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Mitternachtsprediger

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Textdaten
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Autor:
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Titel: Mitternachtsprediger
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 35–36
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Max Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, 3. Auflage 1889, Band 1 Google-USA*, Band 2 Google-USA*, darin Seite 92 „Mitternachtsprediger“
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[35] Mitternachtsprediger. Im Lande der „Heilsarmee“ finden sich allerlei merkwürdige Erscheinungen auf dem Gebiete religiösen Lebens; zu diesen gehören auch die Mitternachtsprediger. Wer spät abends am Sonntag durch die Straßen Londons geht, wenn die Menge von den Ausflügen aufs Land zurückkehrt und die verschiedenen Stadteisenbahnen Hunderte von Passagieren heimbringen, der hört oft an den Kreuzungspunkten vieler großer Straßen mitten im dichtesten Gedränge ein klägliches „O!“ ertönen, das sich mehrfach noch jämmerlicher wiederholt. Die Menge sammelt sich um ihn; da fügt er die erklärenden Worte hinzu: „Ihr elenden Sünder!“ Man könnte glauben, es mit einem Irrsinnigen zu thun zu haben; doch bald erfährt man, daß es ein Prediger sei. Nachdem sich ein Zuhörerkreis um ihn gebildet, spricht er wohl eine halbe Stunde fort in ruhigem Ton, ohne sich um muthwillige Störungen und spöttische Heiterkeit zu kümmern; die Zuhörer wechseln, einige kommen, andere gehen. Doch ein nicht geringer Theil hält aus, hört andächtig zu und begleitet den Redner sogar bis zur nächsten Straßenecke, wo er seine Predigt von neuem beginnt.

Die Engländer nehmen diese Prediger durchaus ernst und sind überzeugt, daß dieselben ein gottgefälliges Werk thun. Es existiren große und mächtige Gesellschaften, welche diese Bewegung unterstützen, und im Lande sind fortwährend Sammlungen für diesen Zweck im Gange, die ein stattliches Ergebniß liefern. Tiefe Börsen thaten sich auf; es besteht eine [36] Stadtmission, Prinzen von königlichem Geblüt interessirten sich für die Sache. Anfangs waren die Straßenprediger gutbesoldete anständige Reverends in schwarzen Röcken und mit weißen Kravatten, die zum Theil sogar einen Jungen mit sich führten, der ein leichtes Pult und eine schwere Bibel trug, und die Sache hatte Schick und Art. Später aber wurde die Bewegung immer mehr verwahrlost; neben den bestellten Missionären begannen unberufene Prediger zu wirken, die nicht immer in der erbaulichsten Weise das Wort Gottes verkündeten. Die Reverends zogen sich allmählich zurück und ihre Stelle nahmen ruppige Gesellen ein, die von Salbung troffen, aber auch gleichzeitig nach Gin dufteten. Bald fanden sich Mitternachtsprediger ein, die mit allen Regeln der Grammatik auf gespanntem Fuße lebten, und sie wurden für die Mehrzahl der Passanten eine Quelle der Erheiterung. Nun mischte sich auch bisweilen die Polizei ein. Jeden Montag stehen einige Straßenprediger als Urheber von Straßenaufläufen und Verkehrsstockungen vor dem Polizeirichter. Die Praxis, die man ihnen gegenüber befolgt, ist eine sehr verschiedene. Manche Richter ertheilen dem Policeman für seinen Diensteifer am unrechten Orte einen scharfen Verweis und entlassen den Prediger mit Lobsprüchen; andere, in denen der Ordnungssinn stärker ist als die Frömmigkeit, drohen mit einer empfindlichen Strafe bei abermaliger Verkehrsstörung in den Straßen. Einmal wurde indeß auch ein unglücklicher Straßenprediger zu vierzehntägiger Haft verurtheilt; doch in diesem Falle ging die Aussage des Policeman dahin, der fromme Cityapostel habe sehr geschwankt, stark nach Weingeist geduftet, sei wiederholt zu Boden gefallen und habe einem ältlichen Zuhörer, der einen Zweifel an der Richtigkeit der vom Redner beliebten Eintheilung der Teufel in drei Hauptklassen ausdrückte, einen heftigen Faustschlag aufs linke Auge versetzt.

Das erzählt Max Nordau in seinen geistreichen Reiseskizzen „Vom Kreml zur Alhambra“, von denen soeben eine dritte Auflage erschienen ist (2 Bde. Leipzig, Elischer Nachfolger).