Ἄγνωστοι θεοί.[WS 1] Zu einer Verehrung von ‚unbekannten Göttern‘ konnte man auf zwei Wegen gelangen; erstens dadurch, dass man ein bestimmtes Ereignis, Glück oder Unglück, auf einen unbekannten Gott als Urheber zurückführte, zweitens durch die Furcht, bei Gebeten und Opfern [29] einen Gott aus Unkenntnis zu vergessen. Vorstellungen der ersteren Art sind bei den Dichtern häufig, und wie sich daraus im Einzelfall der Cult unbekannter Götter entwickeln konnte, lehrt die Erzählung bei Diog. Laert. I 110, Epimenides habe bei der Entsühnung Athens von der Pest eine Herde von schwarzen und weissen Schafen sich vom Areopag aus durch die Stadt zerstreuen lassen und angeordnet, dass, wo ein Schaf sich niederlege, τῷ προςήκοντι θεῷ geopfert werde; daher kämen die zahlreichen ἀνώνυμοι βωμοί in Athen. Auf der anderen Seite führte angesichts der nicht begrenzten Zahl der Götter und der Aufnahme immer neuer ausländischer Gottheiten die Furcht, einen einzelnen Gott zu vergessen, zunächst zur Zusammenfassung der Gottheiten zu Gruppen unter allgemeineren Bezeichnungen, wie z. Β. zahlreiche Weihinschriften an die θεοὶ ἐπουράνιοι, χθόνιοι, καταχθόνιοι, μειλίχιοι u. s. w. bekunden, dann zu Weihungen an einen bestimmten Gott καὶ τοῖς ἄλλοις θεοῖς (Beispiele bei Maurer De aris Graecorum pluribus deis in commune positis, Diss. Strassburg 1885, 94ff.), ferner zum Culte πάντων θεῶν und endlich zum Culte ἀγνώστων θεῶν, bei dem man wohl hauptsächlich an ausländische Gottheiten dachte. Denn es dürfte kein Zufall sein, dass solche Culte der ἄγνωστοι θεοί uns gerade für Plätze bezeugt sind, die einen lebhaften Fremdenverkehr hatten, nämlich 1. für Olympia, wo es nach Paus. V 14, 8 einen Altar ἀγνώστων θεῶν gab; 2. für Phaleron, wo nach Paus. I 1, 4 Altäre θεῶν τε ὀνομαζομένων ἀγνώστων καὶ ἡρώων καὶ παίδων τῶν Θησέως καὶ Φαλήρου standen. Dass man hier ἀγνώστων sowohl auf θεῶν wie auf ἡρώων beziehen darf (vgl. Hitzig-Blümner Pausan. I 124), lehrt die Legende bei Pollux VIII 118. 119 (vgl. Phanodem. frg. 12 bei Suid. s. ἐπὶ Παλλαδίῳ. Eustath. Hom. Od. 1419, 55), es seien nach Troias Fall Argiver mit dem Palladion in Phaleron gelandet, aus Unkenntnis (ἀγνοίᾳ) aber von den Bewohnern getötet und erst auf Akamas Eingreifen und auf göttliche Weisung hin bestattet und nunmehr als ἀγνῶτες verehrt worden, eine Legende, welche zwei Dinge zugleich erklären soll: 1. die Stiftung des Gerichtshofs ἐπὶ Παλλαδίῳ für ἀκούσιοι φόνοι in Athen, 2. den Cult der ἄ. in Phaleron. Erwähnt wird der attische Cult ferner auch bei Philostrat. vit. Apoll. Tyan. VI 3 (p. 107 ἀγνώστων δαιμόνων βωμοί).
Während an den bisher angeführten Stellen immer im Plural von einem Cult der ‚unbekannten Götter‘ gesprochen wird, knüpft sich an die Apostelgeschichte 17, 23 die Frage, ob es in Athen auch Altäre gab, die ‚einem unbekannten Gott‘ (im Singular) geweiht waren; denn es heisst dort bekanntlich, dass Paulus in seiner berühmten Rede in Athen an einen dort von ihm gesehenen Altar anknüpfte, ἐν ᾧ ἐπεγέγραπτο· ἀγνώστῳ θεῷ. Hieronymus comment. in epist. ad Titum I 12 behauptet, Paulus habe den Singular aus freien Stücken gewählt, während die Altarinschrift den Plural aufwies und in lateinischer Übersetzung lautete: diis Asiae et Europae et Africae, diis ignotis et peregrinis. Und auch Tertull. ad nat. II 9 und Augustin. de civ. Dei VI 3 gebrauchen den Plural, beide übrigens unter nicht ganz berechtigter Anknüpfung an Varros Buch [30] de diis incertis (vgl. darüber Wissowa Religion und Kultus der Römer 65). Dagegen wird bei Euthalius diaconus cathol. epist. (Migne Patr. graec. 85, 692) als Wortlaut der Inschrift genannt: θεοῖς Ἀσίας καὶ Εὐρώπης καὶ Λιβύης θεῷ τε ἀγνώστῳ καὶ ξένῳ und bei Chrysost. comment. in act. apost. homil. 38 (Migne gr. 60, 268ff.) und Isidor. epist. IV 69 (Migne gr. 78, 1128) einfach ἀγνώστῳ θεῷ. Ebenso bieten den Singular Ps.-Lucian. Philopatr. 9 und Athanas. comment. de templo Atheniens. (Migne 28, 1427), während sich bei Oecumen. comment. in act. apostol. 17, 22 (Migne 118, 237) beide Wendungen neben einander finden. Zur Erklärung des griechischen Cults knüpfen die einen an die schon aus Herodot. VI 105 u. a. bekannte Legende von der Stiftung des attischen Pancultes an, nach welcher vor der Schlacht bei Marathon Pan dem Pheidippides erschien und sich beklagte, dass er zwar schon oft den Athenern beigestanden habe, aber bisher von ihnen nicht erkannt und verehrt sei. Dieser Pancult, der nunmehr gestiftet wurde, sei identisch mit dem Cult des ἄγνωστος θεός (so Isidor. a. a. O.). Dagegen scheinen die andern sich an die oben erwähnte Erzählung des Diogenes Laertius erinnert und die βωμοὶ ἀνώνυμοι (d. i. ohne Widmung für einen bestimmten Gott) willkürlich mit Altären mit der angeblichen Inschrift ἀγνώστῳ θεῷ identificiert zu haben, indem sie behaupten, diese Altäre seien dem ‚unbekannten‘ Gott nach einer Pest geweiht (Isidor. a. a. O.), während Dritte den Cult einfach aus der Besorgnis erklären, dass bei der Aufnahme so vieler fremder Götter doch noch unbekannte Gottheiten vergessen sein möchten (so Chrysost. a. a. O.); eine Combination der drei Erklärungen bei Oekumenius a. a. O. Dass die dritte Erklärung dem griechischen Empfinden am nächsten steht und dass die Inschrift mit der Pluralform, wie sie Hieronymus anführt, der griechischen Auffassung eher entsprechen würde als die Inschrift im Singular, wo allen Göttern der drei Weltteile ein einzelner unbekannter Gott nebengeordnet wird, liegt auf der Hand. Die von Hieronymus an Paulus Worten geübte Kritik dürfte soweit als berechtigt angesehen werden.
Dass die Römer auf demselben Wege wie die Griechen aus Besorgnis, den richtigen Gott zu vergessen, zu Culten unbestimmter Götter (vgl. z. B. Gell. II 28. Macrob. Sat. III 9) oder der ignoti dei (Minuc. Fel. 6, 2) gelangten, hat Wissowa Religion und Kultus der Römer 33 dargelegt. Über gleiche Vorstellungen bei anderen Völkern spricht unter anderen J. G. Frazer Pausanias II 34ff.