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Pariser Bilder und Geschichten/La Messe

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Textdaten
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Autor: Sigmund Kolisch
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Titel: La Messe
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 792-795
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Pariser Bilder und Geschichten.

Von Sigmund Kolisch.
La Messe.

Vielleicht würde Europa gerettet, aus der lähmenden Bedrängniß durch gewaltsam erzeugte Verhältnisse gerissen, zum freien Gebrauch seiner niedergehaltenen höheren Kräfte gebracht, wenn es ihm gelänge, den fürchterlichen Druck der stehenden Heere von seinem Herzen und seinem Gehirn zu schütteln und der absoluten Herrschaft der Disciplin über nahe an drei Millionen kräftiger bewaffneter Menschen ein Ende zu machen. Wer das soldatische Fühlen und Denken unseres Welttheils aufheben würde, wäre vielleicht dessen Erlöser. Das Christenthum, das die Welt erobert hat, weit entfernt, dieses große Ziel, welches ihm offenbar vorschwebte, zu erreichen, wurde von dem soldatischen Geist, so zu sagen, überwältigt und gezwungen, mit sich selber zu brechen, das Schwert, das Werkzeug des Hasses, den es verwirft, heilig zu sprechen und selbst das Bajonnet zu weihen.

Beneidenswerth, tausendfach beneidenswerth die Völker, die durch glückliche Verhältnisse und ihren eigenen Werth in den Stand gesetzt wurden, sich der stehenden Heere zu entledigen, die selbst für eine erwünschte Ruhe und Ordnung zu sorgen wissen, statt eine Leibwache zu bezahlen, die sie noch mehr unterdrückt, als beschützt, die weit mehr kostet, als sie einbringt, und die gefährlicher ist als das Uebel, welches sie abhalten soll. Tausendfach beneidenswerth das Land, wo kein unheimliches Degengeklirr das ergiebige Treiben und Walten der Künste und Gewerbe stört, wo das Gesetz Gewalt besitzt, statt daß die Gewalt Gesetze giebt, und wo nicht ewig und immer, wie von jenem Barbaren zu Rom, statt aller Beweise Eisen in die Wagschale der Entscheidung mit dem Rufe geschleudert wird: Lex nihi Mars – das Schwert ist mein Gesetz!

Meinen Widerwillen gegen das Soldatenthum auf die Soldaten übertragend, habe ich von jeher in Hader mit dem Militär gelebt, namentlich mit Officieren, welche ich als die wesentlichen Bestandtheile der gefährlichen Institution, der sie angehören, abstract aufzufassen das Unrecht hatte, das große Unrecht. Ich vergaß, daß ein menschliches Herz unter der Uniform ein menschliches Herz bleibt, und daß ein Soldat „blutet, wenn man ihn sticht, und lacht, wenn man ihn kitzelt,“ wie Shylock von sich selber sagt. Schwer habe ich meine Abirrung gebüßt. Im Jahre 1848, wenige Tage nach einem Processe, der gegen mich wegen Beleidigung des Militärs eingeleitet worden war, rettete ein österreichischer Officier mir das Leben und häufte glühende Kohlen auf mein Haupt.

Es sei mir gestattet, den Hergang der Sache hier zu erzählen, ob es mich gleich von dem eigentlichen Gegenstand der Behandlung ablenkt – zum Ruhme des Mannes, dessen Namen zu nennen beklagenswerthe Verhältnisse noch immer verbieten. Und möge der Edle, wenn ihm diese Zeilen zu Gesichte kommen, aus denselben die ganze Tiefe ungeschwächter Dankbarkeit und den heißen Wunsch meiner Seele herauslesen, daß mich eine glückliche Fügung in die Lage brächte, ihm wenigstens einen Theil der großen Schuld abtragen zu können.

Am 30. October des Jahres 1848 rückten die Truppen, welche die Stadt mit eisernen Armen immer fester und enger umschlungen hatten, in Wien ein. Unter ihren Fußtritten wand sich sterbend die Revolution. Wer von den Männern der Bewegung die Dinge nicht, wie Jellinek, unrichtig beurtheilte, war der Ueberzeugung, daß es in der Hauptstadt Oesterreichs zu einem blutigen Verfahren kommen würde, und war ganz natürlich bedacht, der Gefahr, so gut es ging, sich zu entziehen. Viele suchten Schlupfwinkel und Verstecke aller Art, ich zog es vor, mich bei meinem Freunde X., der in einer der vornehmsten Straßen der Stadt wohnte, unterzubringen, in der Voraussetzung, daß nach diesem Punkte die Polizei und die Militärbehörde ihre geringste Aufmerksamkeit richten würden. Meine Berechnung war richtig: das Haus blieb von Durchsuchungen verschont, während anderwärts die polizeilich-militärischen Ueberfälle zur allgemeinen Bestürzung fortdauerten. Zum Ueberfluß war es meinem Freunde gelungen, einen Spion von der Polizei selbst in Sold zu bekommen, so daß wir davon vorher unterrichtet worden wären, wenn uns ein Besuch der Häscher gedroht hätte. An ein Entkommen war vorläufig nicht zu denken; denn die Thore der inneren Stadt wurden gesperrt, die sogenannten „Linien“, welche ganz Wien einschließen, streng bewacht, und nur mit einem Erlaubnißschein oder einem Paß, von dem Kriegsrathe ausgestellt, konnte man in’s Weite gelangen. Es hieß also, trotz dem drohenden Schwerte über dem Haupte, Geduld haben und – warten. Offen gestehe ich, daß mich jetzt die Erinnerung an jene Gefahr tiefer ergreift, als mich damals, in dem Augenblick allgemeiner und eigener Aufregung, die vorhandene Gefahr zu beunruhigen vermocht hat. Ich wartete daher, mit Geduld und Fassung.

Zwei Tage nach dem Einrücken der Truppen hörte ich klingeln; ich trat aus einer am Ende der Wohnung befindlichen Stube, welche mir zugewiesen worden war, in die Küche, von wo aus ich nach der äußeren Thüre sehen konnte, ohne von dem Eintretenden gesehen zu werden. Wie erschrak ich, als ich eine Militäruniform gewahrte! Doch beruhigte ich mich bald, denn ich sah, daß die Uniform einem im Range etwas höheren Officiere gehörte, der ohne alles Gefolge kam und in einer Weise nach meinem Freunde frug, die gar nichts Schlimmes ankündigte. Der Diener, welcher geöffnet hatte, führte den Officier in eines der Gemächer, und ich, ohne weiter auf den Besuch zu achten, zog mich, der augenblicklichen Sorge entschlagen, in meine Stube wieder zurück. Nach ungefähr einer Stunde trat Freund X. mit unwöhnlich ernster Miene bei mir ein und zeigte mir an, daß soeben ein Officier, zu dem er seit langer Zeit in freundlicher Beziehung stehe, bei ihm zu Besuche war und sich für den Abend zu einem Essen und zu einem Spiel angesagt habe. „Welcher Art ist denn dieser Herr, den Du soeben empfangen hast?“ fragte ich. „Ich habe ihn nie anders, als höchst angemessen, achtungswerth und als einen Mann gefunden, mit dem sich’s recht angenehm verkehren läßt; doch gehört er mit Leib und Seele seinem Stande an, und er faßt die politischen Ereignisse nicht um ein Haar anders auf, als seine Cameraden, und als sie von der Armee im Ganzen aufgefaßt werden. Er zeigte sich in unserer Unterhaltung äußerst erbittert gegen die Partei, welche er die Partei des Umsturzes nennt.“

[793] „Wo sind sie denn – die Kolisch, die Becher, die Gritzner, die Maler und die Helden alle? warum zeigen sie sich denn jetzt nicht?“ hat er ausgerufen, als er auf den Kampf zu sprechen kam, den das Heer gegen Wien zu bestellen hatte. Du siehst, daß er Deinen Namen an der Spitze der Verhaßten genannt hat, wahrscheinlich weil Du es so ausnehmend gut verstanden hast, das Militär gegen Dich aufzubringen, weil Du die Armee am tiefsten beleidigt hast; ich vermag es nicht zu sagen, in welcher Weise er gegebenen Falls die Pflichten des Officiers mit denen des Mannes von Welt und des Freundes auszugleichen suchen möchte, und es bleibt daher auch zu bedenken, ob und wie Du Dich ihm darstellen sollst, oder ob es nicht räthlicher für Dich wäre, in Deiner Stube zurückgezogen unsichtbar zu bleiben.“

„An und für sich,“ entgegnete ich, „widerstrebt es meinem Wesen, vermauert zu bleiben; außerdem halte ich nichts für gefährlicher, als eine strenge Verborgenheit, in der das geringste Geräusch, jede Bewegung, das Zipfelchen eines Gewandes zum Verräther werden und den Verborgenen an’s Messer liefern kann. Meine Ansicht geht also dahin, daß ich, wie die anderen Hausgenossen, aber unter einem fremden Namen, vor Deinem militärischen Gaste erscheine.“

X., die Richtigkeit meiner Bemerkungen anerkennend, trat entschieden meiner Ansicht bei; es wurde eine Versammlung von all den jungen Leuten gehalten, die da aus- und eingingen und auf deren Gegenwart für den Abend zu rechnen war; es wurde ihnen der gefaßte Beschluß kundgethan und ihnen auf’s Nachdrücklichste eingeschärft, daß sie mich in Gesellschaft des Officiers um keine Welt anders als Dr. Bayer zu nennen hätten. So waren wir denn vollkommen vorbereitet, den Officier zu empfangen. Er kam gegen acht Uhr Abends und fand einen so munteren Kreis, als es der Druck der politischen Atmosphäre nur zuließ. Aus verschiedenen Gründen nenne ich von den anwesenden Gästen nur Moritz Hartmann, der während der ersten Octobertage mein unzertrennlicher Genosse geblieben und von mir in dem Hause meines Freundes eingeführt worden war. Zunächst ist er gegen jeden Schaden und sogar jede Unannehmlichkeit in Folge der Nennung seines Namens sicher gestellt, und dann spielt er eine hervorragende Rolle in der Scene, die vorzuführen ich im Begriffe stehe. Kurz nach der Ankunft des Officiers, kaum daß die herkömmlichen Vorstellungen stattgefunden hatten, wurden lange Wiener Pfeifen angebrannt. Das Spiel, für welches er sich aussprach, und das wir annahmen, war „halb Zwölf“. Obgleich mit den Karten eifrig beschäftigt, unterließen wir nicht, dem Tabak häufig zuzusprechen, von dem ein Berg auf einem Tische seitwärts aufgethürmt war.

Als meine Pfeife zu Ende geraucht war, ging ich an den Tabakvorrath heran, um auf’s Neue zu stopfen. Indeß war die Reihe an mich gekommen, dem „Bankier“ Rede zu stehen; da ich aber fehlte, rief Hartmann, in das Spiel verlieft und die erhaltene Weisung vergessend: „Kolisch, soll ich Ihre Karten aufnehmen?“ Wie von einem Pfeile getroffen fuhr ich zusammen, und den Blick abwechselnd auf den Officier und auf den Degen heftend, den er beim Eintritt in einen Winkel der Stube gestellt hatte, blieb ich sprachlos; Hartmann, noch immer nicht erkennend, welchen Irrthum er begangen, und in der Meinung, daß ich nicht hörte, wiederholte lauter und nachdrücklicher die Frage: „Kolisch! soll ich Ihre Karte aufnehmen?“ Ich beharrte in meinem Schweigen, unausgesetzt den Officier und den Degen im Auge, entschlossen, wenn es nöthig würde, zum Aeußersten zu schreiten, um mein Leben zu vertheidigen.

Nun wurde Hartmann, durch die Fußbewegung eines der Nebensitzenden erinnert, sich plötzlich seiner Unbedachtsamkeit bewußt. Entsetzen und Verzweiflung, so ergreifend, wie sie mir noch nie entgegengetreten, malten sich auf seinem todtenblassen Angesicht. Der Officier jedoch, welcher weder zu sehen noch zu hören schien, was um ihn her sich zutrug, blieb auf seinem Platze und beschäftigte sich sehr eifrig mit der „Bank“, die er übernommen hatte, und ich kehrte, nachdem ich meine Pfeife angebrannt hatte, ruhig auf meinen Platz zurück und fuhr fort, an dem Spiele Theil zu nehmen. Erst nach einer halben Stunde, während welcher ich über meine Lage reiflich nachzudenken mir angelegen sein ließ, schützte ich einen Grund vor und entfernte mich. Mir leuchtete die Nothwendigkeit ein, mich nach einem andern Aufenthalte umzusehen, um nicht einer offenbaren Todesgefahr ausgesetzt zu bleiben. Ich ging.

Es war eine fürchterliche Nacht; die Finsterniß klammerte sich an dem Himmel fest und erdrückte das Licht der Sterne; zitternd, als fürchtete er sich, schlüpfte der matte Schimmer der Laterne durch das Dunkel; der Regen goß in Strömen hernieder, von einem Winde gepeitscht, der mit eisigen Schauern daherbrauste; die Straßen waren menschenleer, nur hie und da kam ich auf meiner Wanderung nach einem Unterkommen an einem Bivouak böhmischer und kroatischer Soldaten vorüber, die ich an den Lauten erkannte, in welchen sie das Unwetter verwünschten, und die sich vergebens anstrengten, die Feuer zu unterhalten, an denen sie die erstarrten und durchnäßten Glieder wärmen könnten. Eines Wagens mich zu bedienen, war nicht möglich; denn ich mußte Vorsicht gebrauchen und eine scharfe Beobachtung anstellen, bevor ich in irgend eine Wohnung trat, um nicht den Sbirren in den Wurf zu kommen und selbst mich dem Verderben Preis zu geben. Ein Fiaker, den ich in der Ferne hätte müssen stehen lassen, konnte mich verrathen. So lief ich denn dahin durch die wilde, unheimliche Nacht, die ich mein lebelang sicher nicht vergessen werde, von Bekannten zu Bekannten, von Freunden zu Freunden, um ein Plätzchen zu finden, wo ich in Sicherheit bleiben könnte; aber umsonst –: überall drohten die Durchsuchuugen, man wußte es und man wies mich meines eigenen Heiles wegen mit Zittern zurück; mit überströmender Angst, hie und da mit Weinen drängte man mich zu rascher Entfernung; es blieb mir nichts Anderes übrig, als mich der Gefahr zu überlassen, der ich zu entrinnen suchte; mit der Resignation der Verzweiflung rief ich mir selber zu: nun komme, was da wolle! und so kehrte ich, von dem Laufe ermüdet, von dem Regen bis auf die Haut durchnäßt, ein Selbstaufgegebener, in die Wohnung meines Freundes X. zurück.

Ich fand die Gesellschaft, welche ich verlassen hatte, noch beisammen und guter Dinge beim Abendessen. Ein freudloser Gast nahm ich an dem Tische Platz, und in die Gespräche mich mischend, verbarg ich, so gut ich konnte, die innere Bewegung. Nach beendetem Abendbrod empfahl sich der Officier und versprach, den nächsten Tag wiederzukommen. Er reichte mir die Hand, als er ging. Er kam den nächsten Tag und auch die folgenden Tage und reichte mir die Hand, so oft er kam, so oft er ging. Niemals sprach er meinen Namen aus, eben so wenig den echten, als den falschen. Vier Tage nach seinem ersten Besuche erbot er sich, einem aus unserm Kreise, dessen Aeußeres sich dem meinigen am meisten näherte, eine Geleitkarte vom Kriegsrath zu verschaffen, welche es demselben möglich machen würde, eine Geschäftsreise an die preußisch-schlesische Grenze vorzunehmen. Es versteht sich von selbst, daß unser Hausgenosse das Anerbieten annahm. Mit den Worten: „Gebt wohl Acht, daß keine Ungeschicklickkeit vorfällt,“ händigte der Officier meinem Freunde X. den Geleitbrief ein, dem ich es danke, daß ich aus der Stadt und dann über die Grenzen Oesterreichs glücklich entkam.

Der zarte Retter meines Lebens hatte mich, wenn auch nicht seinem Stande, so doch seinen Standesgenossen näher gebracht, und es erklärt sich wohl leicht, daß ich seit dieser Begebenheit meine schroffe Antipathie gegen die Uniform aufgab und Verbindungen mit Kriegsleuten anknüpfte, denen ich früher, da mir die Uniform den Mann bedeutete, aus dem Wege gegangen wäre.

Einer meiner militärischen Freunde zu Paris führte mich in eine „Messe“. „La messe“ nennt man das Speisehaus, wo sich die Officiere der kaiserlichen Garde zu gemeinsamem Genusse des Morgen- und Mittagbrodes versammeln. Die kaiserliche Garde hat diese Einrichtung, wie so manche Vortheile, vor den andern Truppen voraus. Jedes Regiment hat seine besondere „Messe“. Die Einrichtung ist in sofern demokratisch, als sich alle militärischen Abstufungen vom Unterlieutenant bis hinauf zum Obristlieutenant, der an der langen, langen Tafel den Vorsitz führt, zusammen finden und einige Stunden auf gleichem Fuße mit einander leben und essen. Ich würde nicht zu unterscheiden gewußt haben, wer von den anwesenden Officieren höher oder niedriger steht, wenn es die äußeren Abzeichen nicht verrathen hätten, so ungezwungen und frei von jeder Pedanterie ist ihr Verkehr unter einander, so glatt und leicht ihr Benehmen. Man erwarte nicht, daß ich viel Rühmens von den französischen Soldaten mache, obgleich ihre Milde und Menschlichkeit sogar in feindlichen Ländern gepriesen wird; denn ich habe sie am 2., 3. und 4. December des Jahres 1851 gesehen, wie sie auf Befehl Ludwig Napoleon’s in den Straßen von Paris auf Wehrlose und Unbewaffnete schossen und hieben, um die Gesellschaft, die Familie und die Religion zu retten; aber einen Unterschied zwischen dem französischen Soldaten [794] und den anderen Soldaten des Continents muß ich doch anerkennen: es ist etwas mehr von der Nation in ihm, es ist etwas mehr von ihm in der Nation, und so sind das Heer und die Nation mehr mit einander verwachsen, was freilich weit mehr dem Heere als der Nation zum Lobe gereicht. In den Ländern, wo stehende Heere zu den Staatsbedürfnissen zählen, macht das goldene Portecépée hoffähig; in Frankreich ist man hoffähig ohne Officiersrock, ohne jeden Rang, ohne jede sociale Bevorrechtung. Der Kaiser Napoleon hat sich selber einen Emporkömmling genannt; wer sollte für unwürdig erkannt werden, am Hofe eines Emporkömmlings zu erscheinen? Der Officiersrock hat also vor dem schwarzen Frack nicht viel, wenigstens das nicht voraus, worauf anderwärts der dem Bürgerstand entwachsene Wehrmann besonderen Werth legt.

Auf einer Reise nach Rom sah ich zu Civita-Vecchia an einer Wirthstafel einen französischen Obristen mehrere seiner Untergebenen bewirthen und zwei Sergeanten, die mit zur Gesellschaft gehörten, mit einer Zuvorkommenheit behandeln, von der sich die Weltweisheit eines preußischen Lieutenants nichts träumen läßr. Noch mehr als die Liebenswürdigkeit des Obristen gefiel mir die Unbefangenheit der Sergeanten, mit welcher sie, ebenso entfernt von Selbstüberhebung wie Kriecherei, die Freundlichkeiten ihres Vorgesetzten hinnahmen. Derselbe Geist geht durch alle Classen der französischen Gesellschaft und trat mir recht auffallend in der „Messe“ entgegen.

Wie den Franzosen vor anderen Nationen am allerwesentlichsten seine geselligen Fähigkeiten, ich möchte fast sagen, seine gesellige Tugend auszeichnet, so mildert insbesondere diese französische Eigenheit den militärischen Sondergeist, der anderwärts so unerquicklich, nicht selten empörend auftritt. Es blieb mir ganz behaglich zu Muthe, als ich an der Seite meines Führers in diese nach so vielen Seiten hin fremde Gesellschaft von mehr als 150 Officieren trat, die mir fast ganz fremd war, und von der mich die völlige Verschiedenheit des Denkens und Empfindens, des Wollens und des Strebens so weit abhält: nichts von dem stolzen Dünkel, der auf hohen Stelzen einherschreitet und auf Jeden, wie hoch er auch stehen mag, nach unten guckt, machte sich bemerkbar. In den Blicken Aller sprach sich die freundliche Begrüßung des eingeführten Fremden und der Wunsch aus, ihm angenehm, ihm gefällig zu sein; obgleich man sich fern hielt, zeigte man sich doch wie zu mir gehörend, mit mir in Verbindung.

Jede Woche ist da großer, glänzender Empfang: da spielt die Musikbande, da kommen Frauen und Mädchen, die den Officieren vermählt, verwandt oder befreundet sind, und für die ein besonderer Speisesaal eingerichtet ist; denn an die Officierstafel werden sie nicht zugelassen, weil man von der tiefen Wahrheit des spanischen Sprüchwortes: „quien es ella? – wer ist sie?“[1] durchdrungen ist und fürchtet, daß die vertrauliche Nähe der Frauen Streit und Hader unter den reizbaren, in tödtlichen Waffen geübten Kriegsleuten herbeiführen würde. Alles ist in großer Gala; die Aufwärter, aus gemeinen Soldaten bestehend, sonst in Civil, sind an diesem Tage in Uniform; die Gänge der Speisen sind vermehrt, die Weine üppiger, das Tafelgeschirr reicher, vornehmer, kurz, Alles ist festlich geschmückt, auch die allgemeine Stimmung. Eine Glocke ruft zu Tische, die Geladenen sitzen neben denen, von welchen sie geladen wurden; es ist ein Gebot der Höflichkeit, daß man seinem Gaste mit Wein von ausnahmsweiser Qualität aufwartet; in diesem Falle muß nach der Regel des Hauses dem zweiten Nachbar des Fremden von dem köstlichen Getränke auch kredenzt werden, wahrscheinlich um auf diese Weise den Gast mit einem Dritten in Berührung zu bringen und einen Anknüpfungspunkt mehr zwischen ihm und der Gesellschaft herzustellen.

Die Speisen, selbst an gewöhnlichen Tagen, sind trefflich bereitet und reichlich geboten. Jeder kann von dem Aufwärter so oft verlangen, als es sein Appetit erheischt. Von dem Grundsatz des Heerführers einer älteren Zeit, daß eine Katze und ein Soldat entweder ausgehungert oder gut genährt sein müssen, um für ihren Beruf zu taugen, hat Ludwig Napoleon offenbar den zweiten Theil angenommen: nie war eine Armee besser, nie vielleicht so vortrefflich versorgt und verpflegt, nie in dem Maße mit Allem versehen, was zur Erleichterung und Bequemlichkeit dienen kann, wie die Armee des zweiten Kaiserreiches. Ludwig Napoleon hat den Thron aus den Händen der Armee erhalten; was ist natürlicher, als daß er Alles aufbietet, um sich die Gunst dieser Machtverleiher zu bewahren! Die Wohlgesinnten und Scharfblickenden schreien über diese Begünstigung, welche aus der Armee einen Staat im Staate macht, oder gar einen Staat gegen den Staat, sie beklagen den Verlust des Einflusses der Revolution von 1789 und des Bürgerkönigthums von 1830, die Alles bürgerlich zu machen wußten, selbst den Soldaten; denn wenn auch die Tratition, sagen sie, welche den Soltaten mit dem Bürger vereinigt, bis jetzt noch einige Gewalt behält, so steht zu fürchten, daß die Angewöhnung im entgegengesetzten Sinne vernichten möchte, was der Tratition an Kraft übrig bleibt.

Der französische Soltat bezeichnet den Bürger mit dem Spottnamen „Pekin“, und der Bürgerliche nennt den gewöhnlichen Soldaten zu Fuß zum Hohne „Piou-Piou“ – allein der Hohn liegt im französischen Charakter, und das stechendste Witzwort verletzt nicht, es wird mit derselben Leichtigkeit hingenommen wie abgeschnellt, und wenn sich Soldat und Bürger auch gegenseitig über einander lustig machen, so vertragen sie sich bis jetzt doch noch ganz leidlich. Damit der französische Soltat leichten Herzens auf den Bürger ziele, muß er all’ seine Erkenntniß in Absynth ersäuft haben; der Absynth kann also Regierungsnothwendigkeit werden!

Die Kosten der gemeinsamen Tafel werden nach dem Saint Simonistischen Grundsatze: „Jeder nach seinem Bedürfniß, von Jedem nach seinem Vermögen“ bestritten, d. h. mit andern Worten: Jeder zahlt nach Maßgabe seiner Einnahme und ißt nach Maßgabe seines Appetits, so daß der ältere Obristlieutenant, welcher offenbar nicht so viel an Speise vertragen und verdauen kann, doppelt so viel zahlt, als der Unterlieutenant, dessen Magen in der heißesten Schlacht nicht wankt. Das geringste Kostgeld sind 2 Franken 5 Sous per Tag. Die heitere Laune an der Tafel wird lediglich durch den Anstand begrenzt; kein lästiges Ansehen irgend eines Vorgesetzten legt sich bleiern auf die Schwingen des Verkehrs. Zwei Officiere, welche zu spät zum Essen kamen, wurden, als sie in den Saal traten, von der Gesellschaft mit donnerndem Hohngelächter und Zischen empfangen, ohne daß der Präsident auch nur im Entferntesten Miene gemacht hätte, diesem etwas ausgelassenen Scherz entgegenzutreten.

Die Gespräche an der Tafel sowohl, als vor und nach dem Essen, drehten sich um Dinge geringer Bedeutung, um Nichtigkeiten, die nicht würdig sind, den Sinn eines Mannes zu beschäftigen. Von Vielen wurden Kleidungsangelegenheiten mit solcher Umständlichkeit besprochen und gewannen in dem Maße Aufmerksamkeit und Theilnahme, daß ich mich unter Frauen zu befinden glaubte, und zwar unter solchen Frauen, für die es keine höhere Lebensfrage giebt, als die Toilette. Sehr lebhaft interessirten sich Alle für eine neue Uniform, welche der Garde nach Angabe des Kaisers selbst bevorstand, und als ein Mann, von dem Regimentsschneider abgesendet, ein Muster dieser neuen Bekleidung auf dem Leibe, in den Saal kam: da waren Alle von der Erscheinung wie ergriffen, da war des Schauens und Betrachtens, des Besprechens und Beurtheilens kein Ende. Der grüne Rock mit gelben Schnüren an der Brust, den der Mann vorführte, ist seither Gegenstand des Volksspottes und des Witzes der Lachblätter geworden, von den Officieren aber hat es kein einziger gewagt, dem allerhöchsten Geschmacke, nach welchem das Kleid gefertigt war, laut zu nahe zu treten, die unabhängigeren lobten weniger oder schwiegen.

Wir befanden uns in der an den Speisesaal stoßenden Rauchstube, als auf meinen Freund einer seiner Cameraden mit wichtiger Miene zukam.

„Lieutenant L.,“ sagte er ihm, „der Oberlieutenant C. ist sehr heftig gegen Dich aufgebracht!“

„Gegen mich?“ rief verdutzt mein Führer, „und weshalb?“

„Weil Du Dich, wie er sagt, rücksichtslos gegen seine Frau benommen, indem Du in einer Waggonabtheilung, in welcher auch sie sich befand, mit einer Dame von unklarer Beziehung zu Dir conversirt hättest.“

„Ich habe nicht gewußt, daß ich die Frau Lieutenant C. selbst auf neutralem Gebiet um jeden Preis vermeiden müsse! Uebrigens,“ setzte er mit einiger Heftigkeit hinzu, „mag der Lieutenant C. die Sache nehmen, wie er will.“

Nach einer Minute hörte man bereits in verschiedenen Gruppen [795] den Vorfall mit großer Lebhaftigkeit besprechen. Noch eifriger unterhielt man sich von einer Begebenheit, die sich an einem früheren Empfangtage zugetragen hat. Ein Lieutenant hat eine Dame von verdächtigem Aeußern eingeführt; da aber auch die Frauen und Töchter der Officiere in die „Messe“ kommen, so geht eine sehr strenge Bestimmung dahin, daß kein Officier das Recht habe, Frauen von unanständigem Lebenswandel mit in die „Messe“ zu bringen. Kaum war die Verdächtige in den Saal getreten, als unter den Frauen ein Geflüster entstand, das immer lebhafter wurde und sich immer weiter verbreitete, den männlichen Theil der Gesellschaft ergriff und endlich bis zum Obristlieutenant drang. So schonend als möglich für die Fremde schritt der Präsident der Tafel zur Untersuchung des Gegenstandes.

„Kennen Sie die Dame, welche Sie hier eingeführt haben, genau?“ frug er den Lieutenant, den er abseits führte.

„Gewiß! mein Obristlieutenant!“ erwiderte der Angeredete.

„Was ist und was treibt sie?“

„Sie steht an der Spitze einer Modehandlung der rue des martyrs!“

„Ihr Name?“

„Madame S.!“

„Ganz recht! Wir wollen sehen …“

Den andern Tag ließ der Obristlieutenaut die nöthigen Nachforschungen anstellen und erfuhr, daß Madame S. durchaus nicht das war, was man eine anständige Dame nennt. Der Lieutenant mußte aus dem Regimente und aus der Garde fort.

Mir machten all diese Leute, deren regste Theilnahme von diesen und andern ähnlichen Dingen in Anspruch genommen wurde, den Eindruck von Unbeschäftigten, die sich eben wegen ihrer Unthätigkeit und Zwecklosigkeit von dem Geringfügigsten, Unbedeutendsten einnehmen und anregen lassen. Und in der That – ist ein Soldat in Friedenszeiten nicht ein Mann ohne Beruf? Bleibt die Zeit, welche das Wachebeziehen, das Exerciren und Manövriren übrig läßt, nicht unausgefüllt? unausgefüllt von dem eigentlichen Berufe wenigstens? So erklärte ich mir diese kindische Ueberschätzung geringfügiger Gegenstände, diese ernste Behandlung von unwichtigen Dingen, dieses Hochanschlagen von Vorfällen und Aeußerungen, die so oft solcher Beachtung nicht werth sind.

Nicht ein Wort, das irgend auf Politik Bezug haben konnte, bekam ich während der Stunden, die ich in der „Messe“ zubrachte, zu hören; und wären mir einige der Anwesenden und ihre Ueberzeugungen nicht näher bekannt gewesen, ich hätte gedacht, was viele Andere denken und sagen, daß diese Menschen auf nichts weiter, als auf ihr Vorrücken, auf ihr Glückmachen und Wohlleben bedacht und bereit sind, wie die Landsknechte, wie die Condottieri, dem Meistbietenden zu dienen. Das verhält sich aber nicht so.

Die Ueberzeugung der Franzosen und folglich auch der französischen Officiere wird vermöge der äußeren Einwirkungen heftig und zahm, verwegen und zaghaft, und die heute schläft und todt scheint, kann morgen erwachen und gewaltig werden. Diese überraschenden Ab- und Zunahmen hat man bereits gesehen, und wer Frankreich beherrscht, muß sie in Rechnung bringen.

Sprach man nicht von Politik, so sprach man um so mehr von Krieg: Alle schienen an einen nahen Krieg zwischen Frankreich und irgend einer Macht fest zu glauben und zeigten sich mit naiver Offenheit über diese Aussicht auf bevorstehende Feldzüge hocherfreut.

„Krieg mit Deutschland oder Oesterreich, mit England oder Rußland, das gilt mir gleich, nur Krieg!“ sagte ein Hauptmann, der bei der Einnahme des Malakoff sich das Kreuz der Ehrenlegion gewonnen hatte.

„Natürlich!“ versetzte ein anderer Hauptmann, „uns gilt es gleich, ob wir über den Canal, über den Rhein oder den Mincio marschiren! den Kaiser lassen wir dafür sorgen, daß er den Krieg unter günstigen Umständen anfängt und fortsetzt!“

Von Persönlichkeiten waren nur zwei in der ganzen Gesellschaft, welche mir einiges Interesse einflößten. Den Einen sah ich an einem Ende der Tafel mit den Officierskindern, die er sorgsam und liebevoll überwachte, denen er ganz anzugehören schien, ohne sich um das, was außerhalb dieses kleinen Kreises vorging, weiter zu kümmern: es ist der Erzieher dieser Jungen, die, Dank den Lehren und Eindrücken, die sie empfangen, nichts verehren, nichts hochhalten, als das Militärwesen. Dem Meister, der solche Zöglinge bildet, beweist die ganze Gesellschaft ihre besondere Hochachtung.

Die andere Gestalt, die meine Aufmerksamkeit fesselte, wir ein Lieutenant, der in der Krim durch tiefen Schnee und feindliche Posten, ein Freiwilliger an der Spitze von Freiwilligen, eine halsbrecherische Recognoscirung vornahm, der allein mit erfrorenen Gliedern von dem Ausflug zurückgekehrt war und die verlangte Auskunft gebracht hatte. Nicht anders als mit Bewunderung sprechen sämmtliche Cameraden von ihm und seiner That. Er sieht blaß aus und ist schweigsam wie Cassius.

An die Empfangsäle stößt eine Bibliothek; ich sah mich in derselben um und konnte bemerken, daß der Büchersammlung von den Kriegsleuten wenig zugesetzt wird. – „Diese Herren lesen nur wenig!“ sagte mir ein junger Mann, der mit Ordnen der Schriften und Bücher in dem Saale beschäftigt war. Ich besah mir die Werke und fand neben Schriften, die auf das Kriegshandwerk Bezug haben, manches Buch, das anderwärts schwerlich von einer Regierung den Officieren zur Verfügung gestellt würde; ich fand Paul Louis Courrier, die Geschichte der Revolution von Thiers, die Girondisten von Lamartine, Worte eines Gläubigen von Lamennais, die Werke von Chateaubriand, Geschichte der 10 Jahre von Louis Blanc u. dergl. m. Diese Feuer zünden aber nicht, „denn diese Herren lesen nur wenig!“



  1. Die Spanier wollen mit diesem Sprüchwort andeuten, daß hinter allen wichtigen Vorfällen und Ereignissen ein Frauenzimmer steckt.