96) Hervorragender Rhetor (σοφιστής bei Suid.), Sohn des Rhetors Numenios, daher oft mit dem unterscheidenden Zusatze ὁ τοῦ Νουμηνίου (Rhet. Gr. IV 35. VII 53 W. Anon. Segu. I 431. 441–444 Sp. Suid.) oder Numenius (= Numenii f., Iul. Rufin. 38 H.). Da sein Vater für Hadrian ein παραμυθητικὸν εἰς Ἀντίνοον verfasst hat (Suid. s. Νουμήνιος), so werden wir die Blüte des Sohnes in den Grenzen der 1. Hälfte des 2. Jhdts. n. Chr. zu halten haben. Die bei Suid. s. Νουμήνιος aufgeführten Werke weist Graeven Proleg. LXIXf. ohne zwingenden Grund alle dem Sohne zu. Unter dem Namen des A. ist eine Schrift περὶ τῶν τῆς διανοίας καὶ τῆς λέξεως σχημάτων in zwei Büchern auf uns gekommen, auf die Jo. Sikeliota Schol. Hermog. VI 118 W. hinzuweisen scheint (neues Hss.-Stemma bei Tröbst Quaest. Hyper. et Din. I, Progr. Hameln 1881, 9–21). Leider ist die erwähnte Schrift nur ein Auszug aus dem Original (Epit. I bei Steusloff, bes. 31ff.). Nach dem Auszuge zu urteilen, hat A. seine Belege mit Vorliebe den Reden des Demosthenes und Aischines und den Epen Homers entnommen; daneben werden von Rednern Isokrates und Hypereides, von Dichtern Euripides, Sophokles, auch Menandros, von Historikern Herodotos, Xenophon, besonders Thukydides excerpiert. A. hat die besten Lehrbücher über die Figurenlehre herangezogen und verwertet (III 9 Sp.); zu diesen gehörte unstreitig das des Kaikilios (III 29 ändert Norrmann richtig Καρκῖνος in Καικίλιος). Ein anderer Auszug aus dem Original (Epit. II bei Steusloff 39ff.) ist die Abhandlung des Aquila Romanus de fig. sent. et eloc. bei Halm 22–37 (vgl. Iul. Rufin. a. O.), aus der wieder
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Martianus Capella den Abschnitt über die Figuren bei Halm 478–483 fast wörtlich ausgeschrieben hat. Ein dritter verlorener Auszug (Epit. III bei Steusloff 11ff.), dadurch bemerkenswert, dass er durch Beispiele vornehmlich aus Gregorios von Nazianz vermehrt war, rührte von einem Christen her und war nicht vor dem 4. Jhdt., wahrscheinlich von einem jüngeren Zeitgenossen des Gregorios für den Gebrauch in christlichen Schulen verfasst worden; später vielfach compiliert, liegt er insbesondere dem merkwürdigerweise A.s Namen weiter tragenden Auszuge im cod. Paris. 2087 saec. XIV zu Grunde, dessen Abweichungen von A. und Zusätze Walz unter dem Text des A. mitteilt. Auf Epit. III führt Steusloff auch die Auszüge des Zonaios und des Anonymos bei Walz VIII 698ff. (= III 174ff. Sp.) zurück. Während man früher an gemeinsame Quellen (besonders Kaikilios) für A. und den Verfasser des zweiten Teiles des Carmen de fig. 151–186 (bei Halm 69f.) gedacht hat, nimmt man jetzt ziemlich allgemein an, dass letzterer aus A. geschöpft habe (Epit. IV bei Steusloff 44ff.). Schmid (carmen de fig. vel schemat., qua sit aetate conscriptum, Jena Diss. 1874, 5f.) vermutet auch für die Definitionen von κόμμα, κῶλον und περίοδος (v. 4–12) A. als Quelle. Gegenüber Steusloff u. a. erscheint es Volkmann 459, 1 unwahrscheinlich, dass dem lateinischen Rhetor der echte A. vorgelegen habe. Für die weite Verbreitung des Werkes spricht ausser der Menge von Auszügen der Umstand, dass durch dasselbe oder Auszüge fast alle uns erhaltenen griechischen Rhetoren und Grammatiker, welche über Figuren geschrieben haben, beeinflusst erscheinen, wie Aelius Herodianus, Apsines, Phoibammon (der wahrscheinlich die Originalschrift des A. vor Augen gehabt bat, Volkmann 464), Tiberios und einige Anonymi. Wenn bei Jo. Sikel. a. O. οἱ περὶ Ἀλέξανδρον anderen Technikern entgegengesetzt werden, so möchte auch hieraus A.s massgebende Bedeutung in der Figurenlehre erhellen. Nach Aldus (ed. princ. in Rhet. Gr., Venedig 1508, 574–588) hat Norrmann die Schrift (zusammen mit Phoibammon und Minukianos, Upsala 1690) herausgegeben; sie findet sich jetzt am bequemsten in den Sammlungen griechischer Rhetoren von Walz VIII (1835) 421–486 und Spengel III (1856) 9–40 (wertvolle kritische Beiträge s. bei Tröbst a. O. 26). Ins Lateinische wurde sie übersetzt von Natalis de Comitibus (Venedig 1557) und Norrmann in der genannten Ausgabe (s. Fabricius Bibi. Gr. VI 103 ed. Harl.). Am eingehendsten hat über die Schrift gehandelt Steussloff Quibus de causis Alexandri Numenii liber, qui vulgo genuinus habetur, putandus sit spurius et quae epitomae ex deperdito A. libro excerptae supersint, demonstratur, Breslau Diss. 1861. Ausserdem sind zu vergleichen Volkmann Rhetorik² 456ff., besonders 458. Christ Gesch. d. griech. Litt.² 625.
Ausser dieser Specialschrift, die Kayser Jahrb. f. Philol. LXX 1854, 295 für einen Teil der τέχνη ῥητορική hält, hat A. noch eine allgemeine Rhetorik verfasst, deren Titel wohl τέχνη (ῥητορικὴ) περὶ ἀφορμῶν ῥητορικῶν gelautet haben mag (Proleg. Hermog. IV 35 W.). Excerpte vermutlich aus diesem
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Werke des A. in drei Kapiteln, von denen das erste die Unterschiede der drei Arten der Beredsamkeit am bündigsten zusammenfasst, das zweite den Unterschied des ἐγκώμιον und ἔπαινος feststellt, das dritte uns eine Topik der Lobrede auf Götter giebt, finden sich im cod. Paris. 1741 zwischen den beiden Tractaten des Genethlios und Menandros über die epideiktische Beredsamkeit. Diese Excerpte betrachteten Valesius und Heeren als Einleitung des zweiten Tractats, während Walz Rhet. Gr. IX 331–339 (vgl. auch Proleg. XVIff.) und Spengel Rhet. Gr. III 1–6 darin richtig einen besonderen, nur durch eine alte Blattversetzung mit dem des Menandros confundierten Tractat des A. erkannten (Bursian Der Rhetor Menandros und seine Schriften 6). Eine für die Erkenntnis der rhetorischen Lehren des A. ungemein wichtige und besonders ergiebige Quelle ist die Rhetorik des sog. Anon. Seguerianus (I 427–460 Sp.), nach Graeven in seinem inhalt- und ergebnisreichen Commentar zu der Ausgabe des Anonymus (Cornuti artis rhetoricae epitome, Berlin 1891) nur ein Auszug aus einer ausführlicheren Techne, als deren Verfasser Graeven einen jüngeren, um 200 n. Chr. blühenden Kornutos vermutet. Die zahlreichen in dieser Epitome erhaltenen Fragmente (aufgezählt bei Graeven LXX; vgl. indes auch v. Morawski Rh. Mus. XXXIV 1879, 372f. Schanz Herm. XXV 1890, 36ff.) weisen mit Sicherheit darauf hin, dass A. zu allen (4) Redeteilen (προοίμιον, διήγησις, πίστις [nicht ἀπόδειξις], ἐπίλογος) Vorschriften über Auffindung, Anordnung, Ausdruck und Vortrag gegeben hat. Ihm ist die Rhetorik nicht, wie den Apollodoreern, eine festabgeschlossene, aus unfehlbaren Lehrsätzen sich zusammensetzende Wissenschaft, sondern eine nach den jeweiligen Umständen sich verändernde, also vielgestaltige Kunst (§ 30 Gr.). Während beispielsweise der Redner nach Apollodoros ein προοίμιον, eine διήγησις, einen ἐπίλογος immer anwenden muss, kann der Redner nach A., wenn einer dieser Redeteile ihm nicht notwendig und zweckdienlich erscheint, ihn einfach weglassen. Darin, dass er dem καιρός Rechnung trägt, folgt er dem Vorgange des Dionysios von Halikarnassos, wie er überhaupt in der Methode seiner Forschung sich mit diesem Kritiker und Kaikilios vielfach berührt (v. Morawski a. O. 371ff.; vgl. auch das Urteil Kaysers Münch. gel. Anz. XLI 1855, 2). Die Annahme Morawskis 373ff. jedoch, dass A., wie für seine Figuren, so auch für einzelne Abschnitte der Rhetorik aus Kaikilios geschöpft habe, erscheint noch nicht ausreichend begründet (Blass Jahresber. XXI 1880, 213). Eine Abhängigkeit von der aristotelischen Rhetorik, zumal in der Lehre vom Beweise, behauptet Graeven LXII und Anm. 2. Sicherlich hat sich A. eingehend mit den Systemen der Apollodoreer und Theodoreer beschäftigt, an deren Lehren er mit grosser Sachkenntnis Kritik übt; besonders oft bekämpft und widerlegt er Dogmen des Apollodoros (im Anschluss an Theodoros, Schanz a. O. 51). Mit dem, wie es scheint, etwas älteren Neokles stimmt A. in vielen Punkten überein, bisweilen jedoch greift er auch Sätze von ihm an (Graeven LXX und Anm. 5). A.s Werk hat vor Augen gehabt
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und benützt der Progymnasmatiker Theon (Graeven XLIX 1), vielleicht auch der beim Epitomator öfters citierte etwas jüngere Harpokration (Graeven LXIX); neben Neokles ist er die Hauptquelle für Kornutos. Auf ihn gehen viele spätere Rhetoren, Scholiasten und Verfasser von Prolegomena besonders zu Hermogenes zurück, direct oder durch Vermittelung anderer Rhetoren, ohne oder mit Namensnennung; letzteres Rhet. Gr. V 403. 407. VI 512 Anm. 44. VII 53. 763. 765. Manche hieher gehörige Fragmente hat Graeven aufgefunden und in den Prolegomena besprochen (Verzeichnis p. 53). Mit A. endlich wird wohl mit Recht ein Exeget des Demosthenes gleichen Namens, der in den Schol. Dem. X 131, 1 (191, 8 D.). XX 462, 13 (468, 10 D.) erwähnt wird, identificiert (Dindorf Schol. Dem. VIII Oxford 1851, praef. XVIII).