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Ohne Kreuz keine Krone/Kap.2

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« Kap.1 William Penn
Ohne Kreuz keine Krone
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[18]
Zweites Kapitel.

§. 1. Aus dem, was bisher gesagt ist, kann die Christenheit ihren Verfall und ihre große Verderbtheit erkennen. – Ihr Zustand ist wegen ihrer Ansprüche auf Christenthum nur desto [19] schlimmer. §. 2. Bei Gott ist aber Barmherzigkeit und Versöhnung durch das Blut Jesu, wenn sie ihre Sünden bereuet und ihr Leben ändert. §. 3. Christus ist das Licht der Welt, welches die Finsterniß, nämlich das Böse in der Welt, bestraft; er wird im Innern der Seele erkannt. §. 4. Die Christenheit ist, wie die Herberge vor Zeiten, in welcher kein Raum für ihn war, voll anderer Gäste. – Sie wird angewiesen, an Christum zu glauben, ihn aufzunehmen und sich an ihn zu wenden. §. 5. Von der Eigenschaft des wahren Glaubens; er giebt Kraft, jede Erscheinung des Bösen zu überwinden. Dieses leitet zur Betrachtung des Kreuzes Christi, woran es bisher so sehr gemangelt hat. §. 6. Vom apostolischen Amte; Zweck und gesegnete Wirkungen desselben. – Charakter der apostolischen Zeiten. §. 7. Vortreifflchkeit des Kreuzes Christi, und sein Triumph über die heidnische Welt; ein Spiegel für die Christen, worin sie sehen können, was sie nicht sind und was sie seyn sollten. §. 8. Die Ursachen ihres Verfalles. §. 9. Die traurigen Wirkungen, die daraus erfolgt sind. §. 10. Aus der Erwägung der Ursache dieses Verfalles, kann das Mittel zu ihrer Wiederherstellung leicht erkannt werden; oder, da die tägliche Vernachlässigung des getreuen Aufnehmens des Kreuzes die Ursache desselben ist, so muß auch das tägliche getreue Tragen des Kreuzes das Mittel zu ihrer Wiederherstellung seyn.




§. 1. Aus Allem, was dir, o Christenheit, bisher gesagt ist, und vermöge jener bessern Hülfe, – wenn du dich derselben nur bedienen wolltest! – nämlich des Lichts, das Gott in dir angezündet hat, und welches noch nicht ganz erloschen ist, kannst du nun erkennen, wie groß und entsetzlich dein Fall ist. Dann wirst du auch einsehen, wie du ungeachtet deines offenbaren Verfalles, [20] nichts destoweniger mit deinem leeren Bekenntnisse vom Christenthume deiner verderbten Selbstliebe geschmeichelt, und auf eine schreckliche Art dich selbst mit falschen Hoffnungen der Seligkeit getäuscht hast. Das Erstere macht deine Krankheit gefährlich, durch das Letztere wird sie aber fast unheilbar.

§. 2. Jedoch, da bei dem Gott des Mitleids Barmherzigkeit ist, damit man ihn fürchte, und da er keinen Gefallen an dem ewigen Tode armer Sünder hat, wenn sie auch Abtrünnige sind; sondern vielmehr will, daß Alle zur Erkenntniß der Wahrheit und zum Gehorsame gegen dieselbe gebracht, und errettet werden sollen: [1] so hat er seinen Sohn zur Versöhnung dargestellt, und zum Heilande gegeben, um die Sünden der ganzen Welt hinwegzunehmen, damit Diejenigen, die an ihn glauben und ihm folgen, in der Vergebung ihrer Sünden und ewigen Tilgung ihrer Uebertretungen die Gerechtigkeit Gottes erkennen möchten. [2] Siehe! hier ist das unfehlbare Heilmittel für dein Uebel, das Gott selbst verordnet hat; in der That eine köstliche Arznei, die niemals fehlschlägt; das große Universalmittel, dem alle Krankheiten weichen müssen.

§. 3. Du wirst aber vielleicht fragen: Was ist denn Christus? und wo ist er zu finden? Wie kann man diese Arznei für die Seele erhalten? und wie muß man sie anwenden, um ihre mächtige Heilkraft zu erfahren? Ich sage dir daher erstlich: Christus ist das große geistige Licht der Welt, welches alle Menschen, die in diese [21] Welt kommen, erleuchtet, ihnen ihre Werke der Finsterniß und Gottlosigkeit zeigt und offenbar macht, und sie über die Ausübung derselben bestraft.[3] Zweitens: Er ist nicht fern von dir, wie der Apostel Paulus den Atheniensern von Gott erklärte;[4] und Christus selbst sagt: „Siehe! ich stehe vor der Thür und klopfe an; wenn Jemand meine Stimme höret, und die Thür aufthut, zu dem werde ich eingehen und Abendmahl mit ihm halten, und er mit mir.“[5] Kann nun diese Thür, wovon Christus hier redet, wohl eine andere, als die des menschlichen Herzens seyn?

§. 4. Aber dein Herz war bisher, wie die Herberge vor Zeiten, so sehr von andern Gästen angefüllt, deine Neigungen waren so eifrig auf andere Gegenstände deiner Liebe gerichtet, daß für deinen Heiland kein Raum in dir übrig war. Darum ist das Heil noch nicht in deinem Hause eingekehrt, wiewohl es bis zu deiner Thür gekommen ist, und sich dir oft angeboten hat. Auch hast du es schon lange versäumt, obgleich du es zu besitzen vorgegeben hast. – Doch, wenn dein Heiland dich noch ruft, wenn er noch bei dir anklopft, das heißt: wenn sein Licht dir noch scheint, dich noch bestraft; so ist noch Hoffnung da, daß der Tag deines Heils noch nicht vorüber, noch nicht vor deinen Augen verborgen, – daß noch Reue möglich ist; da seine Liebe dir noch nachgehet, und seine heiligen Einladungen zu deiner Errettung noch fortdauern.

Darum, o Christenheit! glaube an ihn, nimm ihn auf, und mache die rechte Anwendung von ihm; dieses [22] ist von unumgänglicher Nothwendigkeit, wenn deine Seele ewig mit ihm leben soll. Er sagte zu den Juden: „Wenn ihr nicht glaubet, daß ichs bin, so werdet ihr in euern Sünden sterben, und wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht kommen“ [6] Weil sie nicht an ihn glaubten, nahmen sie ihn auch nicht an, und verloren also die Wohlthat seiner Erscheinung. Diejenigen aber, die an ihn glaubten, nahmen ihn an, und „Allen, die ihn annahmen,“ sagt uns sein eigener geliebter Jünger, „gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, die nicht von dem Geblüte, noch von dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.“[7] Das heißt: die nicht Kinder Gottes nach den Moden, Gebräuchen, Vorschriften und überlieferten Sagen der Menschen sind, die sich selbst den Namen der Kirche und des Volks Gottes beilegen; denn die wahren Mitglieder der Kirche Christi werden keinesweges nach dem Willen von Fleisch und Blut, oder nach der Erfindung fleischlichgesinnter, mit der Wiedergeburt und Kraft des heiligen Geistes unbekannter Menschen hervorgebracht; sondern wirklich von Gott, nämlich, nach seinem Willen und durch die in ihren Herzen wirkende, heiligende Kraft seines Geistes und Wortes des Lebens, wiedergeboren. Diese haben immer die rechte Anwendung Christi wohl verstanden; ihnen ist er in der That zur Versöhnung, Weisheit, Heiligung, Gerechtigkeit, Erlösung und Rechtfertigung gemacht.

Nun sage ich dir: Wenn du nicht glaubst, daß Er, der vor der Thür deines Herzens stehet und anklopft, der dir deine Sünden der Reihe nach vorhält, und dich zur [23] Buße (d. i. zur Reue und Sinnesänderung) ruft, der Heiland der Welt sey, so wirst du in deinen Sünden sterben, und wohin er gegangen ist, dahin wirst du nie kommen. Denn, wenn du nicht an ihn glaubst, so ist es ganz unmöglich, daß er dir helfen und deine Seligkeit bewirken könne. Er konnte ehemals, wie wir lesen, an einigen Orten nicht viele mächtige Werke verrichten, weil die Menschen nicht an ihn glaubten.[8] Wenn du aber wahrhaft an ihn glaubst, so wird dein inneres Ohr auf seine Stimme in dir aufmerksam seyn, und dann wirst du die Thür deines Herzens seinem Anklopfen öffnen. Du wirst den Offenbarungen seines Lichts nachgeben, und die Belehrungen seiner Gnade werden dir sehr schätzbar seyn.

§. 5. Es liegt in der Natur des wahren Glaubens, daß er eine heilige Furcht, Gott zu beleidigen, eine tiefe Ehrfurcht vor seinen Geboten, und eine sehr zarte Aufmerksamkeit auf das innere Zeugniß seines Geistes in uns erzeugt. Dadurch sind zu allen Zeiten die Kinder Gottes sicher zur Herrlichkeit geführet worden. Denn, so wie Diejenigen, die wahrhaft glauben, Christum mit allen seinen Gaben in ihren Herzen aufnehmen, so ist es auch gewiß, daß Diejenigen, die ihn auf diese Weise aufnehmen, durch ihn Macht empfangen, Gottes Kinder zu werden. Sie empfangen nämlich innere Kraft und Fähigkeit, Alles zu thun, was er von ihnen fordert; Kraft, ihre Lüste zu bekämpfen; ihre Leidenschaften zu beherrschen; den bösen Regungen der verderbten Natur zu widerstehen; sich selbst zu verleugnen und die Welt in allen ihren schmeichelhaften und verführerischen Lockungen zu [24] überwinden. Dieses ist das Leben des heiligen und gesegneten Kreuzes Christi, wovon in dieser Abhandlung noch nähere Erklärung gegeben wird, und welches du, o Mensch! aufnehmen mußt, wenn du je ein wahrer Jünger Jesu werden willst. Wie könnte auch sonst von dir gesagt werden, daß du Christum aufgenommen habest, oder daß du an ihn glaubest, wenn du noch immer sein Kreuz verwirfst. Denn, da Christum aufzunehmen das von Gott verordnete Mittel zur Seligkeit ist, so ist auch das tägliche Tragen seines Kreuzes der einzige wahre Beweis, daß man ihn wirklich aufgenommen habe, und darum hat er es auch Allen als das große Kennzeichen seiner Nachfolge mit den Worten auferlegt: „Wenn Jemand mit nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf, und folge mir.“[9]

Hieran hat es dir, o Christenheit! bisher so sehr gefehlt, und dieser Mangel ist die einzige Ursache deines traurigen Abfalles vom wahren Christenthume. Dieses nun wohl zu erwägen, ist eben sowohl deine Pflicht, als es dir zu deiner Wiederherstellung gewiß sehr behülflich seyn wird. Denn, so wie der Arzt durch die Kenntniß der Ursache einer Krankheit in den Stand gesetzt wird, ein richtiges und sicheres Urtheil über die anzuwendenden Heilmittel zu fällen, eben so wird es auch dir auf dem Wege deiner Genesung Licht und Aufschlüsse geben, wenn du die erste Ursache dieser geistlichen Krankheit und Schwäche, die dich befallen hat, recht einsiehest und reiflich erwägest. Um aber diese Absicht zu erreichen, wird es nöthig seyn, auf deinen ursprünglichen Zustand, und [25] folglich auch auf die Arbeiten Derer, die zuerst in dem christlichen Weinberge arbeiteten, einen allgemeinen Ueberblick zu thun. Sollten dabei auch einige Wiederholungen vorkommen, so wird die Würde und Wichtigkeit der Sache sie auch ohne Entschuldigung schon erlauben.

§. 6. Das Amt der Apostel, wie einer der Ersten, die dasselbe bekleideten, uns sagt, bestand darin: „daß sie den Menschen die Augen öffnen sollten, damit sie sich von der Finsterniß zum Lichte, und von der Gewalt des Satans zu Gott bekehren möchten;“[10] das heißt: damit die Menschen, statt den Versuchungen und Eingebungen des Satans, des Fürsten der Finsterniß, oder der Ungerechtigkeit und Bosheit, – wovon eine Benennung immer nur ein figürlicher Ausdruck der andern ist, – statt diesem mächtigen Einflusse des Bösen, wodurch ihre Verstandeskräfte verfinstert und ihre Seelen in der Knechtschaft der Sünde gehalten würden, nachzugeben, ihre Gemüther auf die Erscheinung Christi, des Lichtes und Heilandes der Welt, richten möchten, der mit seinem göttlichen Lichte ihre Seelen erleuchtet, ihnen dadurch Erkenntniß ihrer Sünden giebt, die Versuchungen und Bewegungen zum Bösen in ihnen entdeckt, und sie innerlich bestraft, wenn sie denselben nachgeben und in das Böse einwilligen; damit sie auf diese Weise Kinder des Lichte würden, und auf dem Pfade der Gerechtigkeit wandeln möchten.

Zu diesem gesegneten Werke der Verbesserung begabte Christus seine Apostel mit Geist und Kraft, damit die Menschen nicht langer in der Sünde, und in der [26] Unwissenheit von Gott und göttlichen Dingen sicher hinschlummern möchten, sondern zur Gerechtigkeit erwecket würden, und der Herr Jesus ihnen Leben geben könnte; damit sie vom Sündigen aufhören, dem Vergnügen eines ungöttlichen Lebens entsagen, mit wahrhaft reuvollem Herzen sich zu Gott wenden, und Gutes thun möchten, worin Friede geschmecket wird. Und wahrlich, Gott segnete die getreuen Arbeiten jener armen Handwerker, – welche dennoch nichtsdestoweniger seine großen Gesandten an das Menschengeschlecht waren, – in solchem Maße, daß in wenig Jahren viele Tausende, die wie ohne Gott, ohne Gefühl von ihm und ohne ihn zu fürchten, gesetzlos und[WS 1] gänzlich unbekannt mit den Wirkungen seines Geistes in ihrem Herzen, in fleischlichen Lüsten gefangen, in der Welt gelebt hatten, durch das Wort des Lebens in ihrem Innern getroffen und zu einem lebendigen Gefühle erweckt wurden; so daß sie die Erscheinung und Kraft des Herrn Jesu Christi, als eines Richters und Gesetzgebers, in ihren Herzen erkannten, indem das Licht seines heiligen Geistes die verborgenen Dinge der Finsterniß in ihnen offenbar machte und bestrafte, und aufrichtige Reue über jene todten Werke mit dem festen Vorsatze erzeugte, hinfort dem lebendigen Gott in einem neuen Leben des Geistes zu dienen. Diese lebten nun künftig nicht mehr sich selbst, und ließen sich auch nicht länger von den mannichfaltigen Lüsten hinreißen, durch welche sie von der wahren Furcht Gottes waren abgezogen und abgeleitet worden; denn das Gesetz des lebendigmachenden Geistes, wodurch sie „das Gesetz der Sünde und des Todes“ überwanden,[11] war nun ihre wahre Lust, und dieses betrachteten [27] sie Tag und Nacht. Die Ehrfurcht vor Gott durfte ihnen nun nicht mehr durch menschliche Lehren beigebracht werden;[12] sie entsprang natürlich aus der Erkenntniß, die sie von ihm durch seine eigenen Wirkungen und Eindrücke in ihren Herzen empfangen hatten. Sie hatten ihre alten Herren: den Geist der Welt, die fleischlichen Leidenschaften, und den Einfluß des Feindes ihrer Seelen verlassen, und sich ganz der heiligen Leitung der Gnade Jesu Christi ergeben, welche sie lehrete: „das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste zu verleugnen, und züchtig, gerecht und gottselig in dieser Welt zu leben.“[13] Dieses ist das wahre Kreuz Christi, und hierin bestehet der Sieg, den es Allen giebt, die es wirklich aufnehmen und getreulich tragen. Durch dieses Kreuz starben sie dem alten Leben, das sie zuvor geführt hatten, täglich ab, und durch heilige Wachsamkeit gegen die geheimen Regungen des Bösen in ihren Herzen erstickten sie die Sünde in ihrer Geburt, im Augenblicke der Versuchung; so daß sie, wie der Apostel Johannes anräth, „sich bewahrten, und der Arge sie nicht antasten konnte.“[14]

Denn das Licht, mit welchem Christus sie erleuchtet hatte, und welches der Arge nicht ertragen kann, entdeckte ihn in allen seinen Annährungen und Angriffen auf ihre Seelen, und die Kraft, die sie durch ihren Gehorsam gegen die innern Offenbarungen dieses heiligen Lichtes empfingen, machte sie vermögend, ihm in allen seinen Kunstgriffen zu widerstehen, und ihn zu besiegen. Auf diese Art konnte nun nichts mehr ununtersucht durchgehen, was sonst gar nicht untersucht wurde. Jeder Gedanke [28] mußte geprüft werden, und ehe nicht Ursprung und Zweck desselben völlig gebilligt werden konnten, verstatteten sie ihm keinen Raum in ihren Seelen. Während sie also auf diese Weise jeden Zugang in ihre Herzen genau bewachten, war nicht zu befürchten, daß sie Feinde für Freunde aufnehmen würden. – Schnell verschwanden nun auch der alte Himmel und die alte Erde, nämlich: der alte fleischliche oder jüdische, in Schatten und Bilder gehüllte Gottesdienst, und der alte irdische Sinn und Wandel, und Alles wurde täglich neu. „Man hielt den nicht mehr für einen Juden, der bloß äußerlich ein Jude war; auch war das keine Beschneidung, die äußerlich am Fleische geschah; sondern der war ein Jude, der es innerlich im Verborgenen war, und das war eine Beschneidung, die am Herzen, im Geiste und nicht im Buchstaben geschah, deren Lob nicht von Menschen, sondern von Gott war.“[15]

§. 7. In der That, die Herrlichkeit des Kreuzes leuchtete aus dem Leben der Selbstverleugnung Derer, die es trugen, so augenscheinlich hervor, daß es die Heiden mit Staunen erfüllte, und in sehr kurzer Zeit ihre Altäre so erschütterte, ihre Orakel so sehr um ihren Ruf brachte, die Menge so ergriff, daß es sogar bis an die Höfe drang, ihre Armeen überwand, und Priester, Obrigkeiten und Feldherren, als Trophäen seiner Macht und seines Sieges, im Triumphe nach sich zog.

So lange nun jener lautere Sinn unter den Christen herrschte, war auch die göttliche Gegenwart bei ihnen groß, und die Kraft, die sie begleitete, unüberwindlich. „Sie löschte des Feuers Gewalt, bändigte Löwen, wandte [29] die Schärfe des Schwertes ab, trotzte den Werkzeugen der Grausamkeit, überzeugte Richter, und bekehrte Henkersknechte.“[16] Kurz, die Mittel, die ihre Feinde anwendeten, sie zu vertilgen, dienten nur, ihre Anzahl zu vermehren; und durch die tiefe Weisheit Gottes wurden selbst Diejenigen zu Beförderern der Wahrheit gemacht, welche mit allen ihren Anschlägen ihr entgegen zu wirken suchten. Damals ward bei den Christen kein eitler Gedanke, kein unnützes Wort, keine ungeziemende Handlung, nein, nicht einmal ein unbescheidener Blick gestattet. Putz und Kleiderpracht, Verbeugungen oder körperliche Ehrenbezeugungen waren keinesweges bei ihnen erlaubt; noch weniger aber fand man unter ihnen weder Beispiel noch Nachsicht für solche niedrige Unsittlichkeiten und schändliche Laster, als unter den jetzigen Bekennern des Christenthumes im Schwange gehen. Jene waren nicht besorgt, wie sie ihre kostbare Zeit vertreiben und verschwenden sollten; nein, sie suchten dieselbe vielmehr sorgfältig zu erkaufen;[17] damit ihnen genug davon übrig bliebe, das wichtige Heil ihrer Seelen zu bewirken, welches sie denn auch mit Furcht und Zittern sorgsam thaten. Daher hatten sie auch keine Bälle und Maskeraden, keine Schauspiele, keine Tanzparthieen, Gastereien und Spielgesellschaften. Nein! Nein! „Ihren himmlischen Beruf und ihre Erwählung sicher zu stellen“[18] war ihnen weit wichtiger und theurer, als der Genuß armseliger, geringfügiger Freuden der Vergänglichkeit. Denn, da sie, wie Moses, den Unsichtbaren gesehen, und erkannt hatten, daß seine liebende Güte besser als das Leben, der [30] Friede seines Geistes besser als Fürstengunst ist; und daher den Zorn eines Cäsars nicht fürchteten; so wählten sie viel lieber die Trübsale der wahren Pilger Christi zu erdulden, als die Vergnügungen der Sünde zu genießen, – die doch auch nur von kurzer Dauer sind, – und schätzten die Schmach Christi unendlich höher, als die vergänglichen Schätze der Erde. Diese konnten endlich aber auch für Diejenigen, welche überzeugt waren, daß die mit dem wahren Christenthume verbundenen Prüfungen und Trübsale den Ergötzlichkeiten der Welt, und die Schmach Christi aller weltlichen Ehre weit vorzuziehen sei, gewiß keine Versuchung enthalten, die stark genug gewesen wäre, ihre aufrichtige Anhänglichkeit an die Religion Christi zu erschüttern.

§. 8. Aus diesem kurzen Abrisse von dem, was das Christenthum ehemals war, kannst du, o Christenheit! nun sehen, was du nicht bist, und was du folglich seyn solltest. Wie gehet es aber zu, daß wir statt eines so sanften, barmherzigen, sich selbst verleugnenden, duldenden, mäßigen, heiligen, gerechten und guten Christenthums, das Christo, dessen Namen es führet, so ähnlich war, jetzt ein abergläubisches, abgöttisches, verfolgendes, stolzes, leidenschaftliches, neidisches, boshaftes, selbstsüchtiges, trunkenes, wollüstiges, unreines, lügenhaftes, fluchendes, habsüchtiges, bedrückendes, betrügerisches Christenthum vorfinden? ein Christenthum, das aller Abscheulichkeiten, die man nur auf der Erde kennt, voll ist, und diese noch dazu in einem so hohen Uebermaße ausübt, daß es den schlimmsten der heidnischen Zeitalter zur Schande gereichen würde; indem es jene früheren Jahrhunderte noch mehr im Bösen selbst, als in der Zeitdauer [31] desselben übertrifft. Ich frage, woher kommt dieser beklagenswerthe Verfall?

Die unzweifelbare Ursache dieser Entartung ist, wie ich behaupte, keine andere, als die innere Unachtsamkeit deines Gemüths auf das in dir scheinende Licht Christi, das dir zuerst deine Sünden zeigte, dich über dieselben bestrafte, und dich lehrte und fähig machte, sie zu verleugnen und ihnen zu widerstehen. Denn, so wie deine Gottesfurcht und heilige Enthaltung von allem Bösen dir zuerst nicht durch Menschengebote, sondern durch das göttliche Licht gelehret wurde, welches dir die geheimsten Gedanken und Absichten deines Herzens offenbarte und dein Innerstes erforschte, indem es dir deine Sünden der Reihe nach vor Augen stellte, dich über dieselben innerlich bestrafte, und keine unfruchtbare Gedanken, Worte oder Werke der Finsterniß ungerichtet durchgehen ließ; so geschah es auch hernach, als du anfingest, dieses göttliche Licht, diese innere Gnade aus der Acht zu lassen, die vorhin in deinem Herzen unterhaltene heilige Wachsamkeit zu vernachlässigen, und nicht, wie zuvor, gegen Alles, was der Ehre Gottes und deinem eigenen Frieden nachtheilig seyn konnte, auf deiner Hut zu stehen; daß der rastlose Feind der menschlichen Glückseligkeit diese Erschlaffung und Unwachsamkeit schnell benutzte, und dich oft mit Versuchungen überraschte, die jedesmal deinen Neigungen angemessen waren, und ihm daher den Sieg über dich leicht machten. – Kurz, du unterließest, das heilige Joch Christi aufzunehmen, und dein tägliches Kreuz zu tragen; du gabest deinen Neigungen zu viel nach, und führtest kein Gegenregister über deine Handlungen; denn du warest abgeneigt, Christo, deinem Lichte, dem großen Bischofe [32] deiner Seele und Richter deiner Werke, in deinem Gewissen Rechenschaft zu geben. So geschah es denn, daß die heilige Furcht Gottes sich verminderte, die Liebe erkaltete, die Eitelkeit überhand nahm, und die Erfüllung deiner Pflichten dir lästig wurde. Nun trat leere Formalität an die Stelle der Kraft der Gottseligkeit; Aberglaube an die der Anordnung Christi; und obgleich Christus beständig den Zweck hatte, die Gemüther seiner Jünger vom äußern Tempel und von fleischlichen Gebräuchen und Zeremonien abzuziehen, und zur innern, geistlichen, der Natur und dem Wesen der Gottheit angemessenen Gottesverehrung anzuleiten, so wurden dennoch wieder ein weltlicher, von Menschen erfundener, prachtvoller Gottesdienst und ein weltliches Priesterthum eingeführt, und auch wieder Tempel und Altäre errichtet. „Da sahen die Kinder Gottes wieder nach den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren.“[19] Es ward nämlich das durch Reue in dir geöffnete, reine Auge, das zuvor außer Christo keine Schönheit erblickte, wieder verdunkelt, und das Auge der Weltlust von dem Gotte dieser Welt von neuem geöffnet; die weltlichen Ergötzungen, welche Diejenigen, die sie lieb gewinnen, von Gott abziehen, erlangten nun, – wiewohl sie einst um Christi willen waren verleugnet worden, – ihren alten Reitz und ihre vorige Herrschaft über deine Neigungen wieder, und so wurden sie dann, – da du ihnen nachhingest, – auch wieder die Gegenstände der Betrachtung, der Sorge und der Freude deines Lebens.

Es blieb freilich immer noch eine äußere Form des Gottesdienstes und eine scheinbare, mündliche Verehrung Gottes und Christi übrig; das war aber auch Alles. Das [33] Aergerniß und die Schmach des heiligen Kreuzes hörten auf, die Kraft der Gottseligkeit verschwand, an Selbstverleugnung ward nicht mehr gedacht. Man war allerdings sehr fruchtbar in Erfindung neuer Zeremonien und Verzierungen, allein desto unfruchtbarer im Guten; die köstlichen Früchte des Geistes blieben zurück. Denn Tausende von Schalen können nicht einen einzigen Kern, und viele todte Körper nicht einen lebendigen Menschen ersetzen.

§. 9. So sank die Religion von der lebendigen Erfahrung zu überlieferten Meinungen, die wahre Gottesverehrung von der Kraft zu der leeren Form, von dem Leben des Geistes zu dem todten Buchstaben herab. Statt lebendiger und kräftiger Gebete, die aus einem tiefen Gefühle unserer Bedürfnisse entspringen, und unter dem Beistande des heiligen Geistes hervorgebracht werden. – Gebete, in welchen die Alten mit Gott rangen, und ihn übermochten, – hörte und bemerkte man ein eingeübtes Gemurmel, eine schale, bloß aus körperlichen Beugungen und Schmiegungen, Gewänden und Geräthen, Wohlgerüchen, Gesängen und musikalischen Tönen zusammengesetzte, kraftlose Formalität, die eher zum Empfange eines irrdischen Fürsten, als zur himmlischen Verehrung und Anbetung des allein wahren und unsterblichen Gottes, eines ewigen und unsichtbaren Geistes, geeignet ist.

Da aber einmal dein Herz fleischlich geworden war, so ward es nun auch deine Religion, die du, weil sie dir so, wie sie war, nicht gefiel, nach deinem eigenen Gefallen umbildetest; uneingedenk der Worte des heiligen Propheten: [34] „Der Gottlosen Opfer ist dem Herrn ein Greuel;“[20] und dessen, was Jacobus sagt: „Ihr bittet, und empfanget nicht;“ und warum nicht? „weil ihr übel bittet;“[21] nämlich mit einem Herzen, das nicht gerade, sondern unaufrichtig ist, das sich nicht selbst verleugnet, das nicht in dem Glauben stehet, der das Herz reinigt, und daher auch die Dinge nicht erlangen kann, um welche er bittet; so daß man mit Wahrheit von dir sagen kann: dein Zustand ist durch deine Religion nur noch schlimmer geworden, weil du der Versuchung nachgiebst, dich der Ausübung deiner religiösen Gebräuche und Zeremonien wegen für besser zu halten, als du bist.

§. 10. Aus dieser Einsicht nun, die dir in deinen traurigen Abfall vom ursprünglichen Christenthume, und in die wahre Ursache desselben, – die in nichts anders, als in deiner Vernachlässigung des täglichen Kreuzes Christi bestehet, – hier gegeben ist, wird es dir leicht seyn, dir selbst von dem Mittel zu deiner Wiederherstellung einen klaren Begriff zu machen. Denn, zu derselben Thür, aus welcher du hinausgegangen bist, mußt du auch wieder hereingehen; oder: so wie du dadurch, daß du das tägliche Kreuz sinken ließest, und dich demselben entzogest, dich um deinen glücklichen Zustand gebracht hast, eben so muß auch dein Wiederaufnehmen und dein tägliches ausdauerndes Tragen desselben dich wieder herstellen. Es ist ein und dasselbe Mittel, durch welches Sünder und Abtrünnige zu Jüngern Jesu gemacht werden; wie er selbst gesagt hat: „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf, und folge mir nach; und wer [35] nicht sein Kreuz trägt, und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger seyn.[22] Nichts Geringeres als dieses wird hinreichen; das merke dir. So wie es aber hinreichend ist, so ist es auch unerläßlich. Keine Krone, als nur durchs Kreuz; kein ewiges Leben, als nur durch den Tod! Und es ist auch nicht mehr als gerecht, daß jene bösen und grausamen Leidenschaften, die Christum von neuem gekreuzigt haben, durch sein tägliches Kreuz wieder gekreuzigt werden sollten. Sein Kreuz ist der Tod der Sünde, die seinen Tod verursachte. Er selbst aber ist „der Tod des Todes,“ nach der Schriftstelle beim Hosea: „O Tod! ich will dir ein Gift seyn!“[23] (nach der englischen Bibel: „O Tod! ich will dein Tod seyn.“)


  1. Hesek. 18, 20. 23. 24.
  2. Matth. 1, 21. Luk. 1, 77. Hebr. 9, 24–28. 1 Joh. 2, 1, 2.
  3. Joh. 1, 9. Kap. 8, 12. Eph. 5, 13.
  4. Apost. Gesch. 17, 27.
  5. Offenb. 3, 20.
  6. Joh. 8, 21. 24.
  7. Joh. 1, 12. 13.
  8. Matth. 13,58. Mark 6, 5.6.
  9. Matth. 16, 24.
  10. Apost. Gesch. 26, 18
  11. Röm 8, 2
  12. Jes. 29, 13.
  13. Tit. 2, 11. 12.
  14. 1 Joh. 5, 18.
  15. Röm. 2, 28. 29.
  16. Hebr. 11, 32 bis zu Ende. Jes. 43, 2. Dan. 3, 12 bis zu Ende.
  17. Eph. 6, 15. 16.
  18. 3 Petri 1, 10.
  19. 1 Mos. 6, 2.
  20. Sprichw. 15, 8.
  21. Jak. 4, 3.
  22. Matth. 16, 24. Mark. 8, 34. Luk. 14, 27.
  23. Hos. 13, 14.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: und und


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