Annikeris, von Kyrene, Philosoph der kyrenaischen Schule, soll nach Suidas unter Alexandros von Makedonien gelebt haben, doch setzt man ihn mit mehr Wahrscheinlichkeit in die Zeit Ptolemaios I. Denn einmal war er (nach Diog. Laert. II 86 und Suid.) gleich Hegesias, der unter Ptolemaios lebte, Schüler des Paraibates; dieser war wiederum Schüler des Epitimides, dessen Lehrer Antipatros von Kyrene den Stifter der Schule, den Sokratiker Aristippos, gehört hatte (so Diog. a. O.; Suidas dagegen bezeichnet Paraibates als γνώριμος des Aristippos, sei es nun, dass der gleichnamige Enkel des Stifters gemeint ist oder nur die Zugehörigkeit zu der von Aristippos begründeten Schule ausgedrückt werden soll). Sodann wird zwar Theodoros ὁ ἄθεος, von dem gleichfalls feststeht, dass er in das Zeitalter des ersten Ptolemaios fällt, Hörer des A. genannt (Diog. Laert. II 98); er kann aber, da er zugleich Schüler des jüngeren Aristippos war (ebd. 86), nicht viel jünger als A. gewesen sein. Es scheint demnach, dass sich aus der alten kyrenaischen Schule etwa gleichzeitig oder doch in geringem Zeitabstand die drei neuen Richtungen abzweigten, die sich nach Hegesias, A. und Theodoros nannten (Diog. Laert. II 85; vgl. 93. 96. 97. Suid. Clem. Strom. II 417 b οἱ δὲ Ἀννικέρειοι καλούμενοι ἐκ τῆς Κυρηναϊκῆς διαδοχῆς. Cic. de off. III 116 ab Aristippo Cyrenaici atque [2260] Annicerei philosophi nominati. Strab. XVII 837 Ἀ. ὁ δοκῶν ἐπανορθῶσαι τὴν Κυρηναϊκὴν αἵρεσιν καὶ παραγαγεῖν ἀντ’ αὐτῆς τὴν Ἀννικερείαν). Suidas nennt von ihm einen Bruder Nikoteles und einen angesehenen Schüler Poseidonios (beide sonst unbekannt). Weiteres über die Fortdauer der Schule ist nicht überliefert. Was die Lehre des A. betrifft, so enthalten die Angaben des Cicero und der (sehr verstümmelte) Bericht des Clemens nichts, was nicht der ursprünglich kyrenaischen Lehre entspräche (vgl. Diog. Laert. 87–91). Aber auch nach der etwas ausgiebigeren Darstellung bei Diog. Laert. 96. 97 wichen seine Ansichten nur unwesentlich von denen der älteren Schule ab. Liess er Hegesias und Theodoros gegenüber (93. 98) nicht gelten, dass Liebe, Dankbarkeit, Pietät gegen die Eltern, selbstaufopfernde Thätigkeit fürs Vaterland nichtige Dinge seien, so entsprach das nur der Anschauung, an der auch die Anhänger der ältern Lehre Epikur gegenüber festhielten: dass nicht alle seelische Lust lediglich körperliche Gründe habe; man empfinde z. B. über das Wohlergehen des Vaterlands Freude „wie über das eigene“, was auch nicht blos auf der Erinnerung und Erwartung eigener, idiopathischer Lust beruhe (89). A. scheint also nur diese, sonst von den Kyrenaikern blos nebenher zugestandene Thatsache entschiedener betont und die Consequenzen daraus gezogen zu haben; er bemerkte richtig, dass diese Art Lust (die sympathische), wo sie kräftig genug ist, selbst starken Abbruch an idiopathischer Lust aufwiegt. Er gab demgemäss auch (gegen die allgemeine Lehre, 91) nicht zu, dass Freundschaft nur des eignen Nutzens halber gesucht werde, mithin (wie Hegesias und Theodoros behaupteten, 93. 98) notwendig aufhöre, sobald man daraus für sich keinen Vorteil mehr ziehe. Doch ging er wiederum nicht so weit, zu behaupten, dass man das Glück des Freundes rein seiner selbst wegen erstrebe; der andere empfindet es ja nicht (die klare Consequenz der kyrenaischen Grundlehre, dass man überhaupt nur das eigne πάθος empfindet). In dieser Ansicht vom Werte der sympathischen Lust scheint die ganze Eigentümlichkeit der Lehre des A. bestanden zu haben; denn was Diogenes noch weiter berichtet: dass die Vernunft nicht ausreiche, um über Furcht und eitle Meinungen der Menge hinauszukommen, dass vielmehr Gewöhnung dazu gehöre, weicht von der allgemeinen Lehre nicht ab (91 τὴν σωματικὴν ἄσκησιν συμβάλλεσθαι πρὸς ἀρετῆς ἀνάληψιν). Jene stärkere Betonung der sympathischen Lust aber und des dadurch bedingten Verhaltens in einer menschlichen Gemeinschaft versteht sich leicht als Reaction gegen die umstürzenden und keineswegs logisch notwendigen Folgerungen, die in verschiedenem Sinne Hegesias und Theodoros aus der gemeinsamen Voraussetzung des Hedonismus gezogen hatten (Am. Wendt De philosophia Cyrenaica, Comment. soc. reg. Gotting. VIII 1841, 172; vgl. Gött. Gel. Anz. 1835, 799. Chr. A. Brandis Gesch. d. gr.-röm. Philos. II a 109; Gesch. d. Entwicklungen d. griech. Philos. I 257. E. Zeller Philos. d. Griechen II a⁴ 341. 381. Th. Ziegler Gesch. d. Ethik I 148. K. Köstlin Gesch. d. Eth. I 338. E. Dühring Krit. Gesch. d. Philos. 294).[2261]
Jedenfalls verschieden von diesem A. ist der auch aus Kyrene stammende, der den Platon, als er im Zusammenhang mit seinen Schicksalen am Hofe des älteren Dionysios von Syrakus in die Gewalt der mit Athen in heftiger Feindschaft lebenden Aigineten geraten war und als Sclave verkauft werden sollte, loskaufte und in die Heimat entliess (Diog. Laert. III 20 u. a.; vgl. Lucian Dem. enc. 23. Aelian. var. hist. II 27). An der Thatsache ist um so weniger zu zweifeln, als Aristoteles phys. II 8, 199 b 20 (wie H. Diels Abh. Akad. Berl. 1882, 23, 1 bemerkt) offenbar darauf hindeutet (vgl. den Wortlaut bei Diogenes und Philoponos z. d. St.). Zeller Philos. d. Gr. II a⁴ 414, 3. 419, 3.