Pfahlbauten
Pfahlbauten.
Seit Boucher de Perthes in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts im Schwemmlande des Sommethales bei Abbeville die ersten Spuren des „diluvialen“ Menschen auffand, ist wohl kaum eine zweite Entdeckung von so weittragender und so fruchtbringender Bedeutung für die Erforschung und die Erkenntnis der Vorgeschichte unseres Geschlechts geworden als die Auffindung der Pfahlbauten im Züricher See durch Ferdinand Keller im Jahre 1854. Während jener Franzose aus dem geologischen Alter der Schichten, denen er die ältesten, aus Feuerstein geschlagenen Werkzeuge entnahm, nachwies, daß der Mensch in Europa als Zeitgenosse der heute ausgestorbenen großen Dickhäuter, des Mammut und Rhinoceros, gelebt hatte, lehrten Kellers Entdeckungen, daß bereits in früher Vorzeit eine Bevölkerung, der der Gebrauch der Metalle noch unbekannt war, ihre Wohnstätten auf Pfahlrosten im seichten Wasser am Rande der Schweizer Seen errichtet hatte, um sich und ihrer Habe, ihr Vieh und ihre Gerätschaften, im Kampfe ums Dasein vor den räuberischen Ueberfällen ihrer Mitmenschen zu schützen.
Diese Entdeckungen gaben Veranlassung, daß man den Spuren derartiger Vorkommnisse weiter nachging, und zwar mit solchem Erfolge, daß kaum ein Jahrzehnt nach Kellers Pfahlbaufunde allein in den Seen der Schweiz bereits gegen 200 Pfahlbaustationen bekannt waren. Hieran [460] reihte sich die Aufdeckung gleichartiger Anlagen in dem oberbayerischen, dem österreichischen und dem norditalienischen Seen- und Moorgebiete, und auch in Norddeutschland bis nach Livland hin zeigten sich Reste ähnlicher Niederlassungen.
Die Errichtung dieser Seedörfer – denn als solche müssen wir sie ihrem Umfange entsprechend betrachten – gehört nicht der gleichen Zeit an. Während die Anlage der nordeuropäischen Gruppe in die Zeit nach der Völkerwanderung, an die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends unserer christlichen Zeitrechnung fällt, siedelte sich in dem Seengebiete der Voralpen mehr als ein Jahrtausend früher eine Bevölkerung an, welche ihre Werkzeuge noch aus geschlagenem und poliertem Stein, aus Knochen und Holz anfertigte. Ebenso verschieden wie der Zeitpunkt der Aufrichtung ist auch die Dauer der Benutzung dieser Niederlassungen. In der Ostschweiz und in Oberösterreich endigt die Periode der Pfahlbauten mit der Einführung des Metalls, des Kupfers und der Bronze, in der Westschweiz, in Oberbayern und in Norditalien reicht die Benutzung der Pfahlbauten bis in die Eisenzeit, ja selbst bis an die Periode heran, in welcher die Römer ihre Herrschaft über Helvetien ausdehnten.
Heute sind diese Zeugen einer frühen Vergangenheit von der Oberfläche der Seen verschwunden. Was die vernichtende Macht des Feuers hinterlassen, hat das Wasser bis auf den Seegrund hinweggenagt. Nur Pfahlstümpfe noch verraten zuweilen dem Fischer, oft in unliebsamer Weise ihm die Netze zerreißend, die Stätten, wo in grauer Vorzeit seine Vorfahren hausten. Wollen wir uns ein Bild jener Anlagen entwerfen, so müssen wir unsere Blicke nach dem indischen Archipel, nach Melanesien, nach Afrika und Amerika richten, wo noch heute zahlreiche Stämme ihre gesicherten Wohnungen in der gleichen einfachen Weise über den glitzernden Flächen der Seen und der Flüsse erbauen. Wir sehen dann den Ureinwohner der Voralpenländer mit dem wuchtigen Hiebe der Steinaxt die schlanken Stämme am Seeufer niederlegen, mühevoll die zugespitzten Stämme oft zu Tausenden in den seichten Untergrund eintreiben und auf einem Fußboden von darüber befestigten Balken seine aus Holz und Lehm hergestellten, mit Stroh gedeckten einfachen Hütten aufrichten. Ein schnell zu beseitigender Steg vermittelt die Verbindung mit dem Festlande, rohe kunstlose Leitern den Zugang zum Wasser.
Was wir über das Leben und Treiben der Bewohner dieser Niederlassungen wissen, verdanken wir lediglich der erhaltenden Einwirkung des Wassers, der Decke von Sand und Schlamm, welche im Laufe vieler Jahrhunderte die zufällig von jenen Hütten aus in den See gelangten oder als unbrauchbar weggeworfenen Gegenstände schützend überzog und unversehrt der wissenschaftlichen Forschung unserer Tage erhielt, welche sie mit der Baggerschaufel aus dem schlammigen Grunde nach mehrtausendjähriger Ruhe wieder ans Tageslicht gefördert hat.
Wir lernen aus diesen Ueberresten ein Volk kennen, welches sich von Jagd, Fischerei und Viehzucht nährt und auch des Ackerbaues in bescheidenem Maße kundig ist. Mit Bogen, Pfeil und Lanze folgt es den flüchtigen Tieren des Waldes, deren Fleisch und Fell ihm Nahrung und Kleidung, deren Gehörn und Knochen ihm den Stoff zu Werkzeugen mancherlei Art liefern. Auf kunstlosen Kähnen, durch Feuer und mit der Steinaxt ausgehöhlten Baumstämmen, befährt es den See, um mit Netz, Angel oder Harpune den flinken Bewohnern desselben nachzustellen. Mit Werkzeugen der einfachsten Art, krummen Baumästen und Hacken aus Hirschhorn, lockert der Pfahlbauer mühsam den Boden am Seeufer, um ihm die kärgliche Ernte von Gerste, Weizen oder Flachs abzugewinnen, deren er zur Bereitung des Brotes oder zur Herstellung seiner Gewänder, seiner Fischnetze und anderer Flechtereien bedarf. Zahlreiche Knochen der wichtigsten Haustiere lehren, daß ihm die Zähmung und die Zucht des Rindes, des Schweins, der Ziege und des Schafs bekannt sind, und daß der treueste Freund des Menschen, der Hund, sein bescheidenes Heim teilt.
Auch einen Einblick in die häuslichen Verrichtungen der Pfahlbaubewohner gewähren uns die im Seeboden verborgenen Schätze. Tausende von Gefäßscherben oft noch mit Spuren des Speiseninhalts und der Einwirkung des Herdfeuers, verraten uns die große Geschicklichkeit, mit der jenes Naturvolk aus dem weichen Thon ohne Hilfe der Drehscheibe die verschiedenartigsten Formen, Näpfe und Krüge, Schüsseln und Teller u. a. m., zu bilden verstand; einfache Muster aus Strichen und Punkten darauf zeugen von bereits entwickeltem Schönheitssinn. Mahlsteine und Getreidequetscher lehren uns, daß Gersten- oder Weizenbrot zu den täglichen Nahrungsmitteln des Pfahlbauers gehörten. Spinnwirtel und kleine Gewichte aus Thon geben Kunde von dem einfachen Webstuhl, an welchen die Frauen jene trefflichen leinenen Gewänder anzufertigen verstanden, deren im Wasser verkohlte Reste das Staunen der ersten Entdecker in demselben Maße erregt haben wie die zierlichen Fischnetze und Bastmatten. Aus Zweigen geflochtene Körbe dienten der Aufbewahrung der mannigfaltigen Früchte des Feldes und Waldes, welche von dem Bewohner der Seedörfer als Nahrungsmittel gesammelt wurden. Und daß dem Pfahlbaumenschen auch die Putzsucht nicht fremd war, erzählen uns Perlen aus Thon und Bernstein, durchbohrte Muscheln und Zähne vom Schwein und von Raubtieren, wie die zierlichen Nadeln und Spangen aus Knochen oder Metall, mit denen er seinen Körper und seine Gewänder schmückte.
Nur wenig wissen wir über die physische Beschaffenheit der Bewohner jener Seedörfer. Selten finden sich im Seeboden Schädel oder Knochen von Menschen, die ihren Tod vielleicht zufällig im Wasser gefunden oder bei der Verteidigung ihres Heims gegen feindliche Angriffe gefallen sind. Die Gräber ihrer Toten müssen wir auf dem Festlande suchen.
Trotz der Unzulänglichkeit des Materials, auf Grund dessen wir uns die Kulturverhältnisse der Pfahlbauzeit vergegenwärtigen können, haben die Funde unserer Altertumsforscher, von denen z. B. das Museum Schwab in Biel am Bieler See in der Schweiz eine sehr übersichtliche Zusammenstellung enthält, doch genügt, um Dichter und Maler zu reizen, mehr oder weniger ausgeführte Bilder von den Zuständen und Menschen jener Zeit zu entwerfen. Die bedeutendste litterarische Leistung dieser Art ist die Pfahldorf-Idylle, welche der schwäbische Dichter und Philosoph Friedrich Theodor Vischer seinem Roman „Auch Einer“ einverleibt hat. Eine sehr anmutige Veranschaulichung eines oberbayerischen Pfahldorfs bietet das Bild von Olof Winkler, das die Leser auf der nächsten Seite dieser Nummer finden. Auch er hat für seine Darstellung sehr gewissenhaft alles benutzt, was die prähistorische Forschung an Thatsachen zu Tage gefördert hat.
Mit der fortschreitenden Kultur verloren auch die Pfahlbauten ihre
Bedeutung. In der Ostschweiz und in Oesterreich hört ihre Benutzung
mit der Einführung des Metalls auf, in dem westlichen Teile der Schweiz
und in Oberbayern wurden die so lange innegehabten Wohnsitze erst nach
der Bronzezeit von ihren Bewohnern, wenn diese nicht schon vorher gewaltsam
vertrieben waren, verlassen und mit behaglicheren Niederlassungen
auf dem Festlande vertauscht. J. Deichmüller.