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Mimer und seine Freunde

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Textdaten
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Autor: Johann Benjamin Erhard
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Titel: Mimer und seine Freunde
Untertitel: Ein Dialog
aus: Neue Thalia. 1792–93.
1793, Dritter Band,
S. 51–74
Herausgeber: Friedrich Schiller
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1793
Verlag: G. J. Göschen’sche Verlagsbuchhandlung
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Quelle: UB Bielefeld bzw. Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzung von Mimer und seine jungen Freunde
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[51]
III.
Mimer und seine Freunde.
Ein Dialog.



Fortsetzung.
(Siehe zwölftes Stück der Thalia.)

Heimdal. Hier, Mimer, kanst Du dich auf den Stock der alten Eiche setzen, und ich setze mich neben dir ins Graß. Mir schadet der Morgenthau nichts.

Mimer. Warum soll er Dir nicht schaden?

Heimdal. Weil ich mich nicht so weichlich gewöhnte, daß mich jedes rauhe Lüftchen ins Zimmer bannt, und jede kalte Nässe meine Glieder lähmt.

Mimer. Aber es giebt doch Menschen, denen diese Behutsamkeit nothwendig ist, und denen Du selbst deine Lebensart nicht rathen würdest.

[52] Heimdal. Allerdings; sie sind nun einmal verzärtelt und müssen dafür büßen, daß sie Weichlinge sind.

Mimer. Sind sie es aber alle durch ihre Schuld? wurde nicht der Grund zu ihrer Gebrechlichkeit oft schon in Jahren gelegt, wo sie noch nicht ihren Willen erklären konnten?

Heimdal. Diese verdienen Mitleid, aber deswegen bleiben sie doch sich und andern eine Last.

Mimer. Aber die Schuld, diese Last auferlegt zu haben, trift dann ihre Vorfahren.

Heimdal. Ja! diese.

Mimer. Aber diese müssen geglaubt haben ihnen Gutes zu erweisen, und es trägt also ihr Verstand und nicht ihr Herz die Schuld.

Heimdal. Seinen Verstand nicht aufklären wollen, ist ein Verbrechen des Herzens.

Mimer. Wie aber, wenn sie irre geleitet wurden, wenn diese Personen, denen sie sich vertrauten, [53] deren Alter und deren Geschäfte ihnen ein Recht gaben, Vertrauen der jüngern und überhaupt aller Personen denen die bürgerliche Verfassung kein Geschäft auftrug, das die hieher gehörigen Kenntnisse voraussetzte, zu fordern, sie zu Irrthümern verleiteten?

Heimdal. So tragen diese die Schuld!

Mimer. Ist es ein Verbrechen den Unterricht anderer zu benutzen?

Heimdal. Dann wäre ich ein Verbrecher; aber wozu diese Frage?

Mimer. Kann man ununterrichtet beurtheilen, ob ein Unterricht gut oder schlimm sey?

Heimdal. Das wohl nicht: aber warum diese Frage?

Mimer. Diejenigen Personen, denen Du die Schuld beymißest, können daher von ihren Lehrern eben so unschuldig mißleitet worden seyn, als es die andern von ihnen wurden.

Heimdal. Nun so sind diese die Verbrecher, die sich ohne hinlängliche Kenntnisse zu Lehrern aufwarfen.

[54] Mimer. Das mag seyn, aber so hätten wir schon die Schuld eines Vorwurfes, der unser Zeitalter bis auf die dritte Generation zurückgeschoben, und die gegenwärtige verdiente nicht angeklagt sondern bedauert zu werden, daß sie die Schuld der vorigen tragen muß. Wenn wir die Vorwürfe, die Du unserm Zeitalter machst, auf diese Art durchgiengen, scheint es dir nicht daß wir bey den meisten auf dieses Resultat kämen?

Heimdal. Wahrscheinlich bis zur Erbsünde der Theologen.

Mimer. Und deswegen, willst Du damit sagen, tauge diese Schlußkette nichts?

Heimdal. Ja, ich verheele es nicht daß mich diese Consequenz Fehler darinnen vermuthen ließe, wenn ich sie auch nicht darinn zu finden wüßte.

Mimer. Du bist also sicher daß jene Consequenz falsch ist.

Heimdal. Ja!

Mimer. Aus welchen Gründen?

[55] Heimdal. Weil sie eine Frage beantwortet, die sich kein Mensch zu machen braucht, nehmlich: woher kommt ursprünglich das Böse? da es sich doch erst schickte, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, wenn jeder Mensch sich diese folgende beantwortet hätte: wie vermeide ich das Böse?

Mimer. Ich will nun nicht untersuchen, ob sich die letzte befriedigend beantworten läßt, ohne die Quellen des Bösen so weit hinauf als möglich zu verfolgen, sondern nur die Folge aus deiner Behauptung ziehen: daß, wenn es sich nicht einmal schickt, die Frage, welche auf die hypothetische Behauptung der Erbsünde führen könnte, aufzuwerfen, es noch unschicklicher wäre, über die Erbsünde zu seufzen und zu klagen.

Heimdal. Diese Folge ist richtig.

Mimer. Vergiß nicht, daß Du sie richtig fandest, und sage mir, weißt du schon alles Böse, das Du unserm Zeitalter vorwirfst, zu vermeiden?

Heimdal. So verwegen bin ich nicht, dieses zu behaupten.

Mimer. Du hast also die Quellen von dem Verderben unsers Zeitalters noch nicht untersucht, [56] denn nach deiner Denkungsart müßtest Du mit der ersten Frage über die eigne Vermeidung ganz im reinen seyn, ehe du zur zweiten, über die Quellen des Bösen bey andern schrittest?

Heimdal. Nun ja!

Mimer. Verurtheilst du die Menschen, nach dem bloßen Aeussern ihrer Handlungen, oder suchst Du die Beweggründe als die Quellen derselben auf, um ein Urtheil über sie zu fällen; ist es Dir genug zu wissen, jener hat einen erschlagen, um ihn einen Mörder zu nennen, ohne zu fragen ob der Erschlagne nicht ein Straßenräuber war, der ihn anfiel?

Heimdal. Freylich muß man nach den Beweggründen urtheilen.

Mimer. Und was gegen einen billig ist, ist es auch gegen viele?

Heimdal. Allerdings.

Mimer. Woher hast Du nun ein Recht, Dein Zeitalter anzuklagen, da Du die Frage wegen seiner Schuld nicht einmal noch, deiner Denkart gemäß, untersucht hast?

[57] Heimdal. Dorten sehe ich Balder kommen und ich dächte wir warteten mit der Fortsetzung unserer Unterredung bis er herkäme.

Mimer. Wie du willst. Ich muß so noch aber manches, eure gestrige Unterredung betreffend, fragen: denn Du scheinst mir schon unwillig zu seyn.

Balder. Guten Morgen! ihr habt euch heute frühe herausgemacht. Aber Heimdal, du scheinst mir noch wenig erheitert zu seyn?

Heimdal. Ich wüßte nicht wodurch. Mimer hatte bloß seine Freude daran, mir zu beweisen, daß er in dreymal soviel Jahren, auch dreymal soviel mehr Geschicklichkeit erlangt hat, nach Sokrates Art mich zu verwirren, als ich, es zu hindern.

Balder. Ist dies dein Dank für Mimers Unterricht, den er uns ertheilt?

Heimdal. Unterricht erkenne ich immer mit Dank, aber blos herumzufragen, um einen zu beschämen, mit ewigem Zergliedern alle Begriffe in Nichts aufzulösen, und sich daran zu laben, das heißt doch wohl nicht Unterricht? [58] Mimer, ich gehe fort! und wenn ich wieder zu dir komme, dann werde ich fragen; dann beantworte mir nur die leichte Frage: muß der Mensch leben? Ich werde bald kommen, denn du brauchst wohl so wenig Bedenkzeit zu Antworten als zu Fragen? Lebt wohl![1]

Balder. Mimer lasse ihn nicht in dieser Laune von Dir, zeige ihm Licht, das ihn durch die Verwirrung und die Finsternisse die er überall zu finden glaubt, leite.

Mimer. Er soll gehen!

Balder. Bist Du dann wirklich von ihm beleidigt?

Mimer. Nichts weniger, aber ihm will ich in seiner jetzigen Laune den Trost lassen, als wäre ich es.

[59] Balder. Für so böse kannst Du Heimdal halten, daß es ihn trösten könne, Dich beleidigt zu haben!

Mimer. In so ferne dieser Zug bleibend in seinem Charakter wäre, freylich nicht; aber als vorübergehend, ist er auch bey einem sehr guten Menschen möglich. Heimdal ist in dem Zustand des Erwachens seiner Kräfte, er übte sie und die ersten Versuche gelangen. Er fühlt daß noch viel für ihn zu erringen ist, und strebt immer nach neuen Eroberungen für seinen Geist, ohne auf die sichre Behauptung der bereits gemachten, zu denken, und wer ihm die Ungewißheit seiner für ausgemacht anerkannten Wahrheiten zu zeigen sucht, den sieht er, beynahe unwillkührlich, als einen Verhinderer seiner fernern Eroberungen an. Wem sein Unmuth darüber ganz gleichgültig schiene, den hielte er für einen Menschen, dem an seiner Achtung gar nichts gelegen wäre, und könnte ihn daher nie lieben. Es ist dieß ein allgemeines Schicksal eines jeden Menschen, wenn er anfängt selbstständig zu werden, nur bey jedem nach seinem ursprünglichen Charakter anders modificirt. Am wenigsten bricht dieser Unwille bey denen aus, welchen die Natur eine blühende Phantasie gab, wie sie Dir, Balder, verlieh. Heimdaln treibt jetzt noch etwas [60] herum, er wünschte lieben zu können, und nichts entspricht seinen einseitigen Idealen.

Balder. Du verzeihst ihm also seine Hitze?

Mimer. Ich liebe sie an ihm, bis er Mann wird.

Balder. Aber wodurch ward er denn so aufgebracht?

Mimer. Weil ich ihm zeigen wollte, daß er noch gar kein befugter Richter über unser Zeitalter seyn könne; und er dagegen erwartete: ich sollte ihm Beyfall geben; ihn wegen seiner Unzufriedenheit mit der verderbten Welt loben; ihm dann zeigen, wie doch zuletzt aus allen diesen Uebeln Gutes entspringt, und sie nur der Menschheit zur fernern Ausbildung dienen; und ihn dann versichern, daß er auch ein tüchtiger Arbeiter nach dem Plan der Vorsehung werden könne.

Balder. Dieß erwartete ich auch von Dir zu hören.

Mimer. Ich sagte Heimdaln einiges dahin gehörige, aber er schien nicht dazu vorbereitet, sondern [61] noch in einseitiger Laune zu seyn, und die Seele muß zuvor selbst im Gleichgewichte seyn, ehe sie Gründe gegeneinander abzuwägen im Stande ist.

Balder. Aber es hätte ihn gewiß ruhig gemacht, wenn Du ihm den Keim zum Guten in den anscheinenden Uebeln gezeigt hättest.

Mimer. Ruhig vielleicht, aber nicht besser.

Balder. Wie verstehst du das?

Mimer. Guter Balder, nichts scheint beym ersten Anblick unschuldiger und schicklicher für den Menschen, als den verborgenen Wegen der Vorsehung nachzuspüren, zu suchen ob sich nicht in dem unbestimmt scheinenden Lauf der Schicksale der Menschheit dennoch ein gerader Fortschritt zur Ausbildung finden läßt, und ob die Fortschritte des ganzen Geschlechts für dieses Erdenleben, uns nicht gleichsam Bürgschaft für den Fortschritt des ganzen von uns gewünschten Lebens, wovon dieses Erdenleben nur ein Theil ist, abgeben: aber auch diese Bemühung kann für uns schädlich werden, wenn wir nicht über unser Herz wachen. Das Licht, das uns oft in glücklichen Stunden hierüber aufgeht, kann uns [62] leicht blenden und stolz machen. Dadurch daß wir den Plan der Vorsehung gleichsam zu übersehen glauben, halten wir uns leicht für selbstgeschäftige Mitarbeiter derselben, und setzen uns in Gedanken eine Stufe höher als andere Menschen, die wir für völlig untergeordnet annehmen. Wir vergessen auch sehr leicht, daß unsere Einsicht in diesem Falle doch nur problematisch bleibt, und wer nicht nach unserer Hypothese den Plan der Vorsehung befördert, der ist uns ein Verruchter, den wir vertilgt wünschen oder völlig verachten, nachdem unsere Gemüthsart leidenschaftlicher oder großmüthiger ist. Kurz wir werden übermüthig und aus dem, dem Anschein nach, edelsten Bestreben unsers Geistes, kann die schlimmste aller Folgen die Verketzerungssucht[WS 1] in allen ihren Arten folgen. Die Stimmung Heimdals schien mir sich sehr dahin zu neigen, und deßhalb wollte ich nicht, ehe er demüthiger gestimmt war, über Gegenstände sprechen, die uns auf Religionsbegriffe dürften geleitet haben.

Balder. Ich habe aber öfters über diesen Punkt mit Heimdal gesprochen, und ich verdanke ihm größtentheils meine erweiterte Denkart in der Religion, er sprach jederzeit wider den Sektengeist, und gegen die Verketzerungssucht.

[63] Mimer. Mit Feuereyfer, nicht wahr?

Balder. Heftig wurde er meistens, aber das ist seine Art.

Mimer. Diese Entschuldigung hört man jetzt häufiger als sonst, und dieses ist eine meiner Klagen gegen unser Zeitalter, daß man zu glauben scheint, der Mensch müsse so seine Art haben, und sich nicht nach dem Leisten eines moralischen Compendiums richten. Diese Nachsicht gegen Eigenheiten, die nicht thätig gegen die jetzige Verfassung streiten, bereitet den Menschen zu, ein Spiel für diejenigen zu werden, die sich derselben zu ihrem Vortheil zu bedienen wissen. Wenn dieser Entschuldigung noch in unserer Erziehungslehre gehuldigt wird, wie die Eigenheiten, die sich die Anführer der neuen Pädagogensekte erlauben, gar nicht zweifeln lassen,[2] so fürchte ich, daß die meisten unserer künftigen jungen Leute hinlänglich vorbereitet sind, um ein Fang für die immer mehr einreissenden geheimen Gesellschaften zu werden.

[64] Balder. Anstatt mir Hoffnung einer bessern Zukunft zu geben, finde ich auch Dich geneigt, mir die meinige zu rauben.

Mimer. Das will ich nicht, aber eben so wenig möchte ich dich den Täuschungen einer von einem gutmüthigen Herzen bestochnen Phantasie überlassen. Damit ich aber die Aussichten, die sich Dir eröffnen, ganz kenne, und wir sie dann zusammen prüfen können, so erzähle sie mir; ich werde sie ohne Unterbrechung anhören.

Balder. Nun wohlan! Vorher aber muß ich alles zu vergessen suchen, wodurch gestern Heimdal meiner Phantasie die Flügel beschwert hat. Dieß wird nicht besser geschehen, als wenn ich mir, nach Dichterart, die Begeisterung einer Gottheit erflehe. Zu dir, wohlthätige Menschenliebe, will ich mich wenden; zu dir! die du den Eigennutz aus der Brust des Denkers so oft verbanntest, während er, gefesselt mit Ketten falscher Vernunftschlüße, seine Allmacht laut verkündigte; Zu dir! die du den Läugner deines heiligen Vaters, des Weltschöpfers, dennoch durch die Kraft deiner allmächtigen Abkunft zwangest, sich und andern die Beforderung des Glücks des Nächsten zur Pflicht zu machen; Zu dir, die du die Hand des Menschen, der seine [65] Pflichten noch nicht zu denken vermag, zum Wohlthun leitest; zu dir, die du den Ueberfluß des Reichen unter die Dürftigen theilest. Erhöre meine Bitte und erfülle meine Brust! Von dir gestärkt, wage ich es, dein nahes Reich zu verkündigen, und jetzt die Vorbereitungen zu deiner allgemeinen Huldigung zu zeigen. – Kein Jahrhundert hatte noch bessere Anstalten, Wahrheiten, die Einzelne entdekten, unter Viele zu verbreiten; und in keinem war noch der Schauplatz der Ehre und Schande größer als in diesem. Wer kann läugnen, daß die Masse der Kenntnisse nun größer als jemals, und der Menschen, die sich um einen Antheil an ihr bewerben, auch mehrere sind, als je ein Zeitalter aufzuweisen hatte. Diese Beschäftigung mit Gegenständen des Verstandes vermindert den heftigen Einfluß der Gegenstände fürs Herz, und macht uns dadurch weniger leidenschaftlich. Unsre Sitten sind sanfter, und wenn man sie auch nicht biederer, als die der vorigen Jahrhunderte nennen kann, so schweifen sie doch weniger aus. In den so gehaßten barbarischen Jahrhunderten, zeigte sich doch ein Vermögen des Menschen, das vorher noch nie so offenbar wurde; nehmlich das: einem übersinnlichen Interesse das Zeitliche aufzuopfern. Unsere Zeit findet das Herz des Menschen schon für die hohe [66] Idee der Vernunft gewonnen; wir sind nicht bloß Bürger eines zeitlichen Staates, wir sind auch Bürger unter der Gesetzgebung eines ewigen heilgen Willens. Lassen wir die Erzieher der Neigung ihrer Zöglinge zu sehr schmeicheln; viele werden dadurch weniger brauchbar, aber alle dadurch selbstständiger werden. Lassen wir die Menschen sich durch geheime Gesellschaften täuschen; sie werden dadurch lernen, daß Vernunftideen keine Geheimnisse sind, sondern jedem biedern und denkenden Menschen von selbst offenbar werden, und keinen andern gelehrt werden können: und dieser Hang zu Geheimnissen wird sich dann selbst ausrotten, wenn sie durch Schaden gelernt haben, daß das Schlimme sich in seinen Wirkungen dennoch verräth, und selbst das Gute sich unter der Maske des Geheimnisses kaum vom Verdacht des Betrugs retten kann. Sollte sich etwan unser Zeitalter von dem Vorwurf der Sklaverey und der Unterdrückung nicht retten könne? Wer setzt unserm Zeitalter nicht Griechen und Römer entgegen, als freye und große Menschen? Aber waren diese freye Menschen nicht auch Unterdrücker? Hatten sie nicht Sklaven? Kann man daher sagen, sie stritten für ihre Freyheit, oder muß man sagen, sie stritten für ihre Herrschaft? Gewiß, wir nähern uns der wahren Freyheit mehr. Aus den Jahrhunderten der Unwissenheit [67] hat sich die Leibeigenschaft noch erhalten, und wir vermindern sie nun. Wer Leibeigne hat, kann nicht für seine Freyheit, sondern nur für seine Herrschaft kämpfen; diese Wahrheit wird nun erkannt, und dieses giebt uns die Aussicht, auf die künftige Bildung eines freyern Staates, als bis jetzt sich noch in der Geschichte findet. – Kein Vorwurf trift unser Zeitalter mehr, als der des Luxus. Heimdal schilderte gestern seine traurigen Wirkungen so lebhaft, daß er meinen Verstand durch mein Herz gefangen nahm, und ich ihm recht ließ, um nicht mehr Kummervolles hören zu müssen; aber nun sehe ich auch davon Früchte, die der Begießung so vieler Thränen, als das Elend, das er uns bringt, kostet, werth sind. Läßt er uns oft den wahren Lebensgenuß gegen Schimmer aufopfern, so gewöhnt er uns dafür auch, die Form an den Dingen, die von uns sind, mehr als den rohen Stoff zu schätzen, der nicht in unsrer Gewalt ist. Er giebt uns ausser den wirklichen Gütern noch Güter der Einbildungskraft, die wir genießen können, ohne uns zu übersättigen. Die glückliche Einrichtung unsers Erdbodens erfodert kaum den zehnten Theil seiner Bewohner, um sie alle mit den nothwendigen Bedürfnissen zu versehen, und neun Zehntheil würden müssig seyn, oder alle würden neun Zehntheil ihrer [68] Zeit dem Müssiggang widmen müssen, wären sie nicht durch die Bedürfnisse des Luxus beschäftiget. Alle Nachtheile des Luxus rühren nicht von ihm, sondern von der Niederträchtigkeit der Menschen her, die ihn gebrauchen, nicht um sich und andern erlaubte Freuden der Phantasie zu verschaffen; sondern um ihre Macht über andere zu beweisen. Die Ungleichheit der Vertheilung der Güter bringt alle diese Nachtheile hervor, nicht der Luxus an sich. Aber der Geschmack am Schönen wird dadurch allgemeiner, und die gröbern Sinne auch in ihren Vergnügungen feiner und edler werden. Ich halte dieß für eine Veredlung des Menschen, wenn er immer mit freyerer Wahl genießen lernt. Oder sollte ein Genuß dadurch unmoralischer werden, daß der Verstand mehr Antheil an ihm nimmt?

Am wenigsten werden unserm Zeitalter die großen Siege über den Aberglauben streitig gemacht, wenn man auch nicht behaupten kann, daß er völlig überwunden sey, und ich brauche darüber nichts zu sagen, sondern hätte es vielmehr gegen den Vorwurf des Unglaubens zu vertheidigen. Wird aber diese Vertheidigung schwer seyn? Man erzähle mir doch einige der Unglücksfälle, die die Freydenkerey hervorgebracht hat, welche nicht mit hunderten, die der Aberglaube [69] wirkte, könnten aufgewogen werden! Offenbarer Unglaube kann der Gesellschaft nie gefährlich werden, sondern nur geheuchelter Glaube. Mimer! du kennst meine Achtung für wahre Religion; und doch könnte ich den Menschen nicht hassen, der durch falsche Schlüsse verleitet, laut sagte: Menschen, fürchtet keinen Gott, und trauet auf keine Zukunft, die euch nie werden wird! Ich würde einen solchen Menschen bemitleiden; aber dafür den von ganzem Herzen verabscheuen, der sich der, tief in das Herz des Menschen gegrabnen, Gefühle für Religion zur Erreichung seiner selbstsüchtigen Zwecke bediente. Die Wahrheit hat keine Untersuchung zu scheuen; mit Erhabenheit geht sie dem Spötter entgegen, und ruhig erwartet sie den irrenden Denker. Die Freyheit der Untersuchung wird uns ihr noch in die Arme führen. Geistesfreyheit ist das große Ziel, dem wir immer näher rücken, ohne Unterschied des Alters und des Geschlechts. Der Druck, unter dem die Männer das weibliche Geschlecht hielten, nähert sich auch seinem Ende, und wir werden endlich aufhören, seinen Tugenden bloß nach unsern, wahren oder eingebildeten, Bedürfnissen den Rang anzuweisen; wir werden sie auch für moralische Wesen, nicht bloß erkennen, sondern auch in der bürgerlichen Gesellschaft dafür gelten lassen. [70] Sie werden uns denn weniger beherrschen, wenn sie die Erlaubnis haben uns zu rathen. So nähert sich alles seinem großen Ziele, der moralischen Cultur; und die Verfassung des Menschengeschlechts wird das Symbol der Vortreflichkeit des Menschen seyn. Dein Reich, allgütige Menschenliebe, wird eines mit der bürgerlichen Verfassung seyn, und keiner deiner Lieblinge wird mehr von Landesgesetzen verfolgt werden!

Mimer. Du hast die wahre Göttin zu deinem Beystand herbeygerufen, und ich getraue mir nicht, dir etwas tröstlichers zu sagen; selbst Heimdal, wenn er dich ganz angehört hätte, würde eingesehen haben, daß er dir nicht mit besserm Grunde widersprechen könne, als er das Gegentheil behauptet hat. Aber daran zweifle ich, daß er dich hätte zu Ende kommen lassen.

Balder. Warum?

Mimer. Weil er entschlossen war, sich nicht trösten zu lassen. Wenn er heute Abends zu mir kommt, und er kömmt sicher, so wirst du dieß deutlich sehen. Hätte er untersuchen wollen, so würde er vor allem den Begriff von einem Zeitalter genau mit dir festgesetzt, [71] und ihr würdet dann wohl gefunden haben, daß ein jeder von euch recht haben könne, nachdem ihr diesen Begriff bestimmtet. Oder ist es wirklich geschehen und du hast mir es nur nicht gesagt?

Balder. Nein, wir kamen zu bald tief ins Gespräch, und dann dachte ich selbst, es könne hierüber wohl keine Verschiedenheit unter uns statt finden. Denn ich, und ich glaube jedermann, denkt sich unter einem Zeitalter, die Handlungsweise der meisten in einem Zeitraum von 30 bis 50 Jahren lebenden Menschen, im Verhältniß zu seiner Vorstellung, wie die Menschen handeln sollten.

Mimer. Ganz gut! aber eben in diesen Verhältnissen liegt die Verschiedenheit. Man kann die Menschen einzeln betrachten, um zu sehen, ob sie gut oder schlimm sind, und die Menschheit im Ganzen, ob sie sich eine solche Verfassung gegeben hat, dadurch die bessern auch die glücklichern sind. In ersterer Rücksicht vergleichen wir die Menschen fast immer nur mit unserm Ideal, nach dem wir sie gebildet haben wollen; in der zweiten betrachten wir uns voraussetzungsweise als ganz tauglich zur Erfüllung ihrer Gesetze und ganz passend für ihre Verfassung, und prüfen, ob wir dann das Ideal, nach dem wir [72] streben, nicht aufgeben müssen: wir können daher im ersten Fall die Menschen sehr schlecht finden, ohne im andern über unser Zeitalter klagen zu können. Das schlimmste Zeitalter, in ersterer Rücksicht, ist: wenn die Menschen nicht gut seyn mögen; und im andern: wenn wir es ohne Gefahr nicht seyn können. Heimdal hatte den ersten Gesichtspunkt, und du den zweiten gefaßt.

Balder. Dieser Unterschied ist wahr, und er leitet mich noch auf einen Gedanken. Ich hatte zuvor, mehr von einer Art Begeisterung fortgerissen als bedachtsam, gesagt: die Verfassung des Menschengeschlechts würde das Symbol der Vortreflichkeit des Menschen werden, und dieß gäbe nun wohl die richtige Bestimmung des Werths eines Zeitalters ab, bey welchem man mehr auf das Ganze der Verfassung, als auf die Befolgung derselben durch Einzelne sehen muß.

Mimer. Ja, Balder, dieß ist meine Meinung von dem Werthe eines Zeitalters. Die Einrichtungen jedes Jahrhunderts zeigen, auf welcher Seite die Macht war; sie zeigen, welche Menschen ihre Vorsätze auszuführen im Stande waren, und bestimmen dadurch den Grad der Cultur, den die Menschen für dieses Leben [73] errungen hatten. Der einzelne Mensch hängt nicht von seinem Zeitalter ab; aber ob er seinen Geist durch bleibende Einrichtungen darstellen kann, und ob andre in diesen die Symbole ihrer Ideen erkennen, und sie gelten lassen wollen, darüber vermag er nichts. Reine Moralität hat ihren Wohnplatz einzig im Innern des Menschen, aber ob die bloße Befolgung der Gesetze und der Gebräuche, wenn sie auch ohne Einstimmung des Herzens geheuchelt werden, doch die Tugend gleichsam in einer Schriftsprache darstellen, die bey den Tugendhaften lebendiges Wort wird; dies hängt von dem Siege der Wahrheit, und von der größern Fertigkeit, die Heucheley zu erkennen, ab, wodurch die Verfassungen geläutert wurden. Ich überlasse mich oft den tröstenden Gedanken, daß wir uns dem Punkt nähern, wo die Menschheit lernen wird, daß sie auch hier am glücklichsten lebt, wenn ihre Handlungen das Vorbild einer im Reiche der Wahrheit und Liebe gehofften Zukunft sind, und wenn ihr die Vernunft sagt, daß kein Unterschied dorten seyn kann zwischen Herr und Knecht, sondern jeder als Vernunftwesen Gesetzgeber, und jeder als Geschöpf Diener dieses Gesetzes seyn wird; daß sie auch hier sich mit dem Namen Bürger in allen ihren Verhältnissen begnügt, als das schönste [74] Vorbild einer Gesetzgebung, die jeder will, und Antheil an ihr hat, und ihr dann doch gehorchen muß. Doch davon ein andermal, jetzt rufen mich Geschäfte zurück. Auf dem Wege werde ich dir erzählen, was ich mit Heimdal sprach. Du wirst ihn dann aufsuchen.

(Die Fortsetzung künftig.)

  1. Der Grund dieser Hitze Heimdals, und der Frage mit der er Mimern verläßt, wird sich im nächsten Gespräche, über den Selbstmord, hinlänglich, für den jetzt vielleicht dadurch überraschten Leser, entdecken.
  2. Von welchen hier die Rede seyn kann, die sind wohl schon todt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Verkezterungssucht