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Mondnächte

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Richard Dehmel
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Titel: Mondnächte
Untertitel:
aus: Aber die Liebe
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Dr. E. Albert & Co. Separat-Conto
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans dieser Ausgabe auf Commons
S. 102-105
Kurzbeschreibung:
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[102] Mondnächte.

                    I.

Damals, Seele, ja; ich war ein Kind –
und das alte Forsthaus dumpf und eng.
Und in hellen und in dunkeln Nächten,
wenn ich so am Kammerfenster stand

5
und die großen Eichen schwarz erschauern hörte,

wurde mir das Dach noch dumpfer.
Denn immer sah ich,
drüben,
drüben fern,

10
wo aus der Waldnacht um die Felder

die Eine hohe Kiefer in den Himmel horchte,
immer ruhte dann da drüben
durch die Wolken
jener weitgewobne Schimmerkreis.

15
Und in bleichen Nächten

war er blaß und flehend
wie ein Heiligenschein,
aber in den grauen
tröstlich blau und schirmend

20
wie der Glanz von einem klaren Stahlschild

oder mild und gelb wie Kronengold;
und ich wollte König werden.
Meine Mutter aber sagte mir’s,
dort lag Berlin ...

25
[103] Damals wußt’ich nicht, warum mir bangte,

als sie mir die Stirne küßte.
Dort lag die Lichtstadt
und straalte ...

Heute ist auch Nacht;

30
der Mond will in mein Fenster,

und ich sehe über tausend Dächer.
Im schweren, weichen Schnee
ruhn und horchen mit verhaltnem Atem
die Schatten der Stadt.

35
Bis in den blauen Silberschein der Ferne

schwillt in langen Falten
weiß und zart die sanfte Decke hin,
wie über die Kissen
eines Täuflings.

40
Die aber, die darunter schlafen –

und wachen? – –
Schwarz und scharf
stechen die Türme,
Kirche neben Kirche,

45
in den kühlen Himmel;

stahlspitz flittert ein Glanz
um die finsterhohe Kuppelkrone
jenes Palastes,
und über einem dicken Schlote

50
stockt ein Schild von Qualm.

Jetzt, unten an der Ecke drüben,
wo eine Gaslaterne
trübgelb mit dem Mondlicht kämpft,
schimpft ein frierender Schutzmann

55
ein betrunknes Straßenmädchen aus.

Seele, ja:
da liegt Berlin ...

                    II.
  
[104] Der Nebel staut sich,
Hütten dunkeln,

60
Dorfgiebel fliegen über Lichtern hin,

noch bleicher wird die Nacht;
die jagende Wagenkette,
schwenkend, strafft sich,
die Maschine heult Warnung,

65
und vorbei.

Ein entlaubter Kirchhof,
und wieder kreisen
um mein klirrendes Fenster
die toten Wiesen,

70
huschen Büsche,

eilt der fahle Streifen Horizont
auf den kriechenden Wäldern lang;
mich fröstelt.

Drei Monate:

75
da war die Mondnacht warm und anders.

Wie auf Wolken
trug der kleine Kahn des stummen Fischers
uns den Strom hinab,
selbst die Schatten gaben Licht;

80
an meiner Seite saß ein Freund,

und ich sagte ihm
alle meine Sünde – und ihr Glück.
Und über ihrem Giebel,
unterm Baldachin der Königspappel,

85
als wir durch die Brücke bogen,

stand groß und strahlend,
wie in einem Tabernakel,
der goldne Mond
[105] und neigte flimmernd auf das Moos des Daches

90
sein grünes Haar.

Gestern aber, als ich Abschied nahm:
„Mein Fräulein, Glück?“ – Und jener Freund
dachte wol schon damals:
du Tropf und Schuft!

95
Mein Fenster schwitzt;

das kühlt die Stirne;
gleich und gleich gesellt sich gern.
Wirbelnd rollt ein funkendurchwirkter Dampfknäul
bleich ins bleiche Feld;

100
ein Dornbusch zerreißt ihn.

Jetzt: dort starrt,
wie durch ein Gitter ein Wahnsinnskopf,
der grelle Vollmond durch die kahlen Birken;
die Zacken weichen,

105
mit seinen langen blassen Füßen

läuft er auf den blanken Schienen
meinen rasenden Gedanken nach.