Musik in New York (1)
Der musikalische Kalendermann hatte einen Musikwinter von, dem Vorjahre gegenüber, erheblich erhöhter Intensität prophezeit. Aber die Voraussage bewahrheitete sich nicht. Die Konzertsaison erwies sich zwar bisher als gut und reichlich, aber nicht überernährt, die Zahl der Veranstaltungen im ganzen dürfte hinter der des vorigen Jahres zurückbleiben. Das gilt natürlich in erster Linie von den Solistenkonzerten, von denen die meisten einem öffentlichen Bedarf überhaupt nicht entsprechen, sondern nur dank privater Spekulation stattfinden. Soweit man indessen vom Besuch der Konzerte einen Rückschluss auf den Wirtschaftsstand ziehen darf, scheint sich tatsächlich ein Aufschwung zu zeigen. Die Veranstaltungen der berühmten Solisten sind nicht nur ausverkauft, sie können auch mit gleichem Erfolg beliebig oft wiederholt werden. Rachmaninoff, Kreisler, Heifetz, um nur einige der Auserwählten des grossen Publikums zu nennen, können spielen, so oft sie wollen. Carnegie Hall, der grosse, etwa 3000 Menschen fassende Konzertsaal, wird stets bis auf die Podiumsplätze besetzt sein. An Kaufkraft fehlt es nicht, es muss nur genügend Kaufanreiz da sein.
Dürftiger als die Solistenreihe repräsentiert sich die Kammermusik. Es gibt einige wenige Quartettvereinigungen amerikanischer Herkunft, die von Zeit zu Zeit eine Reihe bescheidener Abonnementskonzerte absolvieren. Naturgemäss wird nur die landläufige Literatur gespielt. Kammermusik mit Klavier gibt es, ausser einigen gelegentlichen in Solokonzerten gespielten Sonaten, überhaupt nicht, die Trio-Literatur ist sozusagen unbekannt. Wer soll sich darum kümmern? Das Publikum sucht stets die Einzelleistung, für den Sinn der Kammermusik im Konzert ist es ebenso unempfindlich wie in der Oper für den Sinn des Ensembles.
Das Hauptinteresse richtet sich, abgesehen von den Virtuosenkonzerten, auf die Orchesterveranstaltungen. Sie freilich zeigen der Zahl wie der Qualität nach einen ungewöhnlich hohen Stand. Die New Yorker Philharmonie veranstaltet allwöchentlich ein Donnerstags-Konzert, das an den drei folgenden Tagen (zweimal für geschlossene Kreise und einmal als populäres Sonntagskonzert mit Rundfunkübertragung von Küste zu Küste) wiederholt wird. Die Konzerte, als deren offizieller Leiter Toscanini gilt, wurden in dem nun abgelaufenen Teil der Spielzeit von Otto Klemperer geleitet mit betont reaktionär, opportunistischer Programmhaltung. Klemperer, vordem ein Werber für zeitgenössische Musik, hat unter dem Druck der neuen Umgebung einen bemerkenswerten Stellungswechsel vorgenommen. Es hat plötzlich seine Beziehung zu Tschaikowsky entdeckt und vertritt die Meinung, dass man Tschaikowsky bisher nur nicht richtig dirigiert habe. Daneben gab es viel Brahms, obwohl Toscanini erst in der vorigen Spielzeit einen sechs Abende umfassenden Brahms-Zyklus veranstaltet hatte: dann gab es allerlei Ravel und Schumann, Beethovens Eroika und Fünfte (vor der Zweiten, Vierten und Sechsten hört die Liebe der Dirigenten im allgemeinen auf). Bruckner, der in Amerika noch nicht für ganz vollwertig genommen, bestenfalls mit nachsichtigem Wohlwollen abgetan wird, kam mit der Achten, Mahler, der das Schicksal Bruckners in gesteigertem Masse teilt, mit der Zweiten zu Worte. Dann gab es eine Wiederholung von Bergs „Lulu“-Suite, als Novität von bemerkenswerter Physiognomie nur eine kleine Ouvertüre von Roy Harris, einem jungen Amerikaner. Das charaktervoll und frisch aufgebaute Stück wurde im Auftrag einer Plattenfirma geschrieben, ist dadurch an eine kurze Spieldauer und einen gleichsam plakatierenden Stil gebunden. Es zeigt ein selbständiges Musiziertemperament und ist aufschlussreich für die Art, wie sich gewisse Anregungen der letztvergangenen europäischen Musikperiode in der naturhaften Drastik des amerikanischen Idioms spiegeln.
Zu den Konzerten der Philharmoniker kommen regelmässige, ebenfalls abonnierte Gastkonzerte des Philadelphia-Orchesters unter Leopold Stokowski (weder Russe noch Pole, sondern Engländer mit effektvoller östlicher Namens-Variation). Stokowski ist ein stets unterhaltender Dirigent. Er gehört in die Klasse der Salonmagier, dirigiert ohne Taktstock, zaubert nur mit eleganten Handbewegungen geheimnisvolle Figuren in die Luft, trägt den bestsitzenden Frack und ist überhaupt sozusagen „Löwe“. Seine Programme sind besonders merkwürdig. Für Stokowski setzt sich nämlich jede Musik in Orchesterklang um, nicht nur Instrumentalwerke, sondern auch Gesangskompositionen alter Meister, Arien und Chöre aller Art, Opernteile, was es nur in der Musikliteratur an guten und schönen Sachen gibt, überträgt er für Orchester. Man wundert sich, dass er noch nicht die ganze Matthäus-Passion oder den kompletten „Tristan“ für Orchester allein eingerichtet hat. Dabei muss man ihm eines lassen: sein Orchester ist in klanglicher Beziehung vorbildlich organisiert. Es ist zwar ein Klang ohne Hintergrund, ohne geistige Perspektive, aber berauschend durch die Ausgewogenheit der momentanen Wirkung. Auch hat Stokowski viel für die Förderung zeitgenössischer und problematischer Musik getan. Im ganzen ist er in „Nam’ und Art“ ein typisches Beispiel dafür, wie gewisse führende Kreise des amerikanischen Publikums einen Dirigenten haben wollen, damit sie ihm applaudieren können. Stokowski hat natürlich auch jährlich seinen Primadonnenkrach mit seinem Direktorium, woraufhin er mit regelmässiger Promptheit demissioniert. Im neuen Jahr ist dieses Stadium bereits überwunden. Stokowski wird in der kommenden Spielzeit nur noch die Kleinigkeit von zwanzig Konzerten in Philadelphia dirigieren. Die Honorare mögen phantastisch sein.
Von anderem Zuschnitt ist Serge Koussevitzky. Er dirigiert das Boston-Orchester, das gleichfalls eine Reihe regelmässiger Gastkonzerte in New York veranstaltet. Der älteren Generation europäischer Musikfreunde ist er als eleganter Kontrabassvirtuose in Erinnerung: ein wohlwollendes Geschick hat ihn an die Spitze des in früheren Jahren von Nikisch und Muck geleiteten Boston-Orchesters gebracht. Er ist ein guter, zum mindesten aufgeschlossener Musiker ohne störende Manieren, er musiziert sachlich, hält sein Orchester in sicherer Ordnung und bemüht sich um eine ernsthafte pädagogische Tendenz im Aufbau seiner Programme. Auch bleibt er nahezu die ganze Spielzeit hindurch an der Spitze seines Orchesters. New York leidet naturgemäss unter dem ständigen Wechsel, wenn auch dann Toscaninis Regime während der abschliessenden zehn Wochen einen gewaltigen Aufschwung bringt.
Während so die Konzerte aus allen Schleusen strömen, wurde in der zweiten Hälfte des Dezembers die Metropolitan-Oper unter ihrem neuen Generalmanager Edward Johnson eröffnet. Das Programm ist mehr als bescheiden, es enthält nicht eine einzige Novität, mit Puccini ist hier die Musikgeschichte abgeschlossen. Eine stattliche Anzahl neuer Sänger ist verpflichtet worden, meist amerikanischer Herkunft. Aber zum grossen Teil stehen sie nicht an führenden Stellen. Bei diesen ist das meiste geblieben, wie es war. Als Hauptattraktion gilt wiederum die norwegische Sopranistin Kirsten Flagstad, eine Sängerin mit guten, wenn auch im Umfange begrenzten und technisch nicht musterhaft behandelten Stimmitteln. Man würde sie an europäischen Bühnen als schätzenswerte, obschon temperamentsmässig nicht überzeugende Darstellerin der Wagnerschen Heroinen gern gelten lassen. Erstaunlich ist nur, dass sie hier als eine Art weiblicher Caruso, als ein Phänomen, gefeiert wird. Indessen mag dem Amerikaner, der die Opern hören muss, ohne die Texte zu verstehen, die Kühle und Starre dieser Gesangsart zusagen, wie sich ja durchweg die Tendenz für eine gewisse puppenhafte Schematisierung bemerkbar macht und dem Durchschnittsgeschmack entspricht. Auf jeden Fall hat die Metropolitan in Kirsten Flagstad die dramatische Wagnersängerin, deren sie für das Publikum bedarf. Man spricht also nicht etwa von der Aufführung von Wagners „Tristan“, sondern man spricht von Kirsten Flagstad als Isolde.
Diese Attraktionskraft ist eine Tatsache, die sich nicht nur aus Reklame erklären lässt, sondern psychologische Ursachen hat. Man lebt hier mehr als anderswo von Autosuggestionen. Sie haben manchmal eine kurze, manchmal eine längere Dauer. Was wir als amerikanisches Starsystem bezeichnen, ergibt sich nicht so sehr aus dem Bedarf nach Verherrlichung der akkredierten Berühmtheit. Es ist die Notwendigkeit des Persönlichkeitskultes. Er ist für die Masse des amerikanischen Publikums Inbegriff des Kunstgenusses, und er schafft sich seine Götzen selbst, wenn sie von Natur aus nicht da sind.