unter Umständen für diesen Zweck bereits in der Mitte durchlöchert gewesen zu sein, vgl. in Mus. Borb. XIV tav. 31 und tav. A. B die offenen Diptycha. Gleichwohl wussten geschickte Fälscher alle Sicherheitsmassregeln zu vereiteln (Lucian. Alex. 19ff.). Häufig bediente man sich auch der Sicherheit halber einer verabredeten Geheimschrift (s. C. Iul. Vict. Rhet. lat. min. p. 448). Bei raschem und häufigem B.-Verkehr, der überdies nicht besondere Vorsicht erheischte, unterblieb auch die Siegelung (Prop. IV 23, 3f. usus, qui non signatas [tabellas] iussit habere fidem).
Gleich den Urkunden waren die B., anders als Bücher, in der Regel über die Breite des ganzen Blattes (transversa charta) geschrieben; Caesar soll nach Suet. Caes. 56 zuerst seinen B. (epistulae) an den Senat in Bezug auf Columneneinteilung das Aussehen von Bücherrollen gegeben haben (ad paginas et formam memorialis libelli), was aber natürlich nur bei umfangreichen B. geschehen konnte. Die Aussenseite des geschlossenen B. trug, wenn sie nicht leer blieb, entweder nur den Namen des Adressaten im Dativ, selten mit dem des Bestimmungsortes; z. B. Griech. Urk. d. Berlin. Mus. I (1895) nr. 33 Ἀπολλωνίῳ ✕ τῷ υἱῷ (vgl. nr. 246. 248². 326³. 332). nr. 37 Στοτόητι Λεσώνῃ εἰς τὴν νῆσον τ…; vgl. Cic. ad Att. VΙΙI 5, 2 fasciculum qui est M’ Curio inscriptus. Oder es findet sich daneben auch der Name des Absenders, mit παρά, ἀπό, ab und Ähnlichem eingeführt; z. B. Gr. Urk. I nr. 27 Ἀπολιναρί(ωι?) ✕ ἀπὸ Εἰρηναίου ἀδελφοῦ. nr. 93 Ἀβοῦτι οὐετρανῷ χ(αίρειν) π(αρὰ) Πτολ(εμαίου) υἱοῦ (vgl. nr. 261² 276. 351); s. auch Plut. Dio 31 und vgl. Gardthausen a. O. 56. Dass dies aber die Ausnahme war, zeigt z. B. Ovid. trist. IV 7, 7f. (a, quotiens alicui chartae sua vincula dempsi, illam speravi nomen habere tuum!).
Der Inhalt der eigentlichen B. entsprach wie noch heute dem, was räumlich nahe Personen sich mündlich zu sagen haben; nur lässt die Wahl des umständlichen schriftlichen Weges eine gewisse Wichtigkeit voraussetzen, die vom Schreibenden dem Inhalt beigelegt wird. Da mit dem B. jemand den andern gewissermaßen aufsucht und ihn nach erfolgter Aussprache wieder verlässt, [839] so ergiebt sich daraus die Form der Abfassung eines B. von selbst: er beginnt und schliesst mit einem Grusse; der erstere ist zugleich, da die persönliche Erkennung fehlt, stets mit der Nennung der Namen verbunden. Der Name des Schreibers im Nominativ und der des Adressaten im Dativ, ausnahmsweise auch in umgekehrter Folge (der Schreiber im Nominativ oder mit παρὰ im Genetiv), sind durch die Grussformel χαίρειν, πολλὰ oder πλεῖστα χαίρειν, εὖ πράττειν und ähnliche (zu ergänzen λέγει oder λέγουσιν), lat. salutem (mit oder ohne plurimam) dicit, abgekürzt S. D. (oder S. P. D.), verbunden. Letzteres tritt meist zwischen die beiden Namen, das einfache Sal. oder S. (ohne dicit) steht aber hinter dem Dativ; übrigens scheint selbst dieses Wort unter nahen Bekannten mitunter zu fehlen. Der Name des Adressaten ist um so ausführlicher, d. h. förmlicher, behandelt, je weniger dieser dem B.-Schreiber persönlich nahesteht; z. B. Gr. Urk. Berl. I nr. 2 Ἀπολλοφάνι [τ]ῷ καὶ Σαραπαμμῶνι στρ(ατηγῷ) Ἀρσι(νοΐτου) Ἡρ(ακλείδου) μ[ε]ρίδος παρὰ Ἑριεῦτος u. s. w.; lat. M. Cicero imp. s. d. M. Caelio aedili cur. (Cic. fam. II 12), Cicero Attico sal. (Cic. ad Att. I 1). In förmlichen B. schliessen sich weitere Höflichkeitswendungen an, die ursprünglich Ausdruck der Herzlichkeit waren; z. B. Gr. Urk. Berl. I nr. 27 …καὶ διὰ π[α]ντὸς εὔχομαί σε ὑγιένεν καὶ [ἐγὼ?] αὐτὸς ὑγιένω; lateinisch S. v. b. e. e. v. (Si vales, bene est; ego valeo) und Ähnliches. Am Ende des B. kehrt in der Regel ein Abschiedsgruss wieder: griechisch εὐτύχει, ἔῤῥωσο, ἐῤῥῶσθαί σε εὔχομαι, bezw. der Plural; lateinisch vale, cura ut valeas, tu me diliges et valebis (Cic. fam. IX 22), etiam atque etiam vale (ebd. IX 24) und Ähnliches; Ovid. tr. V 13, 33f. quo semper finitur epistula verbo… vale; vgl. auch Gardthausen a. O. 365f. Doch fehlen diese Formeln oft auch, wenigstens in den Hs. Zuletzt kommt, zumal in wichtigeren und förmlichen B., die Angabe der Zeit (d. = dabam…) und des Ortes (ex …), wann und von wo der B. abgegangen sei.
Vielbeschäftigte Personen, namentlich solche in öffentlicher Stellung, und Behörden liessen ihre Correspondenz ganz oder zum Teil durch Sclaven oder Freigelassene besorgen: ἀπ ἐπιστολῶν, ἐπιστολογράφος, ἐπιστολεύς, ab epistulis, a litteris und Ähnliches; ἐπιστολογράφος war in Ägypten der Name eines hohen Hofamtes (s. Am. Peyron Pap. gr. I, Turin 1826, 63f. und G. Ad. Deissmann Bibelstudien [1895] 212, 7). Der Apostel Paulus fügte ad Kol. 4, 18 seinem Hirten-B. wenigstens einen eigenhändigen Gruss bei (ὁ ἀσπασμὸς τῇ ἐμῇ χειρὶ Παύλου κτλ.), wobei an die Regel des C. Iulius Victor (Rh. lat. min. p. 448 Halm) zu erinnern ist: Observabant veteres karissimis sua manu scribere vel plurimum subscribere. Die Beförderung der B., die man, wenn es mehrere waren, in Bündel (fasciculi) mit Aufschriften vereinigte (vgl. Cic. ad Att. VIII 5, 2), erfolgte zunächst durch eigene Sclaven der Absender (servus a pedibus Cic. ad Att. VIII 5, 1; tabellarius Cic. Phil. II 71; ad Att. IX 12, 1 und sonst oft; epistolarius Salv. de gubern. V 30; griechisch γραμματοφόρος, ἐπιστολιαφόρος oder ἐπιστοληφόρος; gelegentlich celeripes [Schnellläufer] bei Cic. ad Att. IX 7, 1 zur Besorgung von B.). Oder [840] man gab sie Bekannten oder Kaufleuten zur Weitergabe mit. Besondere Posteinrichtungen wurden erst in der Kaiserzeit, getroffen (s. Post).
Über die B. als Litteraturgattung vgl. besonders Ant. Westermann De epistolarum scriptor. graecis p. I–VIII, Lips. 1851ff. J. F. Marcks Symbola crit. ad epistolographos gr., Bonn 1883. Frz. Susemihl Gesch. d. gr. Litt, in d. Alex.-Zeit II (1892) 579ff. G. Ad. Deissmann a. O. 187ff. (Prolegomena zu den biblischen Briefen u. Episteln). C. Czwalina De epist. actorumque, quae a script. h. Aug. proferuntur, fide atque auct. p. I, Bonn 1870. Teuffel-Schwabe Gesch. d. röm. Litt.⁵ (1890) § 46; und im allgemeinen W. Ad. Becker Gallus II³ (1863) 392ff. Marquardt-Mau Priv.-Leb. I² (1886) 811.
Ursprünglich gab es natürlich nur eigentliche B., irgend einem Bedürfnis des wirklichen Lebens dienend. Sie kann man in Privat-B. und öffentliche B. einteilen, beide Arten ohne Zweifel sehr alt (auch Cic. p. Flacc. 37 unterscheidet publicae und privatae litterae; C. Iul. Vict. a. O. p. 447 epistulae negotiales und familiares). Obwohl die ersteren der Zahl nach jederzeit weitaus überwiegen, sind von ihnen, da die B.-Empfänger in der Regel nur kurze Zeit einen Grund haben konnten, sie aufzubewahren, zum Teil nur zufällig Proben erhalten in den aus dem Schutt Ägyptens ausgegrabenen zahlreichen Papyrusresten, vorwiegend in griechischer, koptischer oder arabischer Sprache. Sie sind zerstreut in den grossen Museen und in Privatsammlungen und werden von diesen mit Auswahl veröffentlicht; zu vgl. besonders: Papyri gr. r. Taurin. mus. ed. Am. Peyron I (1826). Papyri gr.-eg. ed. G. Petrettini (Vienna 1826). Papyri gr. ed. Leemanns 2 Bde. (Lugd. Bat. 1843-85). Greek pap. in the Brit. Mus. Cat. w. texts ed. F. G. Kenyon; Facsim. (London 1893). Ägypt. Urkunden aus d. K. Mus. zu Berlin. Griech. Urk. I. II (1895f.). Corpus papyr. Raineri, vol. II (Kopt.), Wien 1895. Die Reste der griechischen B. reichen bis ins 3. Jhdt. v. Chr. zurück, stammen vielfach von Leuten geringen Standes und bieten, wie alle eigentlichen Privat B. einer vergangenen Zeit, grosses kulturhistorisches, auch sprachliches Interesse. Trotz der Dürftigkeit ihres Inhalts und aller Unebenheiten in Ausdruck und Rechtschreibung haben sie den Vorzug, unmittelbaren Einblick in das Innere längst verstorbener Menschen zu gestatten, die Kenntnis lebender Personen alter Zeiten gewissermassen zu ersetzen (Demetr. de eloc. 227 p. 13 Herch. σχεδὸν γὰρ εἰκόνα ἕκαστος τῆς ἑαυτοῦ ψυχῆς γράφει τὴν ἐπιστολήν· καὶ ἔστι μὲν καὶ ἐξ ἄλλου λόγου παντὸς ἰδεῖν τὸ ἦθος τοῦ γράφοντος, ἐξ οὐδενὸς δὲ οὕτως ὡς ἐπιστολῆς). Rührten solche eigentliche B. von bedeutenden Persönlichkeiten her, namentlich solchen, die auf geistigem Gebiete oder wegen ihrer hohen Stellung im Leben allgemeines Ansehen genossen, so kamen die Adressaten leicht dazu, die B. zu sammeln, aufzubewahren und zu vererben. Im Original oder in Abschriften wurden sie zunächst im Freundeskreise weiter verbreitet und auf diesem Wege selbst zu einem wertvollen Bestandteil der Litteratur. Berichtet wird aus der griechischen Litteratur von verschiedenen solcher B.-Sammlungen. die ihrer Zeit eine Rolle spielten, z. B. von den B. des Aristoteles (s. Susemihl [841] II 580, 17), indes hat sich aus der älteren Zeit nur wenig sicher oder wahrscheinlich Echtes erhalten. Echt sind wohl mehrere B. des Isokrates (vgl. v. Wilamowitz Arist. u. Athen II 391ff.); weiteres bei Susemihl a. O.; auch A. M. Zumetikos De Alexandri Olympiadisque epistul. font. et reliq., Berol. 1894. Im Lateinischen haben wir vor allem Ciceros epist. famil. (16 B.), ad Quint. fratrem (3 B.), ad Brutum (2 B.) und ad Atticum (16 B.). Letztere kannte Nepos (Att. 16, 3) noch unveröffentlicht in 11 volumina im Original (s. Fr. Leo Misc. Cic., Götting. 1892, 3ff. und Nachr. Gött. Ges. 1895, 442ff.) oder vielleicht in einer Privatabschrift; er lobte sie als vorzügliche Quelle der Zeitgeschichte. Erst viel später, aber vor Sen. suas. I 5, wurden sie veröffentlicht. Das Recht dazu hatte der Empfänger ohne Zweifel, insofern das dominium über den B. auf ihn überging, falls der Schreiber es sich nicht ausdrücklich vorbehalten hatte (s. Dziatzko Rh. Mus. XLIX 574). Richtig wird von Demetr. de eloc. 224 (p. 13 Herch.) der B. ,gewissermassen‘ als ,Geschenk‘ bezeichnet, und Cicero Phil. II 7 verurteilt die Veröffentlichung vertraulicher Privat-B. nur als schweren Verstoss gegen den Anstand (vgl. J. Kohler Jherings Jahrb. f. Dogm. XVIII 272). Sicher ist aber auch, dass der Autor selbst unter Umständen die Herausgabe eigener B. besorgte (vgl. R. Graefenhain De more libr. dedic., Marburg 1892, 39f.). Festzuhalten ist jedenfalls bei der letztbezeichneten Art von B., dass ihre Schreiber wohl häufig von vorn herein, was bei den meisten B. Ciceros an Atticus freilich nicht gilt, mit der Möglichkeit rechneten, ihre B. würden weitergegeben werden, und dass sie deshalb weniger frei sich aussprachen (Cic. fam. XV 21, 4 aliter enim scribimus quod eos solos quibus mittimus, aliter quod multos lecturos putamus). Von Ciceros epist. ad famil. ist dies wenigstens zum Teil anzunehmen. Deshalb ist auch bei den an eine Mehrzahl von Personen gerichteten B., selbst wenn sie eigentliche B., auf Grund bestimmter Anlässe geschrieben und nur für die Adressaten bestimmt sind, zuzugeben, dass sie, je nach der Individualität des Schreibers, mehr das für die Mehrheit Bedeutungsvolle hervorheben und von der Unbefangenheit des reinen Privat-B. einbüssen. Das Interesse, das solche Privat- oder Gemeinde-B. bei Lebzeiten und noch nach dem Tode ihrer Schreiber erregten, führte dazu, gefälschte B. ihnen unterzuschieben oder beizumischen; auch zur Übung wurden B. berühmter Männer mit fingierten Anlässen in Rhetorenschulen angefertigt und gelangten später zum Teil in die Reihe der echten. Da bei diesen der litterarische Zweck von Anfang an feststeht, fallen sie im Grunde nicht unter den Begriff der eigentlichen B., die ja stets aus dem bestimmten Bedürfnis einer Aussprache gegen Abwesende hervorgehen, sondern mehr unter den der litterarischen Epistel (s. später). Beispiele sind die B. des Phalaris, deren Unechtheit R. Bentley erwiesen hat (Diss. up. the epist. of Phal. 1699; deutsch von W. Ribbeck 1857). Eine der ältesten historischen Personen, welcher man bei den Griechen B. unterschob, scheint Atossa gewesen zu sein; wenigstens wird sie von Hellanikos als Erfinderin der B. genannt bei Tatian. c. [842] Graec. c. 1 und Clem. Alex. strom. I 16. Die erhaltenen griechischen B.-Sammlungen sind zuletzt herausgegeben von R. Hercher Epistolographi gr. (Paris 1873); besprochen sind die älteren von Susemihl II 579ff.
Die eigentlichen B. öffentlichen Charakters, die als Gattung sehr alt sind, erfuhren wegen ihres urkundlichen Wertes, den sie häufig in mehr oder weniger wichtigen Angelegenheiten hatten, frühzeitig dauernde Aufbewahrung in Privathänden oder an öffentlichen sicheren Stellen, namentlich in Archiven (s. d.) und Bibliotheken (s. o. S. 423). Sie gewannen dadurch historische, wenn auch nicht notwendig litterarische Bedeutung. Auch solche B. wurden früh untergeschoben, entweder als angebliche Beweisstücke in öffentlichen Angelegenheiten oder von Geschichtschreibern und Rednern zur Beleuchtung und Belebung ihrer Erzählungen. Doch ist man geneigt, den B. und Urkunden, welche bei diesen Autoren sich finden, im ganzen mehr Glauben beizumessen, als den Reden. Ausführlich handelt von solchen B. mit Anführung von Beispielen Fronto ad Aur. Caes. II 1 p. 126 Nab. Eine besondere Klasse der untergeschobenen B., welche den Schein eigentlicher B. erwecken sollen, sind die fingierten Privat-B. in Dramen und historischen Werken. In ersteren überwiegt der private, in letzteren der öffentliche B. Beispiele bieten die griechischen wie die römischen Dramatiker (s. Plaut. Bacch. 734ff. 997ff.; Curc. 429ff.; Pers. 501ff.; Pseud. 41ff. 998ff.). Zu beurteilen sind sie lediglich als Teile litterarischer Kunstproducte.
Ganz anderer Art sind die uneigentlichen Briefe, die eine besondere Gattung der Litteratur bilden, die litterarische Epistel, lehrhaft oder unterhaltend, in welcher der Autor nur die Form des B.s entlehnt, um in ihr zwangslos vor dem grösseren Publikum sein Thema behandeln zu können. Sie hat Isid. VI 12, 1 im Sinne bei seiner Beobachtung: Quaedam genera librorum apud gentiles certis modulis conficiebantur: breviore forma carmina atque epistolae. Mit dem untergeschobenen und dem fingierten Privat-B. teilt die Epistel den litterarischen Endzweck. Fast immer wird in ihr ein schönwissenschaftliches, historisches oder sociales, selten ein gelehrtes Thema behandelt. Denn wenn der Autor der leichteren Form wegen sie statt der Abhandlung wählt, muss der Gegenstand dementsprechend für ein grösseres Publikum passend gewählt sein. Sie tritt im poetischen Gewande wie in Prosa auf. Übrigens sind auch in gebundener Form unter Umständen B. als eigentliche zu bezeichnen, wenn sie nach Inhalt und Absicht des Schreibenden nur für die Lectüre bestimmter Personen berechnet sind. Für Hor. epist. lib. I gilt dies sicher vom grössten Teile (vgl. z. B. ep. I 13; s. auch 20, 5 non ita nutritus liber); indes ist für das Altertum die Unterscheidung solcher B., da das Merkmal des Druckes fehlte, schwierig. Beispiele von litterarischen B. giebt es seit Aristoteles und Epikur viele; besonders durch die Alexandriner entwickelte sich diese Gattung. Auch bei den Römern war sie sehr beliebt (Lucilius, der ältere Cato u. s. w.). Die drei Briefe von Hor. ep. II, Ovids Briefe ex Ponto, die des Seneca und des jüngeren Plinius gehören unter anderen [843] dazu. Zu unterscheiden ist hier wieder zwischen B. an bestimmte lebende Personen, an welche die B. zunächst gerichtet sind, weil ihr Inhalt sie vor allen berührt, und B. an fingierte Adressaten, Verstorbene, Appellativbegriffe, mythische Persönlichkeiten. Zur Kategorie der letztbezeichneten B. gehören z. B. die Αἴτια des Kallimachos und Ovids 20 Heroiden.
Endlich ist es bei der offenbar sehr frühen und ausgedehnten B.-Stellerei (γράμματα und litterae einfach = B.) erklärlich, dass die B.-Form Einfluss auch auf andere Schriftgattungen gewann. In Widmungen und Verwünschungen sowie in amtlichen Bekanntmachungen der verschiedensten Art, bei denen eine Person mit einem Anliegen oder einer Mitteilung zu Entfernten in Verbindung zu treten wünscht, lässt sich die Nachahmung der Form und Sprache von B. verfolgen. Vgl. O. Karlowa Über d. in Briefform ergangenen Erlasse röm. Kaiser, N. Heid. Jahrb. VI (1896) 211ff. Über die B.-Gattung und ihr Verhältnis zu dem in mancher Hinsicht verwandten Dialoge handeln die alten Theoretiker zum Teil sehr eingehend (Herchers Epist. p. 1–16 und in zweckmässiger Weise Rhet. lat. min. ed. Halm p. 447f. [aus C. Iul. Victor] und 589; vgl. auch Deissmann a. O. 190ff. 227). Demetrius unterscheidet 21 (Hercher p. 1ff.), Proclus sogar 41 (Hercher p. 7) Typen der B., wobei ihr Zweck das massgebende ist. Sehr bezeichnend sagt Proclus (Hercher p. 6): ἐπιστολὴ μὲν οὖν ἐστιν ὁμιλία τις ἐγγράμματος ἀπόντος πρὸς ἀπόντα γινομένη καὶ χρειώδη σκπὸν ἐκπληροῦσα, ἐρεῖ δέ τις ἐν αὐτῇ ἅπερ ἂν παρών τις πρὸς παρόντα. Freilich gilt die Ähnlichkeit der B. mit dem Dialog vor allem nur hinsichtlich der Unbefangenheit und dem genus der Rede, während sonst die B. mehr von der Berichterstattung an sich haben, was sich auch in dem bekannten häufigen Gebrauche des Präteritums (im Latein) äussert für Handlungen und Zustände, die für den Schreibenden gegenwärtig sind. Sodann muss der B. noch feiner individualisiert sein als der Dialog (Demetr. π. ἑρμ. 224 [Hercher p. 13] δεῖ γὰρ ὑποκατεσκευάσθαι πως μᾶλλον τοῦ διαλόγου τὴν ἐπιστολήν).