Meine Seele erhebet den Herrn/b) Lehrerin der Blauen Schule unter Löhe
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1862 | Stiftung des „Siechensaals“ im Westflügel des Mutterhauses durch Schwester Cäcilie Pöschel. |
1862 | Beginn der Staatserziehungsanstalt. |
1862 | Einweihung des Rettungshauses. |
1865 | Einweihung des Magdaleniums, das mit Hilfe von Prinzessin Elise zu Hohenlohe-Schillingsfürst erbaut wurde. |
1865 | Erste Beteiligung Neuendettelsaus an der Kaiserswerther Generalkonferenz der Diakonissenhäuser. |
1865–1870 Terminieren. | |
1866 | Weggang von Konrektor Lotze; Deinzer wird Löhes Vikar. |
1866 | Eröffnung der ersten Filiale Polsingen. |
1866 | Krieg mit Österreich. |
1866 | 25jähriges Jubiläum der Arbeit in Nordamerika. |
1867 | Beginn der Arbeit in München. |
1870 | Krieg mit Frankreich. |
1872 | 2. 1. Löhes Heimgang. |
Als Lehrerin der Blauen Schule, der eigentlichen Diakonissenschule, fühlte sich Schwester Therese noch mehr an ihrem Platz als vorher bei den Kindern.
Das vorherrschende Thema in den Briefen aus diesem Zeitabschnitt ist das Befinden Löhes. Löhe glaubte sich öfters dem Tode nahe und erkannte, daß die enge Verbindung von Dorfpfarramt und Diakonissenanstalt auf die Dauer nicht bleiben könne. Nachdem die Diakonissenanstalt schon 1860 ihren eigenen Betsaal erhalten hatte, bekam sie auf Löhes Ansuchen hin 1864 die kirchenregimentliche Erlaubnis zur Anstellung eines eigenen Hausgeistlichen. Löhe wollte in Konrektor Lotze sich einen Nachfolger erziehen. Aber der verfrühte Versuch scheiterte. Lotze ging 1866 in seine Heimatkirche zurück, und Löhe sah ein, daß er die Sorge für die Zukunft Gott überlassen müsse.
Am Krieg 1866 kamen Neuendettelsauer Diakonissen nur in den Lazaretten von Kissingen, Würzburg und Veitshöchheim zum Einsatz. Doch erhielt Löhe 1867 als Anerkennung seiner Verdienste um die Verwundetenpflege im Krieg den Orden vom Heiligen Michael I. Klasse. Daraufhin fingen in München die Vorurteile gegen Neuendettelsau zu schwinden an, und es konnte die erste Neuendettelsauer Station dort begründet werden. Am Krieg 1870/71 pflegten über vierzig Neuendettelsauer Schwestern in Frankreich und in Lazaretten in der Heimat; andere wurden vorübergehend für Verwundetentransporte freigemacht.
Liebstes Mutterle, ich beeile mich, wegen der letzten Station auf der Herreise die nötige und gewünschte Auskunft zu geben. Ich halte es von wegen des etwa eintretenden schlechten Wetters und des für Dich am Ende doch beschwerlichen Weges von Windsbach her und drittens von wegen des nur zweisitzigen, daher nicht ganz zuverlässigen Postwägleins für das Ratsamste, wenn ich am Ostersamstag ein Fuhrwerk nach Triesdorf schicke, auf welches ich mich selber setze, damit ich um so eher bei Euch bin. Auf dem Rückweg setze ich mich dann auf den Bock. Also ich werde am Ostersamstag den Zug, der, ich weiß nicht, um 9 oder 10 Uhr, eben vormittags nach Triesdorf kommt, erwarten...
Denke nur, Doris ist jetzt Hausmutter im Pfründhaus. Es ist in den Berufen eine völlige Umwälzung. Auch mir wurde heute angekündigt, daß ich wahrscheinlich nächstes Semester eine etwas andere Stellung im Hause einnehmen soll. Morgen werde ich auch eine Rechnung übernehmen: Ausgaben und Einnahmen für unsern Betsaal. Rechnungs- und Inventarwesen spielen in unserem Hause eine gewaltige Rolle. Ich beteilige mich mit Freuden dabei von wegen der pädagogischen Kraft, die diese beiden Ungetüme – so erscheinen sie vielen – ausüben. Ach, meine liebste Mutter, danke doch dem lieben Gott recht oft, daß er mich gerade so geführt hat, wie er mich geführt. Ich habe hier mein Lebensglück gefunden und wünsche mir nie etwas anderes, als was ich jetzt habe. Nur frömmer will ich werden.
Wie freue ich mich, Dir alles zeigen zu dürfen und Dich selber teilnehmen zu sehen an dem, was meiner Seele tiefinnerste Befriedigung ist...
Herr Pfarrer gibt selbst den Diakonissenschülerinnen einen Unterricht, der unmittelbar auf das Berufsleben vorbereitet. Nach einer eingehenden Einleitung über die Stellung einer Diakonissin im allgemeinen ging er zu seinem eigentlichen Thema, zur geistlichen Krankenpflege, über. Wir lernen da viele Sachen, die gewiß auch mancher Pfarrer, der noch weniger Erfahrung als Herr Pfarrer auf diesem Gebiet hat, brauchen könnte. – In einer dieser Stunden ist der ganz feste Entschluß in mir gereift, den ich Dir nun sagen will in Form einer Bitte: ich will mit dem Gehalt, welchen ich bekomme, von nun an alle meine Bedürfnisse bestreiten, und Du sollst mir gar nichts mehr schicken, auch nicht zu Weihnachten...
In letzter Zeit hören wir viel von der großen Krankenanstalt in Berlin (Bethanien). Wenn wir zuweilen traulich beisammensitzen, erzählt uns Schwester Cäcilie Pöschel ganz eingehend. Diese war nämlich vor kurzem ein paar Monate dort, um für die Krankenpflege mehr zu lernen. Sie war bei vielen Operationen, hat Operierte, Typhuskranke etc. selbst gepflegt und kann uns gar nicht oft genug sagen, welch ungeheure Arbeitslast auf jenen Schwestern liegt. ...Unser Siechenhaus wird vor dem Spätherbst kaum ganz vollendet werden.
Liebste Mutter, ...wegen des Lateinischen, liebste Mutter, darfst Du keine Sorgen haben. Wir trieben’s während Herrn Pfarrers Abwesenheit, wo etwas mehr frei war, und trieben’s nur halb im Spaß. Jetzt muß es bis zu den Prüfungen liegen bleiben, wird aber gleich dann wieder aufgegriffen. Wir haben uns nur ein kleines Ziel gesteckt, das wir erreichen wollen, das von praktischem Nutzen für uns ist.
Nächsten Montag über drei Wochen sind die Prüfungen, d. h. da fangen sie an. Am Samstag, den 12. Oktober, ist die Schlußfeier mit der Aussegnung einer Probeschwester, Emilie Lippold, Nichte von Herrn Pastor Ahlfeld. Nicht wahr, wenn einmal Deine Marie ausgesegnet wird, dann kommst Du? Es wird schon noch eine Weile dauern, aber in Aussicht steht’s ja doch. Sie wäre bei einem Haar neulich an eine Kinderschule nach Hildesheim bestimmt worden, weil großer Mangel an Leuten ist.
| ...Denke Dir, neulich war die Vorsteherin des Dresdener Diakonissenhauses, Frau Pastorin Fröhlich, hier. Sie brachte ihre Schwägerin zu uns als Grüne Schülerin. Wir freuen uns dieses Bindeglieds zwischen unserer und der Dresdener Diakonissenanstalt. Frau Pastorin ist eine sehr liebenswürdige, grundgescheite und gebildete Frau. Sie mußte uns viel von dem Dresdener Diakonissenleben erzählen. Was uns besonders freute, war, daß in ihrer Anstalt jeden ersten Sonntag im Monat für alle Diakonissenhäuser gebetet wird und daß bei diesen Fürbitten Dettelsau obenan steht.
Meine liebste Mutter, ...es werden der Sorgen immer weniger, und ich wünsche Dir zum neuen Jahre, daß Du gar keine mehr haben mögest. Gott will sie Dir ganz sicherlich alle miteinander abnehmen. Eben deswegen freue ich mich auch so viel mehr über Maries Verwendung am hiesigen Rettungshaus. Sie bekommt nun als Probeschwester jährlich 40 Gulden Gehalt. Du freust Dich gewiß auch darüber, noch mehr aber über die andern Vorteile und Wohltaten, die Gottes väterliche Fürsorge durch diese Wendung der Marie zuteil werden läßt. Sie kann hier bleiben – o, und was schließt das alles in sich – und hat einen gar lieblichen, ihrer Kraft und Gabe gerade angemessenen Beruf. Sie schreibt Dir ja selber mehr davon.
Einen Wunsch zum neuen Jahr habe ich Dir schon gesagt; aber noch einen zweiten habe ich für Dich. Wir sind am glücklichsten, wenn wir alles, was da kommt, es sei klein oder groß, als von Gott annehmen. Das war es, was mir Herr Pfarrer zu meinem Geburtstag wünschte, und ich wünsche Dirs wieder von Herzensgrund zum neuen Jahr. Man kann so ruhig und sorglos sein, daß wir in der gnädigen Hand eines Vaters liegen, der die Zahl unserer Haare weiß, geschweige um die größeren Dinge, die uns betreffen, sich kümmert...
Mir geht es in meinem Beruf fortwährend gut, wenn auch viel Mühsal dabei ist. Ungeratene Kinder erziehen helfen, ist| eine schwierige Sache, auch wenn solche gewaltige Erziehungsmittel geboten sind wie hier. Es ist eine weit schwerere Aufgabe, die Großen mit den Kleinen zusammen zu regieren, als jede Partie gesondert; aber es wird schon gehen. Ich rede mich müde jeden Tag und weiß, daß dann am folgenden doch die alten Geschichten wiederkommen... Das weißt Du, glaub ich, noch nicht, daß ich seit vorigem Sommer Lehrerin für Strohflechten bin. Ach, wenn halt das praktische Geschick bei mir sich mehren würde! Ich freue mich über jeden kleinen Fortschritt und habe auch, und das ist wohl der Nutzen davon, eine immerwährende Mahnung zur Demut in dem Bewußtsein meines Mangels.In herzlicher Liebe
Liebe Kathrine, ...Gott meint’s recht gut mit Dir, daß Er Dir eine Stelle anweist, wo Du so viel Selbstverleugnung beweisen kannst. Aber der Leib darf dabei nicht zu Grunde gehen, und Du wirst gehorsam sein gegen das, was Frau Oberin schreibt. Du darfst nicht wie bisher Dich anstrengen; entweder muß Rat geschafft werden, oder man ruft Dich von hier aus zurück. Ich wünsche nur, daß Deine Seele nicht bei großer Mattigkeit des Leibes auch matt wird. Die Wechselwirkung der beiden ist so stark, daß das freilich kaum anders zu erwarten ist; aber Gott wird Dich stärken, daß die Seele frisch und wach bleiben kann. Vergeblich wird ja auch Dein Dienen für das Seelenheil der Kranken nicht sein. Auf den heiligen, stillen Wandel der Frauen ist ja 1. Petr. 3 ein besonderer Segen gelegt und ist demselben gute Frucht bei der Umgebung verheißen. Du kannst Dir in Deinen mancherlei Posten mancherlei Erfahrung sammeln, die einer Diakonissin so nötig ist.
Seit ein paar Tagen steht uns ein neues, großes Arbeitsfeld in Aussicht, das tüchtige Diakonissen und deren nicht eine kleine Zahl erfordert. Du freust Dich gewiß auch darüber, wenn Du liest, was ich jetzt schreibe. Die Regierung unseres Landes hat in großem Wohlwollen beschlossen, die vagabundierenden, der Liederlichkeit ausgesetzten weiblichen Wesen, die freigesprochen| sind, in die verschiedenen Rettungshäuser Bayerns zu stellen. Auf die Aufforderung der Prinzessin Elise wurde von hier aus das Anerbieten gemacht, solche Sträflinge in unser Magdalenium aufzunehmen. Dieses Anerbieten ist nun angenommen, und der königliche Regierungskommissär war vor ein paar Tagen hier, um mit Herrn Pfarrer Unterhandlungen anzuknüpfen. Man will nun nicht nur einen Teil der verkommenen Mädchen hieher bringen, sondern alle vom ganzen Königreich, die zwischen zwölf und achtzehn Jahren stehen und protestantischer Religion sind. Wir bekommen da jährlich zwischen siebzig und achtzig. Das Haus wird im Frühjahr angefangen, und bis es fertig ist, müssen wir vom 1. Juli dieses Jahres an höchstens fünfundzwanzig Mädchen aufnehmen, die einstweilen im Siechensaal wohnen werden. Da gibts Diakonissenarbeit. Wir haben das Ganze gewiß als eine recht gnädige Fügung des barmherzigen Gottes anzusehen. Wie viel wird man da auch wieder lernen können!Ich befehle Dich dem Schutze des treuen Heilandes und bitte Dich ernstlich, nicht über Deine Kräfte zu tun, etwa weil Du denkst, es möchte Dir von irgend jemand verdacht werden, wenn Du Dich eher abberufen läßt, als Du Dich aufreibst. Gottes Wort sei Deine Stärke und Deine Erquickung. Ich bin
Meine liebste Mutter, ...einen Paß sollen von jetzt an alle Diakonissen haben, weil schon öfters so große Not durch den Mangel eines solchen entstanden ist. Die hiesigen machten eben den Anfang. Es ist ja hoffentlich kein schlimmes Zeichen für mich.
Von Schwester Johanna Zwanziger soll ich Dir Grüße schreiben. Sie hat seit drei Wochen eine etwas erträglichere Zeit. Hoffnung auf Genesung ist ja natürlich nicht mehr. Im Lauf des Winters war sie öfters so elend, daß wir an ein recht nahes Ende dachten; allein guter Appetit und Schlaf haben die an und für sich gute Natur wieder gekräftigt, und wenn sie auch jetzt immer zu Bette liegen muß, so kann doch das Leiden noch lange währen, bis der Tod erfolgt.
| Ich glaube, in Breitenau weiß man noch nichts von der gegenwärtigen Dettelsauer Tagesfrage, oder haben wir’s schon geschrieben? Ich weiß es wirklich nicht: Der Staat ist so gütig und vertraut unsern Händen die weiblichen protestantischen Fürsorgezöglinge vom Königreich Bayern an, die zwischen 12 und 17 Jahren stehen. Die Neuberatungen zum Bau, der sehr bald anfangen wird, zur Einrichtung und Führung sind sehr interessant. Ich war auch in Hinsicht und zum Zweck dieser Vorberatungen neulich mit Frau Oberin und zwei andern Diakonissen im Zuchthaus in Lichtenau. (Nicht eingesperrt!)Gott behüte Dich nun, meine liebe Mutter! Deine Theresia.
Meine liebste Mutter, du wartest gewiß schon lange auf Nachrichten von Dettelsau; aber Du weißt ja auch, wie sehr unruhig der Anfang eines Semesters für mich ist, zumal wenn, wie diesmal, Schwester Gertrud Hahn[2] noch nicht vorhanden ist und auch die Kisten und Koffer auf meine Hände warten. Ich möchte damit nur gerne entschuldigt sein. Und jetzt laß mich zuvörderst meinen herzlichen Dank sagen für Deine viele Liebe, die ich in der Ferienzeit wieder einmal so recht genießen durfte. Es haben mir die freien Tage recht wohlgetan. Ich habe es auch keinen Augenblick bereut, gerade zur Festzeit, wo alles zu uns strömt, weggegangen zu sein. Daß ich der großen Unruhe, die die Gäste verursacht haben, entgangen bin, darüber bin ich herzlich froh.
Die durchlauchtige Prinzessin kam sehr bald nach Quasimodogeniti wieder und sagte mir, sie habe sich wie auf ihre Heimat auf Dettelsau gefreut. Ich glaube, daß uns Gott unter anderem auch recht gnädig damit ist, daß er uns fromme, gottselige Menschen auf dem Lebensweg begegnen läßt, deren Erscheinung und Umgang etwas Emporziehendes hat. Namentlich achte ich es für ein Glück, wenn ein weibliches Wesen zu einem anderen weiblichen Wesen emporschauen kann.
| Ich bin durch den diesmaligen Anfang des Semesters beruhigter als durch den vorigen. Etliche recht brave Schülerinnen geben gute Hoffnung. Emma Wagner ist ein Quecksilber, die auch unter die andern Leben bringt. Sie scheint sich hier sehr wohl zu fühlen bei den vielen Stunden. Ihr offenes, ehrliches Wesen ist ein recht gutes Element unter den übrigen.Unserer Johanna Zwanziger geht es immer elender. Es wird ja wohl ihr baldiger Heimgang nicht mehr ferne sein. Sie sieht furchtbar abgezehrt aus.
Eine sehr liebliche Aussicht hat uns neulich Herr Pfarrer für das vor uns liegende Semester eröffnet, indem er uns ankündigte, welche Themata er an den Donnerstagabenden in seinen Vorträgen behandeln wolle. Es sollen das die heiligen Frauen des Neuen Testamentes sein. Vorgestern kam als erste Elisabeth, das Weib Zachariä, daran. Nein, ist das eine Lust! Da merkt man erst, wie viel in der Bibel steht.
Gott behüte Dich, meine liebste Mutter. Bald sehen wir uns wieder, so Gott will. Mit herzlicher Dankbarkeit und Liebe
Liebste Mutter, ...unser 2.-Juli-Fest war recht schön. Es ist am Ende doch hie und da ein bleibender Segen bei den Roten Schülerinnen. Im ganzen freilich stelle ich je länger je mehr meine Hoffnungen sehr niedrig. Unsere Kinder, die oft hier innerlich angefaßt waren, daß es eine Freude war, haben schnell mit dem Anstaltskleid auch ihre hier empfangenen Eindrücke abgelegt. So ist es bei den allermeisten. Was sie hier gelernt haben, können sie nicht brauchen, weil sie nicht den Mut haben, es zu brauchen. Dann bezeugen sie selber, was andere sagen: man lerne hier nichts – und solche Geschöpfe wie unsereins müssen einen Kurs nach dem andern unterrichten und leiten mit solchem Bewußtsein, daß eigentlich Kraft und Zeit ziemlich verschwendet ist. Ältere Christen werden sich über diese Beobachtungen längst hinweggesetzt haben, d. h. innerlich unangefochten davon sein; ich aber bin noch jung und muß das erst überwinden lernen.
| Am 1. Juli wurde die neue Anstalt für Sträflinge feierlich eröffnet. Ich war nie zuvor so ergriffen von den Gedanken, die damit verknüpft sind, wie gerade bei der Feier.Seit ein paar Tagen sind ein paar Dresdener Diakonissen unter uns. Wir freuen uns der Verbindung der beiden Anstalten.
Es ist unser Haus nichts weniger als ein Kloster. Jeder Tag hat etwas anderes, so daß man sich fast nach einem größeren Stilleben sehnen möchte, wenigstens solange man die Stärke nicht hat, innerlich in völliger Ruhe und Abgeschiedenheit zu bleiben bei den rings umher wogenden kleinen und großen Ereignissen...
In dankbarer, kindlicher Liebe
Meine liebste Mutter, nächsten Montag, Dienstag und Mittwoch werden unsere Prüfungen sein, am Mittwochabend die Schlußfeierlichkeit, mit der diesmal die Rote Schule begraben werden soll. Wir wollen uns nicht mehr in der bisherigen Weise mit der Erziehung junger Mädchen befassen. Wer seine Tochter um des geistlichen Lebens willen und um eines einfachen, guten Unterrichtes willen, so wie ihn ein Mädchen braucht, hieher tun will, kann sie als Grüne Schülerin unter die Schar der Diakonissenschülerinnen treten lassen. Französisch, Englisch, Klavier etc. wird nicht mehr gelehrt, überhaupt den Roten keine besondere Führung mehr gewidmet. Es war eine lange, breite Verhandlung, die endlich zu diesem Resultat führte. Herr Pfarrer sprach bei dieser Gelegenheit sehr ernst über die Erziehung der Mädchen und über die große Eitelkeit und Weltförmigkeit, die dabei herrsche. Wir können nach unseren Grundsätzen nicht bieten, was weltliche Institute bieten, und wenn wir in der Tat und Wahrheit Besseres, auch an wahrer Bildung Gründlicheres leisten können als andere Anstalten, so wird das so wenig verstanden, als Dettelsau überhaupt mit dem, was es will und soll, in der Welt verstanden wird.
Mein letztes kurzes Beisammensein mit Dir und den lieben Geschwistern ist mir in schöner Erinnerung. Ich war so fröhlich, als ich am Abend von Wörnitz daherwandelte und dabei an meinen ersten Eintritt in Dettelsau vor sieben Jahren gedachte. Und der folgende sonnige Tag in Eurem Pfarrhäuschen war auch gar schön. Ich bin glücklich heimgekommen und habe mein Tagewerk fröhlicher als je begonnen.
...Von Frau Oberin soll ich Dir einen herzlichen Gruß und Glückwunsch schreiben. Maries Häuschen wird, so Gott will, am 6. Dezember eingeweiht. Nächste Woche wollen wir die Verlosung halten.
Gott behüte Dich, meine liebste Mutter. Grüße die Geschwister herzlich und danke ihnen noch für die Gastfreundschaft.
Liebste Mutter, demnächst soll etwas von hier ausgehen, eine Aufforderung an die Pfarrer, sich mehr um die Diakonissensache zu kümmern, drüber zu belehren und Teilnahme zu erwecken, auch selber ihre Töchter nicht als geputzte Damen herumlaufen und nichts arbeiten zu lassen, sondern sie vor allem zum Diakonissendienst herzugeben. Du hast von Deinen Töchtern mehr als den Fünften gegeben. Das könnte am Ende als Regel gelten. Beim Zehnten springt doch zu wenig heraus. Mit herzlichen Grüßen
Unser Betsaal hat zu Weihnachten ein prächtiges Geschenk bekommen. Die Herren hier gaben Herrn Pfarrer ein Pult mit kunstvoller Holzschnitzerei und rotsamtener Kniebank. Es soll das ein Geschenk zum 25jährigen Jubiläum sein, das diesen Sommer war. Aber da hatte sich Herr Pfarrer aufs energischste alles verbeten. Und nun nahm er auch nichts, sondern schickte das Pult gleich dem Betsaal samt dem griechischen Testament, das darauf lag.
Am Silvesterabend waren die Diakonissen mit den Freunden vom Dorf im Pfarrhaus, wo Punsch getrunken und Süßigkeiten gegessen wurden, aber auch allerlei Gutes geredet wurde. Mit dem ersten Schlag 12 Uhr stimmten die Sängerinnen, ohne daß die übrige Gesellschaft etwas wußte, das Lied: „Nun lob mein Seel“ etc. an.
...Heute ist Herr Pfarrer zu unserm Kummer etwas unwohl. Er hat auch die Feiertage gar zu viel geredet. Gott wird ja gnädig Schlimmeres abwenden. – Gute Nacht, meine liebste Mutter. Habe Dank für alle Deine Liebe im verflossenen Jahr.
In diesem Semester haben wir ausnehmend wenig Schülerinnen. Ich kann dann umso treuer meine Pflicht an den Einzelnen tun. ...Denke Dir, Käthe Hommel ist noch immer krank – seit dem Dezember vorigen Jahres. Das ist nach unserem natürlichen Ermessen sehr traurig; aber es muß auch gut sein.... Da wir noch immer keine Sträflinge haben, macht Elise Steinlein alle Branchen durch; bis jetzt war sie Substitutin der Käthe, nun ist sie Gehilfin in der Küche. Sie ist ein unvergleichliches Wesen, den ganzen Tag voll Humor, der Liebling von uns allen.
In unserm letzten Armenverein ist der Beschluß gefaßt worden, es soll fortan recht gründliche Fürsorge für die „Streuner“, wie sich Herr Pfarrer ausdrückte, für die bettelnden Handwerksburschen getroffen werden. Herr Pfarrer nimmt alle, die herkommen, in genaues Verhör. Das hat er schon bis jetzt getan. Dann aber werden sie in ein vom Armenverein gemietetes Zimmer, das bereits mit Betten versehen ist, herausgeschickt. Einer unserer Krankenpfleger bereitet ein Bad. Sie bekommen frische Wäsche und, wenn nötig, ein Kleidungsstück. Mich freut die Sache ganz königlich. Die Kerle sollen einmal in ihrem Leben sehen, wie wohl Liebe und Barmherzigkeit tut. – Nun behüt Dich Gott, meine liebste Mutter.
...Unseres seligen Ludwig Biographie wird auch hier viel verlangt. Ich habe, so oft ich sie lese, einen Drang, auch der Heiligung nachzujagen wie er. Überhaupt weiß ich immer für mich kein besseres Mittel, um mich aus Trägheit und Mißstimmung recht schnell herauszureißen, als wenn ich mich mit dem Lebenslauf irgend eines selig Vollendeten befasse.
Liebste Mutter, ...wie schön hat uns Herr Pfarrer heute morgen über die Weisen vom Morgenland gepredigt! Mir war’s so leid, wie’s schon zu Ende ging. Der Epiphanientag ist in Dettelsau immer ein großer Schenktag. Da kommen die Bauern ins Pfarrhaus und bringen Mehl und Eier und Schmalz und Geld und alles mögliche für die Mission und für die „Akonissenanstalt“.
Denke Dir, wir Diakonissen haben heuer von Herrn Pfarrer ein gar schönes Weihnachtsgeschenk bekommen, eine sehr getreue Übersetzung des Neuen Testaments nach dem Griechischen, die in Elberfeld erschienen ist. ...Herr Pfarrer ist wieder wohler, obgleich er sagen muß, daß er seit zehn Jahren keiner gesunden Stunde sich erinnere. Seine Frau habe das bißchen Erdenglück und seine Mutter, die eben zehn Jahre tot ist, seine Gesundheit mit ins Grab genommen...
Liebste Mutter, in unserm Hause war in den letzten Wochen viel Aufregung. Ich könnte Dir lange Geschichten erzählen. Doris hat eine schwere Aufgabe mit den Magdalenen. Eine ist neulich über sie hergefallen, weil sie eine Arbeit tun sollte, die sie nicht mochte. Da hat man sie, um sie unschädlich zu machen, in ein Stübchen unter dem Dach eingesperrt. Da drinnen hat sie zwei Tage lang gewütet und getobt; dann ist sie nachts aus dem kleinen Fensterchen hinausgestiegen und auf dem Dach herumgekrabbelt, endlich an der Dachrinne heruntergerutscht. Wir konnten alle nicht begreifen, wie das einem Menschen möglich war. Sie wurde am andern Tage wieder gebracht, aber Herr Pfarrer hieß ihr Tür und Tor öffnen, wenn sie nicht bleiben und sich leiten, d. h. auch strafen lassen wolle. Da erwählte sie den verkehrten Weg und ging mit ihrem Bündelein unterm Arm fort von der Stätte, die ihr hätte zum Heil werden können...
Denke Dir, jetzt kommen zwei Diakonissen nach Hof. Es ist ein neues Krankenhaus dort erbaut worden. Wir haben aber so wenig Leute, daß man genötigt ist, Stationen, die bereits im Segen stehen, aufzulösen; denn eine solche Anfrage, wie die von Hof, möchte man um keinen Preis abschlagen, da es seit Jahren ein großer Wunsch des Hauses ist, zunächst dem Bayernlande zu dienen...
In dankbarer Liebe
Dieses Semester auf einmal regnet’s Diakonissenschülerinnen. Das sind nun aber lauter Neulinge. ...Marie geht’s gut. Sie hat nur immer Angst, sie möchte ausgeschickt werden.
Gott behüte Dich, meine liebe Mutter!
Liebste Mutter, diesmal erhältst Du kurz nacheinander zwei Briefsendungen von Dettelsau. Es sieht aus, wie wenn die Schwestern uneins wären und jede für sich ihren Weg ginge. Dem ist aber nicht so, sondern ich schreibe heute rein in Maries Interesse und möchte Dir gerne so bald als möglich die Kunde bringen, daß Marie am 3. Juli, so Gott will, ausgesegnet wird. Es ist die Aussegnung jetzt etwas anderes geworden als dazumal, da ich, noch halb Kind, zu der Ehre kam, und es ist schon ein Abschnitt im Diakonissenleben, wenn nun eine in alle Rechte einer Schwester eintritt. Wir haben den Tag sehr herbeigewünscht und herbeigesehnt, und mich durchzuckt es ganz von innerer Freude, wenn ich nun dies Ziel so nahe sehe. Nicht wahr, Ihr denkt am 6. Sonntag nach Trinitatis abends sechs Uhr daran, daß Marie von dem Chor der Schwestern an unserem Altar eingesegnet wird. Du, liebste Mutter, kannst Dir ja die Feier denken, weil Du einmal einer beiwohntest.
Der bevorstehende Tag nötigt mich nun aber zu zwei Bitten an Dich. Erstlich bekommen alle die Schwestern bei ihrer Aussegnung eine Mappe. Vielleicht besinnst Du Dich, eine gesehen zu haben mit den schönen Inschriften, die unsere Künstlerin Sara gemacht hat. Ein Spruch wird eingeschrieben und der ganze Gang, den man als Diakonissin gemacht hat. Diese Mappe schenken aber immer die Angehörigen, und die kostet drei Gulden. Könntest Du nun vielleicht oder die Geschwister dies für Marie tun? Ich möchte ihr gerne den Schleier oder die Diakonissenhaube geben. Zweitens, liebe Mutter, wird von unsern verehrten Vorständen verlangt, Du möchtest eine Äußerung Deiner Zustimmung zu Maries Berufswahl geben, die man ad acta legen könnte. Was darunter| unter gemeint ist, sind nur die beiden Sätze: daß Du Deine mütterliche Einwilligung gibst zum Eintritt Deiner Tochter auch in den engeren Verband, und daß Du die Disposition über dieselbe den Vorständen des Diakonissenhauses überträgst. In dankbarer Liebe
Meine liebste Mutter, ...daß ich sehr überladen bin mit Arbeit, das ist nicht der Fall. Manche Menschen machen sich gerne ein Geschäft daraus, dergleichen Reden auszustreuen. Meine Schülerinnen, von denen manche, weil ihnen gerade ein anderer Gegenstand mangelt, sich mit allzugroßer Zärtlichkeit an mich hängen, können gar nicht beurteilen, ob ich viel oder wenig leiste. Die Schwestern, die mit mir zusammen leben, könnten über mich sehr beruhigend berichten... Das gehört eben zu den ganz natürlichen Leiden meines Berufes, daß über mich geredet wird, bald Gutes, das nicht wahr ist, bald Schlechtes, das wahr oder auch falsch ist. Dabei kann man doch in der Stille bleiben, wenn ich mich auch oft nach größerer Stille sehne. Zum Nichtstun – um das vorige Thema wieder aufzugreifen – bin ich ja freilich nicht Diakonissin geworden. Das versteht sich. Und daß meine Nerven nicht mehr Kreuzerstricke sind, das weiß ich auch. Aber irgend etwas muß der Mensch doch haben. Ist bei dem einen der Magen schwach, so hat er eben dies zu tragen, und ein anderer was anderes. Nicht wahr, liebe Mutter, Du hegst in diesem Stück keine Sorgen mehr um mich. Aber das bitte ich Dich, daß Du meine Seele täglich den treuen, durchbohrten Händen Jesu befiehlst, daß Er sie sicher durch alle Gefahr hindurch zum ewigen Frieden bringe.
Meine liebste Mutter, es kommt mir schon lang vor, daß ich keinen vernünftigen Brief, wie sich’s gehört, an Dich geschrieben habe. Diesmal soll’s wenigstens einigermaßen einer werden, der Dir viel kindliche Liebe und viel Dank aussprechen sollte und das Verlangen, daß Dich Gott mit dem Besten, was er hat, segnen wolle und Deine Lebenstage verklären, daß sie, je näher zum Ziele, desto schöner werden und Du singen mußt: „Ach, denk ich, bist du hier so schön...“ In dem ganzen Jahre hab ich Dich nun nicht gesehen und Du mich nicht. Um so nötiger war mein Geburtstagsgeschenk für Dich. Es hätte mich kein Mensch dazu gebracht, mich photographieren zu lassen, wenn ich nicht Dir einen Wunsch damit erfüllt hätte. Möchte Dich mein Bild zu um so häufigeren und brünstigeren Gebeten reizen, die ich gerade jetzt so sehr bedarf, wo man so viel von mir verlangt, daß es zu meinen Gaben und Anlagen und zu meiner Schwachheit gar nicht passen will. Besonders wenn Du mir eine recht unerschütterliche Seelenstille erbitten wolltest!
In inniger Liebe
Meine liebste Mutter, ...wir sind, wenigstens soweit die Weihnachtsfreude sonst psychisch zu ergreifen pflegt, heuer gelähmt. Es kommt bei uns Schlag auf Schlag. Manche Dinge kann man nicht so gut schriftlich mitteilen. Zu allem bekamen wir vor etlichen Tagen die Nachricht, daß unsere liebste Schwester Elisabeth Steinlein in Fürth am Typhus krank liegt. Heut kam wieder ein Brief. Sie ist recht schwach. Ihre Phantasien sind ganz friedlich. Sie ist da immer im Himmel. Wir denken fast mit Gewißheit, daß sie stirbt. Das wäre für unsere Sache ein bittrer Verlust. Vielleicht fahren morgen etliche von uns nach Fürth, um sie zu sehen. Ihre Mutter ist bei ihr gewesen und nach einer Viertelstunde gefaßt und ruhig abgereist.
Behüt Dich Gott, meine teuerste, geliebte Mutter. Prinzessin Elise schrieb mir neulich, ob ich mich nicht auf einen oder zwei Tage losmachen könne, sie zu besuchen. Sie ist gegenwärtig sehr einsam. Aber das konnte ich doch nicht, obwohl Herr Pfarrer gleich bereit war, mir die Erlaubnis zu geben.
Meine liebste Mutter, ...von Elise Steinlein haben wir erfreuliche Nachrichten. Vielleicht erhält sie uns Gott doch. Ich war mit Frau Oberin, Doris und Amalie in Fürth. Wir durften aber nicht zu ihr. Da haben wir durch eine Vorhangspalte geschaut und sie wenigstens gesehen. Es wallte mir ganz eigentümlich das Herz, so nahe bei ihr zu sein, ohne daß sie was ahnte. Es ist was Wunderbares um dies Zusammenwachsen im Diakonissenleben. Elise ist aber auch der allgemeine Liebling.
So sehr freue ich mich nicht auf Weihnachten wie sonst. Du weißt nicht, liebste Mutter, was mir das ist, alle Sonntage im Betsaal sitzen zu müssen und Herrn Konrektors Predigt anzuhören, während drin im Dorf Herr Pfarrer predigt. Zuweilen ringe ich nach Ergebung in dies Schwerste, was mir je begegnet ist, und dann wehre ich mich wieder aus meiner ganzen Seele. Wir sind eine Anstaltsgemeinde und haben mit| unseren Kranken, Blöden und Zöglingen Gottesdienst, während natürlich alle, die nicht durch Hausordnung gebunden sind, ins Dorf strömen und da die Gottesdienste feiern, die eben doch von ganz anderem Geist beherrscht werden als die unsrigen. Es ist alles ganz anders geworden bei uns. Mir ist zumute, denke ich, wie den Israeliten beim zweiten Tempelbau! ...Heut ist Mariannes Geburtstag. Sie ist auch 25 Jahre alt. Gestern abend durfte ich einen Augenblick in ihr Krankenzimmer.... Wir machen zu Weihnachten eine Armenbescherung in unserm Schulzimmer. Herr Korhammer schickte mir gestern 20 Gulden von Frau F. zu einer Weihnachtsbescherung irgendeiner Anstalt...Nun behüte Dich Gott, liebste Mutter.
Liebste Mutter, ...ich bin bei dieser grausigen Kälte auch in ein Stüblein gezogen. Das denke nur ja nicht, liebste Mutter, daß ich in meinem Beruf weniger glücklich bin als sonst. Noch blühen die Rosen und geben ihren Duft, aber ich muß doch auch die Dornen des Lebens spüren. Mit 25 Jahren darf man ja freilich kein Kind mehr sein, das das Leben für einen Weihnachtsbaum hält, von dem man sich alle Tage sein Zuckerstückchen nimmt. Drum laß mich nur immer mein Herz gegen Dich ausschütten, auch dann, wenn’s voll schweren Ernstes ist; aber Du darfst immer dabei denken, daß ich nicht unglücklich bin. Das wäre furchtbarer Undank, wenn ich nicht glücklich wäre. An meinem Geburtstag erinnerte mich Herr Pfarrer an die große Gnade, daß ich schon so manche Zeit nun dienen darf, und forderte mich auf, meinen Lebensgang mit dem seiner Tochter zu vergleichen, die zwei Tage älter ist als ich... Bitte Du auch, daß uns für unsere Elise zehn andere gegeben werden, auch wie sie.
...Dir, liebste Mutter, bringe das Jahr 1865 viel Herzensfreude über Deiner Kinder Wohlergehen. Gott zahle Dir alles heim, was Du an uns getan hast. Das wußte ich noch nicht, daß ich unter der Kinderlehre geboren bin.
Liebste Mutter, ...jetzt kommt erst der tiefe, tiefe Schmerz über Elise. Die Feier hat uns noch so gehoben. Bete für uns, auch für unser ganzes schönes Werk.
Liebe Mutter, ...Herr Dr. Laurent sagte mir heute im Pfarrhaus, mein Name mache ihm viel Kopfzerbrechens. Der hat nämlich das Namensstudium als Manie und will alles ganz gründlich wissen, ob griechische oder persische Etymologie.
Du glaubst nicht, was es bei uns in einem fort für Sorgen gibt. Die Fürther Station besonders läßt einen gar nicht in Ruhe. Heute z. B. kommt ein Expresse mit einem Brief, es solle alsbald eine Schwester hin. Dann muß ich immer meine halbfertigen Schülerinnen ziehen lassen. Der halbe Kurs von diesem Semester ist bereits ausgeschickt. Es ist immer großer Mangel.
Uns ist’s noch sehr, sehr weh um unsere Elise[5]. In herzlicher, dankbarer Liebe
Liebe Schwester, ich wünsche Dir zu Deinem Geburtstag Gottes Frieden und Freude, ein allezeit getrostes Herz und einen starken Mut, alles zu tragen und alles zu leiden, was aus Seinen guten Händen kommt. Ich habe diese Zeit so gerne, wo die Hyazinthen immer anfangen ihre Pracht zu entfalten und schon Frühlingsahnung das Herz durchzieht.
Wir haben Dir heute eine etwas schmerzliche Mitteilung zu bringen: Marie wird acht Tage nach Deinem Geburtstag abreisen nach Fürth, um die dortige Pflegeanstalt zu übernehmen.| Dann ist’s mit dem lieblichen Rettungshausleben hier für immer aus. Sie wird zwar sicherlich wieder einmal hieher kommen, das hat Herr Pfarrer schon gesagt. Aber nun müssen wir doch wohl für eine gute Weile getrennt bleiben. Und auch bei mir soll in die Gleichförmigkeit meines Berufes eine Anregung kommen, eine ganz aparte. Ich soll mit Schwester Amalie in ungefähr acht Tagen den Bettelsack umhängen und terminieren gehen! Es ist nämlich so: Herr Pfarrer hat immer neue, große Ideen. Das ist eine bekannte Sache. So will er nun, daß wir hier allen Kranken und Elenden unserer Gegend dienen und zwar unentgeltlich. Der ganze Distrikt Kloster Heilsbronn hat das Recht, seine armen Kranken hieher zu schicken ins „Distriktshospital“. Die werden dann von uns gratis verpflegt. Dafür aber gehen zweimal jährlich zwei Diakonissen in all den Ortschaften herum (es sind über 100) und – betteln, betteln aber nicht fürs Diakonissenhaus, sondern lediglich für die Armen und Kranken, die wir aufgenommen haben. Mit Kloster Heilsbronn wird angefangen, und dazu sind wir einstweilen erkoren. Ich freue mich schon auf die ungewohnte Charge. Bilder und Traktate will uns Herr Pfarrer aufpacken und uns genau instruieren. Er hofft nämlich von dieser Mission recht viel für unsere Gegend, wo so vielfach ein großartiges Ignorieren unseres ganzen schönen Werkes herrscht.... Marianne Löhe ist immer noch so leidend. Es ist ein großer Jammer. Schwester Doris Braun[6] ist jetzt Oberschwester in der Blödenanstalt und regiert das neue, große Haus, bäckt Kuchen, läßt Schmalz aus, kauft Eier ein, wurde von den Blöden begrüßt mit dem geistvollen Ruf: a Neia! a Neia! ...Schwester Marie Regine Braun ist Herrn Pfarrers Geheimsekretär[7].Gestern ist Prinzessin Elise wieder abgereist. Sie war einen Tag hier. Sie hat mir ein wunderzierliches Büchlein machen lassen, außen mit Goldbuchstaben meinen Namen, und inwendig hat sie mir eine Sammlung Lieder eingeschrieben, vier von der heiligen Theresia...
Adieu, liebste Mutter!
Meine liebste Mutter, ich habe sehr unruhvolle Ferien gehabt. Zweimal bin ich auf dem Terminieren gewesen. Davon schrieb ich Dir ja das letztemal. Es ist uns ganz gut gegangen, viel zu gut. Man hat uns geehrt und gepflegt, wie sonst Bettlerinnen nicht. Das heißt, wir mußten eben in Kloster beim Landrichter Absteigquartier halten. –
Und denk Dir nur, vorgestern bin ich zum erstenmal Patin geworden! Bei wem? – Bei Herrn Konrektor, der nun also mein Herr Gevatter ist. Marianne und Gräfin Anna von Giech sind auch Paten. Ich hab fast ein wenig gezittert, als ich das Kindlein über den Taufstein hielt. Ich bin recht glücklich darüber. Marianne konnte natürlich nicht dabei sein. Herr Pfarrer hat Anna und mir eine kurze Rede am Taufstein gehalten, daß wir Engelsdienst tun dürfen, wie die Engel Menschendienste tun. Geschenke kann freilich eine arme Diakonissin nicht machen. Das hat sich auch Herr Konrektor gleich verbeten, als er mich zu meiner höchsten Überraschung zu Gevatter genommen hat. Es ist ein gar nettes Kindlein, das mich bei der Taufe mit seinen hellen Äuglein gar verwundert angeschaut hat. Herzliche Grüße
Liebste Mutter, ...wir haben eine recht schöne Festzeit hinter uns, und jetzt geht erst eigentlich recht das Lernen für dies Semester wieder an. Der Abschied von den vorigen Schülerinnen fiel mir besonders schwer. Es war ein so inniges Zusammenleben. Die drei Gräfinnen brachten auch einen so nobeln Ton in die ganze Klasse. Sie sind nun auch vor ein paar Tagen abgefahren. Ich habe sie so lieb gewonnen. Da lernt man aber Gott danken, daß man nicht auf irdischen Höhen steht, sondern als bescheidene Diakonissin den seligen Pfad eines gottverlobten Lebens ungehindert und unbemerkbar gehen kann. Ich hab’s ihnen wohl gesagt, den Komtessen, wie sie wohl später Dettelsau genieren wird. Das wollten sie gar nicht verstehen...
Meine liebste Mutter, wir freuen uns sehr des schönen Frühlings. Ich bin immer im Frühjahr und Sommer ein ganz anderer Mensch als im Winter. Ich kann es nicht beschreiben, was für eine Sehnsucht in mir die blühenden Bäume und die milden Frühlingslüfte wecken. Es ist mir, wie wenn sich das Elend der Welt und die Frühlingspracht in einem unerträglichen Gegensatz gegenüberstünden, so daß nur ein Gedanke das Gleichgewicht zu halten vermag, der nämlich, daß wir einer schönen Ewigkeit entgegengehen, in der kein solch herber Widerspruch, nichts Wehetuendes überhaupt mehr zu finden ist. Meine liebste Mutter, wann kommst Du denn nun? Doch diesen Sommer noch! – Ich bitte Dich, Du wollest doch einmal eine Zeitlang recht dringend für mich beten, daß ich meinen Beruf treulich erfülle. Ich bin durch viele Arbeit weit weniger angegriffen als durch das beständige Gefühl der Unzulänglichkeit und Unfähigkeit meiner Kräfte und Gaben. Dies Gefühl beruht auch nicht nur in meiner Einbildung, sondern es ist ganz richtig und soll nur vor dem Übermaß seines Einflusses auf mein Gemüt durch ein rechtes Gottvertrauen bewahrt werden.
...Frau Oberin ist recht viel unwohl. Herr Pfarrer wird nächsten Mittwoch, so Gott will, wieder zurückkommen. Er| hat ja Marianne nach Karlsbad gebracht. Am Mittwoch vor Ostern kam das Reskript vom Oberkonsistorium mit der Bestätigung unseres Hausgeistlichen. Herr Pfarrer ist nun nicht mehr der Hirte der Diakonissengemeinde!!! Es ist mir eine wunderliche Lebensführung, dies neue Stadium. So glücklich sind wohl wenige hier gewesen wie ich, so ganz glücklich! Und was mich glücklich machte, das war diese geordnete Seelenführung, dies sichere Weiden unter einem solchen Hirtenstabe. Nun ist’s dahin, und es ist mir wie ein Stück Sterben, daß ich die neue Wendung fassen und mich dreinfinden und gar fröhlich dabei sein soll. Dennoch will ich’s und weiß, daß ich aus dieser Predigt dann mehr gelernt als aus den vielen, die ich aus Herrn Pfarrers Munde gehört. Ich muß auch dies ganze geistliche Gebiet als etwas dennoch Menschliches fassen lernen und es hingeben können. So schwer ist mir noch nichts im Leben geworden. Hilf mir aber, liebste Muter, durch Deine Fürbitte diese Aufgabe lösen, von der ich ja zu Dir und zu Adolf reden darf, wenn ich auch in anderen Briefen vorsichtig sein muß, weil man es uns ja verdenkt, daß wir es „Herrn Konrektor schwer machen“. ...In dankbarer Liebe
Meine liebste Mutter, ...vielleicht gehe ich doch auch in den nächsten Ferien ein wenig fort. Mitte September sind sie. Ich hatte ein sehr angreifendes Semester diesmal. Doch bin ich ganz gesund. Nur immer gegen das Ende muß ich mich vor mir selber fürchten, weil da gewöhnlich eine physische Mattigkeit über mich kommt, mit der eine gänzliche Mutlosigkeit zusammenhängt, so daß ich mich sehne, nicht mehr lehren zu dürfen. Und doch muß ich das als meinen Lebensberuf erkennen, weil nun einmal meine wenigen einseitigen Gaben dahin gehen.
Hast Du Dich nicht recht über Babette Dieterich[9] gewundert? Es ist bei uns eine allgemeine Klage, daß wir sie verloren haben. Wieviel tausendmal leichter geht doch eine Diakonisse| durchs Leben als eine Ehefrau, obendrein eine, die ehedem Diakonissin war und so ganz drin gelebt und gewebt hat wie sie. Eben als ich dies schreibe, hat unser Herr Doktor einen Zettel von dieser seiner Braut, bei der er ein paar Tage war, gebracht. Sie bittet uns alle immerzu in jedem Brief um Erhaltung der Liebe und Gemeinschaft...
Mein Brief ist noch hier, und indessen hat Herr Konrektor Lotze um seine Entlassung gebeten und zwar so entschieden, daß nichts dagegen eingewendet wurde. Es ist eine große Veränderung für unsere ganze Sache.
Meine liebste Mutter, ...heute ist Herr Pfarrer in Polsingen und hat dort gepredigt. Am 13. und 14. September sind unsere Prüfungen. Herr Konsistorialrat Bäumler will dazu kommen. Er tut am 1. Oktober seine Tochter Helene hieher.
Ich habe die stillen Sonntagnachmittage so gar gern. Es ist jetzt alles in der Christenlehre. Ich sitze in Stube 17 und höre Herrn Konrektor im Betsal sprechen. Nachher will ich mir ein ganz seltenes Privatvergnügen machen und mir einiges herausschreiben aus einer Briefsammlung, die mir neulich jemand gegeben. Es sind nämlich Briefe, die Herr Pfarrer vor Jahren an eine junge geistliche Tochter geschrieben hat und die so viel Schönes enthalten, daß ich sie immer bei mir haben will, auch wenn ich die Originale wieder zurückgebe.
Deine treuen Gebete begleiten mich, nicht wahr, auch auf der Reise[10], worauf es mir schon ein wenig bange ist. Ich will jetzt recht nach innerer Stille und Ruhe ringen. Wie gut ist für mein Temperament die Gebundenheit des Diakonissenlebens!
In herzinniger, dankbarer Liebe
Meine liebe, teure Mutter, ...ich habe mir in der letzten Zeit öfters gedacht, daß es schon deshalb der Mühe wert sei länger zu leben, weil man da Gottes barmherzige Durchhilfe so oft erfahren kann. Gäb’s nicht so viele Nöte, so gäb’s auch nicht so viele Hilfen und damit nicht so viele Stärkung des Glaubens. Wie mag Dir, meine liebste Mutter, diese Wahrheit noch so ganz anders in die Seele leuchten als mir bei meinem kurzen, kleinen Leben. Alle Not Dir aus Deinem Leben wegwünschen, das darf ich ja nicht. Das kommt ja erst in jener Welt. Aber das darf ich Dir wünschen und erbitten, daß Du immerzu Gottes gnädige Durchhilfe sehen und spüren mögest, wenn sich eine Not Dir genaht hat.
Sorge Dich ja nicht wegen Kälte oder so etwas. Ich bin so gesund, in diesem Semester ganz besonders, und die gute Adelheid[11] ist meine Gehilfin und teilt meine mütterlichen Sorgen für 30 Töchter, die ich herzlich liebe und die mir zuweilen ihre Anhänglichkeit auf eine rührende Weise bezeugen. Meine Reisebeschreibung, das heißt, das Ende derselben, muß ich immer noch schuldig bleiben. Frau Doktor Riedel ist seit Mittwoch hier. Ich bin ihr von Herzen gut, auch wenn sie nicht mehr Diakonissin ist. Amalie wird auch demnächst heiraten.
Bei uns gab’s diesmal recht viele Gottesdienste; zu allem kamen noch zwei Leichen. Gestern am Silvesterabend wurde das neunzehnjährige Töchterlein des hiesigen Wirts Ottmann[12] begraben. Solch ein Vater- und Mutterschmerz wie da ist einem noch selten entgegengetreten! Herr Pfarrer sagte, so lang er hier sei, habe er die Kirche so voll noch nicht gesehen. Die Eltern haben nun gar kein Kind mehr. „Ihre einzige Perle ist ihnen ins Grab gesunken.“ Der Wirt ist ein frommer Mann, der auch häufig Ungewöhnliches sieht: Dämonen um Herrn Pfarrer herum, wenn dieser predigt, oder den Chor voll Engel beim Sakrament, oder einen Schein um Herrn Pfarrer, wenn er am Altar steht. ...Nur einmal möcht ich, daß Du unsern Betsaal im Weihnachtsschmuck sehen möchtest mit seinen Blumen und Lichtern, oder unsere Krippe, die Sara so künstlich aufgebaut... An unserer lieben seligen Elise Todestag sind wir an ihr Grab gegangen, das wenige Tage zuvor mit einem Grabstein geziert worden war, in welchen die Lampe der klugen Jungfrauen eingehauen ist. – Wer nur erst so weit wäre wie sie!
Liebe Ida, ...das weißt Du, daß der große Deinzer’sche Sohn Herrn Pfarrers Vikar ist und Lehrer an der hiesigen Missionsanstalt. Wir hören ihn zuweilen predigen. So viel ich merke, ist er Herrn Pfarrers Augenweide.
Ist das eine Kühnheit, wenn ich Deinem Herrn Gemahl dies Photographielein zu Füßen lege, und wird er’s gnädig aufheben? Lies ihm dann doch folgendes dazu vor: Die Ansicht ist vom Turm herunter aufgenommen. Man sieht vorne links, von Pappeln halb bedeckt, das „Pfarrhüselchen“, – wie es eine Geisteskranke zu nennen pflegte, – „die selige Hütte, in der ich sechs Jahre mit meiner Helene aus- und eingegangen bin“. (Du weißt doch, wo es so heißt.) Vis à vis| rechts ist das Schulhaus, das seine Front dem Blick zukehrt und einen Haufen Leute vor seinen Pforten hat. Du siehst auch ein paar Frauenzimmer in hellen Kleidern in der Nähe und würdest mit der Lupe ohne Zweifel in einer derselben Julie erkennen. Zwischen Pfarr- und Schulhaus steht ein Mann so ruhig und fest wie ein Fels: es ist der Papst von Dettelsau; neben ihm sein Vorsteher – Brunner heißt er – mit der Sense und in einiger Entfernung Seine Majestät der hiesige Schulmeister. Der schöne See im Vordergrund, in dessen klarer Flut sich seine nächste Umgebung spiegelt, ist ein wenig idealisiert: es ist, im Vertrauen gesagt, hier eine schmutzige Pfütze. Hoch oben sieht man in Miniatur die Hüttlein Gottes, – unsere Anstalten: rechts die große neue Blödenanstalt, links das neue Waschhaus, dann kommt, ganz von Bäumen bedeckt, der Betsaal, und daneben steht, halb bedeckt, das Diakonissenmutterhaus; ihm zur Seite links das Magdalenium mit dem Rettungshäuslein daneben. – Auf dem Bildchen mit dem Betsaal, dem Diakonissenhaus und Magdalenium ziehen wir eben zur Kirche am Mittwoch morgen ins Dorf. Der Herr Photograph hat uns vom Feld herüber damals ein Halt geboten, und so kamen wir denn aufs Bild: unsere beiden Schulen mit ihren Lehrerinnen.Siehst Du oben auf dem Betsaal das Glöcklein, das uns jetzt zu all unsern Gebetszeiten läutet?...
Nur einmal wenn Du an Weihnachten einen Augenblick in unsern Betsaal schauen könntest, der mitten im Winter wie ein Garten blüht und grünt und in seinem Lichterschein von einer ewigen Weihnachtssonne und Weihnachtswonne zu den Herzen redet...
Ich denke gar viel an mein liebes Augsburg, wo mir in der Sakristei von St. Jakob das Morgenrot eines neuen Tages oftmals zu leuchten schien, bis allmählich in Dettelsau mir eine Sonne aufging, die ewig nicht mehr untergehen soll... Deinem ganzen Hause wünsche ich ein heil- und segensvolles Jahr. Im Frühjahr darf ich, so Gott will, Deine Kinderlein sehen.
Ich bleibe Dir, so lange ich lebe, von Herzen dankbar.
Meine liebste Mutter, ...Herr Konrektor hat nun eine Anstellung in Eisenberg als Archidiakonus. Er hat heute in Altenburg gepredigt. Nach Quasimodogeniti wird er weggehen. Mein kleines Patchen gedeiht allerliebst. ...Ich hatte eigentlich vor, in den Ferien, die am 15. März beginnen, auf ein paar Tage nach Nördlingen und Augsburg zu gehen. Aber meine Pläne zerrinnen immer wie der Schnee vor der Sonne. Das Beste ist, daß ich sie mit heiterem Mut zerrinnen sehe. Meine Kinder bleiben alle in den Ferien hier, so kann ich auch nicht fort. Dazu ist’s jetzt in der Passionszeit so gar besonders schön hier. Und endlich drittens hält mich meine kleine ungetaufte Schülerin, der ich in französischer Sprache die großen Heilswahrheiten beibringen muß. Dies Frühjahr noch wird sie getauft werden, wenn Gott seinen Segen gibt. – Sechs Konfirmanden haben wir auch.
In inniger, dankbarer Liebe
Liebste Mutter, wir sitzen, seit Herr Pfarrer bei uns ißt, immer so lange bei Tisch. Da kann ich viel nähen. – So schön ist’s jetzt bei uns. Diese heilige Woche wird ganz besonders gefeiert. Alle drei Stunden, von früh 6 Uhr an, erschallt unser Glöcklein und gibt das Zeichen, daß wir einige Minuten die Arbeit beiseite legen und an das Leiden unseres Herrn gedenken sollen. ...So mancherlei Schweres gibt’s schon auch unter uns, aber dennoch scheint mir zuweilen mein Glück so groß, daß ich meine, so könne es nicht lange bleiben. Weißt Du, ich meine, es wird auch je länger je friedlicher im eigenen Herzen. Manche Leidenschaft legt sich mit den Jahren und wird von Natur und Gnade zusammen überwunden. Ach, könntest Du am Karfreitag bei uns sein! Aber es ist ja überall schön.
O der schöne Frühling: Unser Garten ist sonst nicht schön und präsentiert mir sonst immer das Wort Langeweile. Aber jetzt mahnt er mich immer in seinem wunderbaren weißen Blütenschmuck an das Paradies und den Frühling jener Welt. Wenn der einmal anbräche! Liebe Mutter, bete doch für mich, besonders um ein recht mildes und gütiges Herz. Es klingt dumm, aber manchmal dünkt es mich zu schwer, daß ich so viele Menschen liebhaben soll und insonderheit für eine jede meiner Schülerinnen ein ganzes, warmes, volles Herz haben...
Gegenwärtig ist Deine Doppelgängerin hier, Frau Professor Lichtenberg. Sie zieht mit ihrem Manne ganz hieher. Der geht unter schwerem Leiden dem Tode entgegen.
Gott behüte Dich, meine liebste Mutter!
Meine liebste Mutter, ich bin hier im schönen Schlosse Polsingen und genieße mit vollen Zügen meine Ruhe und Freiheit, die mir hier gegönnt ist. Vorigen Sonntag fuhr ich mit Herrn Löhe hieher. Die Fahrt war wunderschön, besonders die abendlichen Stunden. O, es ist so schön hier! Ich bin aber fein nicht leidend, liebste Mutter, nur ein wenig matt und müde, so daß Herr Pfarrer meinte, ich könne meine Sachen nicht ordentlich tun. Er schlug mir daher öfters vor, hieher zu gehen und ein wenig auszuruhen. Ich meinte aber, ich könne es schon bis Semesterschluß aushalten. Am vorigen Freitag abend aber erteilte mir Herr Pfarrer ganz als Rektor bestimmten Befehl, am Sonntag mit einem Mann, der Ferdinand Löhe heiße, nach Polsingen zu fahren. Ich wußte nun, daß ich nun ganz einfach zu gehorchen hatte, und das hob mich über alle sonstigen Bedenken weg. Nächsten Dienstag, so Gott will, fahre ich wieder heim; denn da geht Herr Löhe zu seines Bruders Gottfried Hochzeit. ...Vorigen Donnerstag wurde Herrn Pfarrers erster Enkel getauft.
Ich möchte Dich gerne sehen, bin Dir so nahe, nur eine halbe Stunde. Aber nur hin- und herfahren, das ist ein aufregendes Wiedersehen, und meinen Aufenthalt teilen, das wage ich nicht ohne Erlaubnis von Dettelsau. Gerne zeigte ich mich Dir, damit Du keine Sorge um mich habest. Herr Pfarrer meinte neulich auch, er wolle mich eine Zeitlang nicht lehren lassen. Und das wäre mir ganz recht. Vielleicht darf| ich auch noch die Verwundeten pflegen. Unsere Schwestern in Bamberg wurden neulich mit Hurrageschrei als rettende Engel begrüßt. Und eine Schwester wurde mit einem: „Frau Diakonissin Hoch!!“ von eben vorüberfahrendem Militär empfangen. Aber denke nicht, daß mich das etwa zur Krankenpflege zieht; weil ich so im Zusammenhang erzähle, möchte es so scheinen. Ich überlasse übrigens alles Gott und seiner väterlichen Führung. – Es gefällt mir sehr wohl hier. So viel Platz ist da. Nicht jedes Winkelein zehnfach benützt, wie in Dettelsau, und den ganzen Tag will niemand etwas von mir.
Liebe Mutter, ...gestern war hier ein großes Fest. Das 25jährige Jubiläum der Mission in Nordamerika wurde gefeiert. Herr Professor Fritschel von Amerika war auch da und hielt einen Vortrag so voll Feuer und Maß, wie man von einem jungen Manne wohl selten in der Weise etwas hören kann. Eine große Menschenmenge war herzugeströmt. Doch kann ich Dir aus Mangel an Zeit nicht mehr erzählen...
Liebe Mutter, ...Julie laß ich sagen, daß Herr Pfarrer bereits drei Stunden über Memnotechnik gehalten hat. Die beiden biblischen Stunden der vorigen Woche wurden auch dazu verwendet. Es hat uns die Unterweisung viel Spaß gemacht. An der Einleitung gefiel mir der Satz so gut: Das Gedächtnis kann Schätze aufhäufen, die aber nichts nützen, wenn nicht die Erinnerung als eine Kraft von außen dazukommt. Wie der Duft in den Blumenkelchen eingeschlossen ist, wenn kein Windhauch kommt, ihn aufzuheben, so ist das Gedächtnis ohne Erinnerung. ...Morgen ist Abendmahl im Betsaal mit Predigt von Herrn Pfarrer. Gestern durfte ich mit zweien meiner Schülerinnen die äußeren Geschäfte beim „Anführen“ besorgen. Ich erzählte Herrn Pfarrer, wie das daheim für uns Kinder immer ein großes Fest gewesen...
Meine liebste Mutter, du hast mich so reichlich beschenkt, daß ich wirklich sehr überrascht war. Es ist fast zu reich gewesen. Die Jacke brachte mir Sara am Morgen meines Geburtstages mit einem Knittelvers, den sie mit großer Grazie deklamierte:
Die Mutter läßt Dich grüßen
Und läßt Dich durch mich wissen,
Daß sie Dir diese Jacke schenkt
Und Dein dabei in Lieb gedenkt.
Den herrlichen Kuchen, den Du in Deiner großen Güte bei Stürzenbaum bestellt, brachte mir der Kleine.
Wir haben herrliche Feststage gehabt. O unser Betsaal war so schön: Ich beschreib Dir schon noch alles. Wär nur das Wetter nicht so schlecht, ich könnte schon eine kleine Fußtour nach Ansbach machen, solange Du dort bist. Aber nein, es geht doch nicht.
Schick mir durch den Knecht irgend einen Zettel, auf dem ein Gruß von Dir steht! Also mein eigentlicher Brief kommt erst. Ich hatte viel Arbeit in diesen Tagen. Und heute abend habe ich mit meinen Kindern, weil es dritter Feiertag ist, statt gelernt – gespielt:
Wenn Du vielleicht hie und da Dich um Luise Dieterich ein wenig annehmen könntest, wäre es gewiß recht dankenswert. Den Nördlingern ist schwerlich jemals eine Diakonissin recht. Wir sind halt auch nicht vom Himmel gefallen und gehören zum armen Sünderorden, und darum muß man sich mit uns gedulden wie mit andern Menschen und nur immer offen die Wahrheit reden.
Liebste Mutter, ...gestern ist Herr Pfarrer mit Frau Oberin nach München gereist. Es wird dort wahrscheinlich auch eine Diakonissenstation errichtet werden. Heut vor acht Tagen hat Herr Pfarrer den Michaelsorden bekommen. ...
Wenn ich in meinen Briefen dazwischen einmal traurig scheine, so muß Dich das nicht betrüben, nur dringender beten wollest Du dann für mich. Ich kann Dir meine wechselvolle Stimmung ja nicht verhehlen und will mich in meinen Briefen nicht anders geben, als es mir gerade zumute ist. Die schwerste Not des Lebens ist doch die Sünde. Die macht mich am öftesten unglücklich. Wenn ich aber immer wieder absolviert bin und beim Sakrament gewesen, dann geht es wieder eine Zeitlang ganz gut; es ist ordentlich, wie wenn auch der Leib teilnähme an den neugeschenkten Gotteskräften, die die Seele empfangen.
Wenn Dir einmal gelegentlich der Brief unter die Hände kommt, den ich nach meiner Kaiserswerther Reise geschrieben, so sei so gut und schick ihn mir. Ich habe mir gar nichts ordentlich verzeichnet von jenen Tagen und möchte doch gerne die Erinnerung daran festhalten.
PS.: Man braucht jetzt nicht mehr: „Post Kloster Heilsbronn“ hinzuschreiben; Neuendettelsau allein genügt.
Meine liebste Mutter, ...Herr Pfarrer wird, so Gott will, morgen von Polsingen zurückkehren. Er war dann gerade drei Wochen fort. Er hat sich dort mehr als Kranker gefühlt und mehr gepflegt, als er es hier tut. Doch erwarten wir nicht, daß er gestärkter und frischer zurückkommt.
Gegenwärtig ist eine alte Diakonissin bei uns zu Besuch, eine ehemalige Bethanische Schwester, die zunächst von X kam, wo sie hatte Oberin werden wollen, allein da die andere Oberin nicht ging, mußte sie wieder abziehen. Sie scheint geradezu aufs Oberinwerden versessen zu sein. Eine sonderbare Manie, das muß ich gestehen. Man muß wahrhaftig nicht recht gescheit sein, um darnach gerade ein Verlangen zu tragen.
Heute abend haben wir im Pfarrhaus noch mit Blumen geschmückt zum Empfang. Ein Kranz von lauter Rosen, wunderschön von Bruder Michel gebunden, hängt an seiner Schlafzimmertür, am Eingang des Wohnzimmers stehen zwei kleine Maien, und sonst gibt’s noch Blumen und Kränze. O könnten wir doch seinen schweren Lebensabend mit lauter Blumen bestreuen, wie gerne täten wir’s! Es ist eine harte, harte Führung.
| Denk nur, neulich war in Kloster Heilsbronn eine Somnambule, die, wenn sie in ihren eigentümlichen Krampf fiel und ganz starr und leblos dalag, mit lauter Stimme von der Wiederkunft des Herrn redete und die Leute zur Buße ermahnte. Sie wurde wie eine Prophetin angestaunt und angehört, so daß sich unser Herr Vikar veranlaßt fühlte, wenigstens den Leuten der hiesigen Gemeinde auf den Standpunkt geistlicher Nüchternheit zu verhelfen und in einer Predigt über den Somnambulismus und seinen Unterschied von Prophetie zu belehren. Es ist ein schlesisches Bauernmädchen, das seit zwei Jahren einen unwiderstehlichen Drang hat, umherzureisen und den Leuten Buße zu predigen. Was sie sagt, gibt nicht etwa ein neues Licht über das göttliche Wort, ist aber auch nicht schriftwidrig. Jetzt ist sie zu Pfarrer Clöter nach Illenschwang gegangen, der die Leute zur Auswanderung in das asiatische Rußland animieren will, weil die Zukunft des Herrn unmittelbar bevorstehe.Doris war neulich mit Frau Domina von Veltheim in Ammergau beim Passionsspiel. Sie kam sehr ernüchtert zurück!...
Meine liebe Mutter, herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Du mußt Dich nicht entschuldigen, wenn Du von äußeren Dingen zu schreiben hast. Ich bin keineswegs so ätherisch, daß ich nicht in alle Not und alles Ungemach des Lebens, das mich umgibt, hineinsteigen könnte. Wenn Du mich manchmal sähest in meinem Tun und hörtest in meinen Reden, Du würdest es schon merken, daß mir die äußeren, nur praktischen Dinge nicht einmal mehr eine Last sind. Es gehört ja dies zu diesem irdischen Leben. Einmal wird’s anders – und Schmutz und Staub und Not des Lebens hört auf.
...Das eben dünkt mich das Grundverkehrte an dem Scherersbuch, dies verzweiflungsvolle Ringen der Blinden nach einer Selbständigkeit, die Gott nicht einmal bei sehenden Menschen duldet, geschweige sie von Blinden ertrotzen läßt, die Er durch Seine Führung in die Abhängigkeit gesetzt hat| mehr als andere Menschen. – Ich für meine Person bin froh, daß ich das Buch gelesen. Ich meine, ich hätte etwas daraus gelernt, besonders auch das, daß doch wir Sehenden uns oft nicht genug in die Blinden hineindenken. Es ist wahr, Blinde müssen mit zartester Aufmerksamkeit behandelt werden, und seit ich mehr darauf achte, tut mir manches für Julie weher als sonst. Am Himmelfahrtstage gingen wir miteinander spazieren. Herr X. begegnete uns, grüßte und sagte dann zu mir sehr freundlich: „So, führen Sie Ihre Schwester spazieren?“ Julie war höchst aufgebracht über diesen Ausdruck: „Führen Sie etc.“ Hundertmal begegnen solche Kleinigkeiten, die vermieden werden könnten. Doch nun genug davon. Gottes Wort sagt: „Du sollst dem Blinden keinen Anstoß in den Weg legen.“ Ich meine, man könnte darin die ganze Weisung für eine zarte Rücksicht Blinden gegenüber lesen. Ich will mir’s gewiß auch merken, denn ich habe oft an allerlei nicht gedacht.Herr Pfarrer ist einen Tag nach seiner Rückkehr von Polsingen wieder krank geworden und ist noch jetzt nicht wieder in Tätigkeit. In Polsingen hat er alles sehr hoffnungsvoll gefunden. Er konnte bei seiner Erkrankung nichts lesen und schreiben, seine Augen taten ihren Dienst nicht. Es geht wohl wieder etwas besser.
Denke nur, Prinzessin Elise ist Braut mit einem sehr frommen Fürsten Salm[15]. Sie wollen sich miteinander verbinden, um Werke der Barmherzigkeit zu üben, namentlich um arme irrende Seelen aus ihrem Stande wieder zurückzubringen auf den rechten Weg. Die ganze Sache ist hier vor sich gegangen und war uns natürlich höchst interessant, weil alles so außergewöhnlich ist, so gar nicht nach dem Sinn dieser Welt.
In herzlicher, dankbarer Liebe
Meine liebste Mutter, diesmal soll Dir Marie mein Geburtstagsbrieflein bringen, in das hinein ich mit lauter Buchstaben der Liebe und des Dankes schreiben möchte. Ich möchte wohl auch einmal wieder einen Geburtstag mit Dir feiern. Seitdem Marie und ich damals in Weiltingen Deine einzigen Töchter waren, die Du um Dich hattest, ist mir die Freude nicht mehr zuteil geworden, und auch diesmal muß ich mich mit unsichtbaren Besuchen begnügen. Ich kann kaum einen besonderen Wunsch finden, den ich Dir aussprechen möchte, sondern alles, was gut und heilsam und zeitlich und ewig nütze und dienlich ist, das wünsche ich meiner liebsten Mutter...
Ihr habt vielleicht schon gehört, daß am 2. November unsere liebe Schwester Cäcilie[16] ihre selige und fröhliche Heimfahrt gehalten hat. Ihr letztes Wort, das sie noch mit sterbenden Lippen hauchte, war: „Loben und danken.“ Oft während der Zeit ihres Krankenlagers hat sie uns ernstlich ermahnt, ja recht zu loben, wenn sie vollendet habe. Ihre langen, schweren Leiden haben alles nacheinander weggeschmolzen durch die Wirkung der göttlichen Gnade, was im Leben an ihr störend war, und ihre edle Seele reifte sichtlich, zu unser aller Verwunderung und zu gesegnetem Beispiel, für die Ewigkeit. Ihr sehr interessanter Lebenslauf wird gedruckt werden. Ich habe nie jemand auf dem Krankenbett so einfach und nüchtern von jener Welt reden hören, wie unsere Cäcilie. O wie viel hat der Herr auch durch dies Kranken und Sterben zu unsern Seelen geredet!...
Bei unserm lieben, teuern Herrn Pfarrer macht sich das herannahende Alter zuweilen recht bemerkbar. Das macht mich sehr traurig. O es gibt nichts, gar nichts auf dieser Welt, was die Seele stille und wahrhaftig glücklich machen kann, als die Aussicht auf eine ewige Seligkeit. Gott sei Dank, ja tausendmal Dank, daß wir die haben!
Ich weiß nicht, ob ich Dir schon geschrieben, daß wir in diesem Semester viele Schülerinnen haben, so viele wie seit Jahren nicht mehr. Es ist mir eine große, schöne Aufgabe zugewiesen. Aber schwierige Charaktere sind darunter. Ich glaube nicht, daß es unter dem männlichen Geschlecht solche Abnormitäten gibt wie unter dem weiblichen. Hast Du in Deinem langen Leben vielleicht die gleiche Bemerkung gemacht, oder meine ich das bloß?...
Gegenwärtig stehe ich in einem sehr innig nahen Verhältnis zu Auguste Bandel[17], einer Cousine von Brauns, die hier die Sträflinge unter sich hat, welche der Staat hieher gebracht hat, und nebenbei englischen und französischen Unterricht erteilt. Ich habe noch nie jemand gehabt, der so wie sie mit mir auf das „inwendige Leben“ und die „geistlichen Übungen“ eingegangen ist, und ich achte ihren Umgang für ein besonderes Gnadengeschenk. Wir sprechen auch häufig englisch zusammen, und ich bin ganz vergnügt darüber, daß ich neulich bei einer Abteilung von Anfängerinnen den englischen Unterricht übernehmen durfte, denn ich liebe die englische Sprache sehr. – Gott behüte Dich nun, meine liebste, teuerste Mutter, und mache Dich bald wieder frisch und gesund und schenke Dir noch viel Freude und Wonne im armen Erdenleben. Heut abend werden die alten „Responsorien“ vom 3. Adventssonntage gesungen. Ich wollte nur, Du könntest sie hören. Das klingt immer ganz ins Herz hinein, wenn der Text des heutigen Evangeliums von den wunderbaren Tönen| getragen wird und einem die Tonkunst es vor die Seele malt, wie die Toten auferstehen etc.... Ich kann mich darüber schlecht ausdrücken, weil ich nichts von Musik verstehe... Nochmals lebe wohl!
Meine liebste Mutter, heute empfing ich Deinen lieben Brief, für den ich Dir herzlich danke. Ich eile Dir gleich zu sagen, daß Dein Reiseplan wunderschön ist. Mein Beruf ist mir wohl noch neu dann, aber das wird doch kein Hindernis sein. Also laß es nur vorderhand so stehen. Du kommst am Montag der Karwoche zu uns und bleibst bis zum Karsamstag. Wie freue ich mich, mit Dir nach vielen, vielen Jahren wieder einmal Karfreitag zu feiern (nein, so gar viele Jahre sinds doch nicht, fällt mir da ein; ich war ja einmal in Breitenau um diese Zeit.) Marie ist da wahrscheinlich auch noch hier, denn sie bedarf einer längeren Erholung. Wie schön wird das sein!...
Ich schreibe heute nicht mehr, nur noch das Eine, daß ich morgen erst, als am Tage Marien Verkündigung, in mein Amt eingeführt werde. Nicht wahr, Du gedenkst meiner in inbrünstigem Gebet. Die Veränderung geht bei mir tiefer als bei andern Diakonissen der Berufswechsel.
Liebe, teure Mutter, recht herzlichen Dank sage ich Dir für Deinen lieben Brief. Das ist doch nicht Dein Ernst von Amerika! Hu, mir graust’s vor Amerika. Nach Osten hin, o, da zieht’s mich gewaltig, und in Jerusalem als Diakonissin zu sterben, das ist ein Gedanke, für den ich schwärmen könnte, wenn ich nicht zu alt wäre zum Schwärmen und wenn nicht die Nüchternheit des Lebens auch meine zum Schwärmen neigende Natur längst in ihr kühles Wasser getaucht hätte. Aber ein Gedanke bewegt mich heute, den ich Dir vorlegen möchte, damit Du ihn entweder verwirfst oder dazu wirkst, daß er realisiert wird.
Sieh, ich bin nun, nachdem ich jahrelang mich darnach gesehnt, wirklich mitten ins praktische Leben hineingestellt worden, aber nicht, wie ich’s eigentlich bedürfte, als Schülerin und Anfängerin, sondern gleich in übergeordneter Stellung. Da fühle ich nun natürlich meine Lücken und meine Schwachheit, und eine Sehnsucht erwacht in mir, ein wenig mehr zu verstehen, um doch meinen Posten besser ausfüllen zu können. Mein Beruf stellt mich vornehmlich unter die Kranken, und doch habe ich nie Kranken persönlich so recht gedient. Da möchte ich nun so gerne nur auf ein paar Wochen in ein Hospital gehen, wo die Krankenpflege gerade in besonderer Vollkommenheit geübt wird, wie z. B. im Diakonissenhaus in Berlin oder sonst irgendwo. Das erforderte aber natürlich einiges Geld. Ich habe aber nichts. Bei meinem Überlegen fielen mir jedoch die 100 fl. ein, die ich einst besessen, auf die ich dann aber verzichtet habe. Sollten sie nun| noch nicht angegriffen sein und würdest Du mir noch eine Art Recht darauf zuerkennen, so könnte ja auf diesem Wege mein sehnliches Verlangen gestillt werden. Ich habe Herrn Pfarrer noch nichts gesagt. Ich wollte erst wissen, ob überhaupt eine Möglichkeit wäre. Vielleicht schreibst Du mir gleich nach Empfang meines Briefes. Durchsetzen um jeden Preis will ich natürlich die Sache nicht. Nur wird jedermann, der sich in meine Lage versetzt, mein Gefühl des Mangels gerecht und mein Verlangen in der Ordnung finden.Ja, wenn ich könnte, wie ich wollte, dann ginge ich ein paar Wochen in ein Krankenhaus, ein paar Monate in die hiesige Küche, ein paar Monate lernte ich ordentlich nähen. Es ist ja in der Tat nicht viel mit mir. Aber Krankenpflege sollte ich nun zu allernächst verstehen. Ich bitte Dich, schreibe mir doch gleich morgen, wenn’s möglich ist, Deine Meinung – so oder so.
Liebste Mutter, ...Ich danke Dir von ganzem Herzen, daß Du mir zur Erlangung meines Wunsches helfen willst. Ich bin ein wenig von Berlin abgegangen und tiefer heruntergestiegen. Ich kann ja auch in einem der Spitäler, wo unsere Schwestern arbeiten, lernen. Herr Pfarrer findet es ganz gut, wenn ich irgendwohin gehe. Aber so bald kann ich jetzt noch nicht fort. Am 13. August kommen die Tüncher in den Betsaal. Dann wird auch unser Siechensaal gemacht. Da wird’s schon Herbst werden. Ich bin jetzt schon beruhigt, weil ich die Möglichkeit sehe. Ich denke nicht, daß es so arg viel kosten wird. – Denke nur, unter meinen Pflegebefohlenen ist jetzt eine Gräfin, die die Kopfgicht hat und auch Gelenkrheumatismus. Man muß ihr jetzt nachts einheizen. Sie ist eine geborene Französin und in Polen aufgewachsen. Da hat sie denn auch polnische Gewöhnungen an sich. Man mußte ihre beiden Koffer unter die Matratzen ins Bett stellen. „So machen’s wir Polen.“ Auf dem Kopfe trägt sie eine Pelzmütze, eine wattierte Haube, ein seidenes Tuch und dann noch eine Art von Turban drüber. Kuriose Menschen gibt es doch unter der Sonne!
| ...Ich bin schon wieder auf einer Hochzeit gewesen – bei Prinzessin Elise Salm. Schwester Marie Regine sagt: „Sie bereist jetzt alle Hochzeiten.“ Ich hab mir gedacht, die Hochzeiten bei uns Bürgerlichen sind schöner als die vornehmen. Da ist nichts von Gemütlichkeit, sondern alles wird mit einem steifen Zeremoniell ziemlich kurz abgemacht. Die Braut sah sehr schön aus im weißen Atlaskleid mit langem Schleier, der mit goldenen Nadeln zierlich geheftet war. Ich war aber froh, als ich wieder glücklich daheim war. Nur Herrn Pfarrers Kommando hat mich gezwungen hinzugehen. Er wollte nicht, daß gar niemand von Dettelsau da wäre; er selbst wollte nicht, auch Frau Oberin nicht. So schickte man mich mit einer Schwester, obwohl ich Prinzessin bereits für ihre Einladung gedankt hatte. Ich bin froh, daß ich nicht vornehm bin.Liebste Mutter, bete doch für mich, daß ich ein recht liebevolles Herz bekomme. In der Familie hat man, meine ich, viel weniger Reizung zur Lieblosigkeit und Ungeduld als unter Fremden. Es ärgert mich den Tag über so vieles, und die tägliche, stündliche Selbstverleugnung wird oft so schwer. Gott erbarme sich mein und unser aller, daß doch unser Leben je länger je mehr zu Seines Namens Ehre diene. – Am Dienstag ist bei uns Festtag, diesmal am 11. statt am 10. Nun sind es vierzehn Jahre, seit unser Haus steht, und dreizehn sind’s bald, daß ich hier bin. Eine lange Zeit der Gnaden, wie sie nicht vielen Menschen so ununterbrochen zu teil wird.
Meine liebe Mutter, nun habe ich Dir schon sehr lange nicht mehr geschrieben, aber Du weißt ja, daß es mir gut geht. Gott sei Dank. Mit meinem Plan muß ich es vorderhand gehen lassen. Ich habe niemand, der meine Stelle inzwischen vertritt. Ich lerne nun eben hier, so viel ich kann. Ich habe auch neuerdings zu meiner großen Freude entdeckt, daß ich leibliche Kraft genug zur Krankenpflege habe. Nur Nachtwachen könnte ich, glaube ich, nie viel aushalten...
In dankbarer Liebe
Meine liebste Mutter, Gott grüße Dich in Ansbach, liebe, teure Mutter, wohin Dich Gott nunmehr für die nächste Zeit geführt hat. ...Ich kann mir denken, daß Dir der Abschied von Nördlingen schwer geworden ist, auch der Abschied von Marie, die Dir so nahe war; aber Du bist nun im Schoße der Liebe gewiß nicht minder als bisher, und wenn ich von mir etwas sagen darf, so freue ich mich recht von Herzen, daß Du nun auch mir einmal näher gekommen bist. Gott segne Deinen neuen Aufenthalt! „Ein Tag, der sagt’s dem andern, mein Leben sei ein Wandern zur großen Ewigkeit.“
...Ich möchte so gerne Taulers Leben lesen. Auch wäre ich sehr dankbar, wenn ich einmal Karl von Raumers Leben und Schliers Leben auf kurze Zeit geliehen bekommen könnte...
Der Herr behüte Dich, meine liebe Mutter, und erquicke Dich mit Seinem Freudengeiste.
Meine liebste Mutter, ...Marie war hier, nicht ganz zweimal vierundzwanzig Stunden. Wir mußten am Montag vormittag miteinander ins Pfarrhaus, weil ihre Etats durchgesprochen wurden fürs nächste Rechnungsjahr. Herz und Gemüt hatte wenig vom ganzen Besuch. Das Diakonissenleben ist schrecklich geschäftlich. Aber wir waren doch froh, daß wir ein wenig zusammen sein konnten.
Es geht mir sehr wohl. Zwischenein freu ich mich wie ein Kind auf Weihnachten und doch nicht mehr wie ein Kind. Es ist doch alles anders geworden, und Gott sei tausendmal gedankt, daß es anders geworden ist und an die Stelle der Kinderfreude ein wenig etwas von der rechten Christenfreude getreten ist. Der Herr schenke uns eine selige Advents- und Weihnachtszeit.
Gott sei nun für dieses Mal doppelt Lob und Dank gesagt, daß er die Unvorsichtigkeit so barmherziglich und gnädiglich gestraft hat...
Meine liebe, teure Mutter, ...Rechte Sorgen hatten wir diese Tage um unsere liebe Frau Oberin, die an ihrem Geburtstag Rotlauf bekam und außerdem einen sehr heftigen Anfall von Asthma hatte. Gestern hatte sie auch einen sehr schweren Tag. Doch sagte der Doktor, der Verlauf der Krankheit sei bis jetzt normal und nicht beängstigend. Wir sind schlimm daran: keinen Rektor in voller Kraft und eine kranke Frau Oberin. Doch freue ich mich manchmal so ganz im stillen, wie jetzt um so mehr Zusammenhalt und Zusammenschluß unter den Schwestern ist und alles sich bemüht, seine Sache bestmöglichst zu machen. ...Herr Pfarrer hat wirklich den Konfirmandenunterricht eröffnet, was uns eine rechte Herzensfreude war. Es geht ihm so leidlich, wenn auch freilich von einer zunehmenden Kräftigung nichts zu merken ist. Nach jenem Konfirmandenunterricht kam er zu mir her und fragte: „Meinst du nicht, ich könnte den ganzen Unterricht geben?“ Ich sagte: „Nein, das ginge doch nicht, wir danken aber Gott, daß Sie das können.“ Da antwortete er: „Ja, ich könnte auch wirklich nicht den vollen Unterricht geben.“ – Nächsten Montag, so Gott will, wird meine Schule geprüft. Herr Pfarrer will selbst dazu kommen. Da denk an mich, liebe Mutter, nachmittags von 3 bis 6 Uhr.
Meine liebe, teure Mutter, was mußt Du nur von mir denken, daß ich immer und immer stumm bleibe! Ich kann mich eigentlich gar nicht entschuldigen. Es ist halt ein Tag nach dem andern vergangen, und zuletzt sind’s so viele geworden... Ach, wir Diakonissen haben’s doch in vieler Beziehung so viel leichter. Ich kann’s nie anders finden, wenn ich die Stände vergleiche. Es ist aber alles ganz anders. Das, was man gewöhnlich beim Diakonissenberuf für schwer hält, das ist leicht, und an was man in der Regel nicht denkt, das ist schwer. Ich will mich jetzt nicht deutlicher ausdrücken. Aber danken will ich Gott und danken sollst auch Du, meine liebste Mutter, daß ich – bei meiner Anlage – eine Diakonissin und nichts anderes geworden bin.
| ...Ich bin also wieder an der Schule, liebe Mutter, und so ungern ich das sage, so ist es am Ende doch wahr: es ist, wie wenn man den Fisch wieder ins Wasser geworfen hätte. Das Lehren ist eben doch meine Gabe, vielleicht meine einzige. Ich weiß es nicht. Es mußte sich alles so merkwürdig fügen, daß in einer einzigen Stunde, vor deren Beginn niemand die große Änderung ahnte, mein Schicksal entschieden wurde. Ich möchte, daß mir mein Tun nicht mehr so wichtig vorkäme. Es ist ja doch alles einerlei, was wir in dieser Wartezeit auf die ewige Heimat zu tun haben, wenn wir nur treu sind. Ich habe eines auch gelernt in diesem Jahre, daß ich mich aus keinem Beruf heraus- und in keinen andern mehr hineinsehne. Nur an Einem Dienst hänge ich mit einer gewissen Leidenschaft: das sind die süßen, heiligen Mesnergeschäfte. Daß ich die Altäre bereiten darf zur höchsten Feier auf Erden, die Brote und den Wein besorgen zu Seinem Sakrament, das ist mir unaussprechlich süß, und das ginge mir tief ins Herz, wenn ichs hergeben müßte. Aber das andere alles soll mich nicht mehr tief berühren.Dieser Tage kam in einer Zeitschrift eine Schilderung von Herrn Pfarrer Löhe, die großes Wohlgefallen erregte. Ich konnte des Blattes noch nicht habhaft werden, hörte aber heute mit freudigem Staunen, daß Adolf der Verfasser sei. Ach ja, man wird Herrn Pfarrer erst noch recht begreifen, wenn dies reiche, große Leben abgeschlossen ist. Jetzt meldet sich das Alter in sehr merklicher Weise. Zwar wenn er im Amte ist, erscheint er oft frisch und kräftig, aber wenn ich ihn in seinem Hause sehe, etwa am Abend eines mühevollen Tages, dann macht er mir so den Eindruck eines Greises, daß es einem ganz wehmütig werden könnte. Wie wohl wird ihm einmal die Ruhe tun, die Ruhe, die „noch vorhanden ist dem Volke Gottes“! Wie wohl wird sie auch Herrn Kirchenrat Bomhard tun, wenn das letzte Schwere vollends überwunden ist! Ich freu mich, wenn ich einmal diese zwei Lehrer „leuchten sehe in des Himmels Glanz und wie die Sterne glänzen immer und ewiglich“, weil sie viele zur Gerechtigkeit gewiesen haben.
Bei unserer Matutin spielt Gertrud Hahn jetzt manchmal die Harfe. Das klingt so schön zu den Psalmen.
Meine liebe Mutter, ...Heut hab ich einen sehr glücklichen Tag. Laß Dir erzählen, warum. Dieser Tage lag mir’s sehr am Herzen, daß doch Gott unsern Anstalten es auch am irdischen Gut nicht mangeln lassen wolle. Ich sagte auch meinen Schülerinnen davon, und wir beteten ein paar Abende auf unsern Knien um irdisches Gut für unsere armen Anstalten. Frau Oberin sollte in diesen Tagen viele Zinsen zahlen und hatte kein Geld. Da führte heut Herr Pfarrer Fremde herum, und mit einem Male rief er mich her und hieß mich meine Hand aufheben, er wolle mir was schenken, – und da legte er mir ein Goldstück nach dem andern ein, bis 100 fl. voll waren, und hieß es mich zu Frau Oberin tragen; sie solle damit ihre Zinsen zahlen. Überglücklich legte ich Frau Oberin die reiche Gabe auf den Tisch. Dann ging ich zu einer adeligen Dame, die in unserm Hause wohnt und demnächst Diakonisse werden will. Die hatte heut ihren Geburtstag und legte mir ein Papier in die Hand, darin waren 50 fl. „für den Betsaal“. Das griff mir noch mehr ins Herz, denn das ist meine besondere Kasse, und ich hatte so viel Schulden für das Dach und Reparaturen. Ich mußte fast weinen, daß Gott gar so gut ist, wenn man Ihn nur bittet. Vor wenig Tagen hätte ich so gar gern eine Rechnung gezahlt. Es fehlten mir aber noch über 3 fl. Indem ich nun so wünsche und denke und auch ein leiser betender Gedanke wie schüchtern sich aus meiner Seele hebt, da kommt ein Mädchen daher und verlangt von mir, ich solle ihr Geld wechseln. Ich gebe ihr Kreuzer und Pfennig, und sie füllt damit ihr Portemonnaie und sagt: „So, jetzt bring ich mein großes Geld nicht mehr hinein. Nehmen Sie das und verwenden Sie’s, wie Sie wollen.“ Damit gibt sie mir 2 Taler. Ich war ganz erstaunt und fragte sie noch, ob sie’s auch wirklich tun könne. Und als sie beharrte, ja, es sei ein Geschenk, – da nahm ich’s mit Dank gegen den wunderbaren Gott, der einen kaum entstandenen Gedanken versteht und in übergroßer Güte gleich erhört, damit wir endlich einmal „bitten lernen sollen, wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.“
Unserm teuern Herrn Pfarrer merkt man das fortschreitende Alter oft recht an. Wenn ihm nur jemand etwas abnehmen| könnte von seiner ungeheuren Arbeitslast. Und nun hat er auch seine Marianne nicht für seinen persönlichen Dienst. Das tut mir gar zu leid. Wir sind alle in ehrfurchtsvoller Ferne. – Aber denk nur, dieser Tage hat er zu einem fremden Herrn, der uns besuchte, gesagt, ich sorge für ihn wie eine Tochter, ich solle drum auch einen Segen haben, einen Vatersegen. Das hat mich sehr glücklich gemacht, daß ich einen Vatersegen haben soll.Marie kommt jetzt bald in Ferien. Ich freu mich recht. Ich will sie dann recht pflegen. Ich wüßte Dir noch viel zu erzählen, aber ich darf nicht mehr. Laß Dir gute Nacht sagen, meine herzliebste Mutter, und Dich im Geiste küssen und umarmen.
Meine liebste Mutter, wir bitten Dich herzlich hieher zu kommen. Dann sind wir doch alle drei beisammen. Marie könnte wohl im Rückweg mit Dir zusammen sein, aber ich nicht, denn wir haben in wenigen Wochen Prüfung. Da kann ich vorher nicht fort. Ich freu mich so, wenn Du kommst. Diesmal soll es gewiß gemütlicher werden, auch mit dem Logieren. ...Wenn das Wetter nicht gar zu schlecht ist, dann ist der Weg von Schlauersbach her nicht zu anstrengend für Dich – und es ist so am einfachsten. Wir werden also am Donnerstag um 4 Uhr in Schlauersbach sein, wenn Du nicht mehr schreibst. Ist das Wetter zu schlecht, dann erwarten wir Dich nicht. Wir könnten Dir auch mit einem Einspänner entgegenfahren. ...Ich freute mich schon immer darauf, was ich Dir alles zeigen werde, meine liebe, liebe Mutter.
Denke Dir, Herrn Pfarrers Enkeltöchterlein in Nürnberg ist gestorben – Helene (Löhe) hieß es. Es gedieh so prächtig, daß es eine Wonne war, und plötzlich bekam es die Brechruhr und starb. Herr Pfarrer ist dort. Heut ist die Leiche. Herr Pfarrer wird wohl erst Ende der Woche kommen, weil er mehrere Diakonissenstationen visitiert...
Meine liebe, liebe Mutter, ...also ich komme, so Gott will, am Freitag zwischen 9 und 10 Uhr zum Geburtstag meiner lieben, lieben Mutter. Denk nur, Herr Pfarrer meint, Du seist noch nicht so alt wir er. Da sagte ich ihm, daß Du dreizehn Jahre älter wärest.
Wie freue ich mich, daß ich kommen kann! Heut nachmittag von 3–6 Uhr visitiert Herr Pfarrer meine Schule zum erstenmal in diesem Semester.
Meine liebste Mutter, ...ich bin neulich gut heimgekommen und war am andern Tag hocherfreut, unsern Altar fertig zu sehen. Der darauffolgende Sonntag war ein unbeschreiblich schöner Tag für uns. Ich meine fast, so eine schöne Feier wie diese Altarweihe habe ich hier noch nicht erlebt. Gott ist recht gut und barmherzig, daß Er uns solche hohe Festtage schenkt, die das ordinäre Leben wie mit leuchtenden Strahlen durchbrechen.
Heute ist Advent. So weit schrieb ich noch vor der Kirche. Jetzt füge ich noch ein paar Zeilen dazu, nachdem ich eine herrliche Predigt gehört, die uns zur Freude mahnte und uns den Grund von vorhandener Freudlosigkeit in inneren, sittlichen Mängeln suchen ließ. ...Eine fröhliche Adventszeit wünsche ich Euch allen.
Ich danke Dir für Dein liebes Brieflein und Messer und Farben. Schreib mir doch im nächsten Brief, was alles kostet, weil der Apostel befiehlt, man solle sich nichts schuldig bleiben als Liebe. Ja, ich Dir nichts schuldig bleiben! Ich werde Deine Schuldnerin bleiben allewege, auch wenn ich redlich Dir Messer und Farbe zahle. Aber da drinnen ist ein ewig dankbares Herz für Dich, meine liebste Mutter, und das mag in seiner Weise allmählich Schulden abzahlen.
Meine liebste Mutter, nimm jetzt noch meine innigsten Glückwünsche zum neuen Jahr! Der Herr gehe mit uns hinein ins Jahr 1870, so gewiß als Er mit Seinem Volke Israel zog in der Wolken- und Feuersäule. Drum können wir auf alle Fälle getrost sein, es mag gehen, wie es will.
| Morgen will Herr Pfarrer zum erstenmal herauskommen – so Gott will. Gestern war Granvagl[18] da. Ich habe aber noch nichts Genaueres gehört, nur so viel, daß er Herrn Pfarrer das Ausgehen, aber noch nicht das Predigen erlaubt hat.Dieser Tage kommt Marielein von Polsingen. Ich freu mich diesmal so besonders darauf. –
In inniger, dankbarer Liebe
Liebste Mutter, „Wenig, aber von Herzen“, schreibe ich Dir noch geschwind diesen Abend, weil der Knecht morgen fährt. ...Marie war von Mittwochabend bis Montag hier. Es geht ihr gottlob besser, und munter und fröhlich ist sie ohnedies. Sie hat einmal im Pfarrhaus Kaffee getrunken, und Herr Pfarrer hat ihr eigenhändig serviert. Am Epiphanientag ist Herr Pfarrer wirklich herausgefahren. Es hat ihm auch nichts geschadet. Am Montag hat er auch wieder angefangen zu diktieren. Trotz allem kann ich aber, besonders zeitenweise, einer großen Bangigkeit nicht los werden. Der Herr wird’s ja wohl machen.
Am Epiphanientag ist hier eine schöne Sitte: da kommen die Leute und opfern. Man bringt ins Pfarrhaus Geld, Getreide, Kartoffeln etc. zu wohltätigen Zwecken. An dem einzigen Tag neulich wurden über 200 fl. an Geld und Naturalien geschenkt...
Über unser ganzes Leben hier ist jetzt ein trüber Schleier gelegt – durch Herrn Pfarrers Krankheit. Es geht zwar besser, am Epiphanientage ließ er sich zu unserer herzinnigen Freude wieder einmal in den Abendgottesdienst fahren; aber als er am Montag wieder einen Geschäftsbrief diktierte, bekam er keine gute Nacht darauf, und so kann man sich einer entschiedenen Besserung eigentlich doch nicht freuen. Es ist sein diesmaliger Zustand ganz anders als sonst – viel bedenklicher. Liebste Schwester, das kann man niemand sagen, was so ein Menschenherz durchzieht wie das meine, das ein solches Glück im Jammertal erfahren hat und nun dies Glück allmählich entschwinden sieht, – ich meine das Glück, speziell geleitet und geweidet zu werden auf grünen Auen und an frischen Wassern. Gott allein weiß es. Aber es gibt noch ein höheres, größeres Glück – und das entschwindet ewig nimmer. Gott Lob und Dank! Du mußt nicht denken, daß Herrn Pfarrers Zustand im allgemeinen für hoffnungslos angesehen wird. Es kommen mir nur wieder heute so trübe, bange Gedanken. Herr Pfarrer selbst spricht davon, daß er gerne Vorträge halten wolle etc.
Meine liebste Mutter, ...gestern abend hält plötzlich ein Wagen vor unserm Haus. Ich wußte, daß Herr Löhe kommen wollte, aber von Mariens Nichtkommen war ich ganz fest überzeugt. Dennoch gehe ich hinaus und rufe, wer da sei. „Ein Mensch“, antwortet’s, und richtig, sie war’s, nämlich meine jüngste Schwester Marie. Wir sitzen miteinander im Stüblein. Wenn Du nur auch dabei wärest!
| Herrn Pfarrer geht es ordentlich. Granvagl war gestern da, ich habe aber noch nicht gehört, was er für einen „Sager“ getan. Herr Pfarrer wünschte sehr, von ihm die Erlaubnis zum Ausgehen zu erlangen. Unser Doktor will es nicht zugeben, solange es so kalt ist. Er hat gewiß recht. – Über die heutige Epistel hat Herr Pfarrer einmal so schön gepredigt: „Von den schönen Kleidern, die wir anlegen sollen.“
Liebste Mutter, nur einen eiligen Gruß. Es fährt sogleich ein Wagen nach Ansbach. Ich bin neulich recht gut heimgekommen. An Schlauersbach waren etliche von unsern Leuten, so daß der Postillon meinte: „Do is scho halb Dettelsa.“ Der Weg war ganz gut. Ich danke Dir und den lieben Geschwistern nochmals herzlich für alles. Ich freute mich so, bei Euch ein wenig sein zu können, aber Du wirst es begreifen können, daß mich’s auch immer wieder zur Arbeit zieht. Es war auch gut, daß ich kam. Herr Pfarrer hatte mich für den folgenden Tag schon um neun Uhr bestellt und machte mich, wie er sagte, zur Bundesgenossin für einen Plan, den er wegen Abendmahlsliedern hat. Infolgedessen durfte ich mich den Tag nach meiner Rückkehr beinahe von morgens bis abends nur mit Abendmahlsliedern befassen, und Herr Pfarrer sagte obendrein am Abend, ich hätte ihm was Wirkliches geholfen. So freute mich’s doppelt. Mein Betsaalinventar, das ich in den Ferien ganz in Ordnung bringen wollte, muß eben noch ein wenig warten.
Herzlichen Gruß!
Ich fühle auch so mein Unvermögen den Schülerinnen gegenüber. Sonst durfte ich mich so als Handlangerin des Herrn Pfarrers ansehen, jetzt muß ich in meiner Schwachheit so allein arbeiten. Doch ich will ja nicht kleinmütig werden. Es geht ja auch besser. Ich kann nur so meiner Traurigkeit nicht recht Herr werden. – Neulich ließ Herr Pfarrer alle Lehrerinnen zu sich kommen und ordnete an, daß wir jetzt schon in den Schulen anfangen sollen nach den neuen Maßen und Gewichten zu rechnen. Jetzt mußt Du das auch noch erleben, daß man von lauter Metern etc. spricht. Mir ist’s aber ganz interessant.
Heute hielt der Ausschuß des Distriktsrates seine Sitzung in Kloster, hauptsächlich um sich wegen des Fortbestandes unserer Spitäler zu beraten. Die fünf Probejahre nämlich, auf welche der Vertrag mit dem Terminieren lautete, sind nun vorüber, und es handelt sich nun um neue Übereinkunft. Wir sind sehr gespannt. Als mir Herr Pfarrer neulich aus einem eben eingelaufenen Schreiben mitteilte, daß der Distrikt gegen die Fortsetzung des Terminierens sei, mußte ich unwillkürlich – ich weiß nicht, warum – ein wenig lächeln. Das hat sich Herr Pfarrer so gut gemerkt, daß er’s in öffentlicher Konferenz erzählte und es als Beweis nahm, wie froh doch auch die Schwestern seien, dieser Last überhoben zu werden. Es war aber doch das eigentlich meines Herzens Meinung nicht...
In herzlicher, dankbarer Liebe
Meine liebste Mutter, ...Herr Pfarrer konnte heute die Kinder selbst konfirmieren, aber bloß konfirmieren mit Handauflegung. Auch die Konfirmandenbeichte hat er gestern und vorgestern selbst gehört und heut mit das Abendmahl ausgeteilt. Gott sei Lob und Dank. Granvagl sagt, es sei ein merkwürdiger Stillstand in der Krankheit eingetreten. Aber Marianne geht’s gar nicht gut. Sie soll wieder nach Karlsbad...
Meine liebe, teure Mutter, ...gestern hielt Herr Pfarrer in meiner Klasse selbst Visitation. So etwas ist jetzt immer eine besondere Freude. Nächsten Sonntag will er auch vielleicht selbst eine Kopulation halten, wenigstens die Braut in die Kirche führen. Es ist hier eine schöne Sitte, daß immer eine ledige Braut einen Myrtenkranz bekommt. Es besteht dafür eine Stiftung. Im Paramentenverein wird er gearbeitet, und Sara und ich dürfen ihn dann immer aufsetzen und eröffnen den Hochzeitszug...
Meine liebe Mutter, ...von morgen an bin ich nicht mehr in Dettelsau, sondern wo? – in Ansbach; da pflege ich im Orangeriesaal verwundete Soldaten, unsere deutschen Brüder, die von französischen Waffen geschlagen wurden. Das ist Dir eine große Überraschung, nicht wahr? Aber ich bin sehr dankbar, daß ich so in der Nähe bleiben darf. Viele Schwestern sind auf dem Kriegsschauplatz selbst tätig. O, der entsetzliche Krieg! Bei uns ist große Bewegung: Telegramme und Posten bringen fast täglich was Neues. Bete für uns, insonderheit für Deine Tochter, die jetzt in eine ganz neue Sphäre eintritt.
In herzlicher, treuer Liebe
Meine liebe Mutter, ...Herrn Pfarrer geht es nicht schlimmer. Granvagl sagte neulich, ein Jahr lang solle er nicht predigen, die Rektoratsgeschäfte könne er schon behalten. Natürlich muß er sehr geschont werden und wir müssen uns eben, so gut es geht, helfen.
Ich danke Dir für Deine tröstlichen Worte. Ich habe bei allem Schmerz einen tiefinneren Frieden. Es ist etwas Wunderbares, daß eine gewisse Freude tief verborgen daneben liegt, wenn man alles wanken sieht. ...Heut hat sich mein ganzes Herz erquickt bei dem Leichenbegängnis eines sehr frommen Mannes der hiesigen Gemeinde. Grüber hieß er. Herr Pfarrer hat Herrn Vikar den schönen Lebenslauf diktiert, der da vorgelesen wurde. In dem kleinen Kirchlein auf dem Filial konnte man kaum schnaufen, geschweige sitzen, so war ein Gedränge.
Herr Löhe war mehrere Tage hier. Ehe er heute fortging, kam noch ein Brief mit 200 fl. für Polsingen, die eine Frau in Segnitz der dortigen Blödenanstalt vermacht hat. Ich brachte sie im Triumph ins Pfarrhaus. Da meinte Herr Pfarrer, die Marie werde demnächst ganz schuldenfrei werden, eben die Anstalt dort. Es ist auch wirklich eine Freude, wie viel Barmherzigkeit doch in der Welt ist. Gerade als Marie neulich hier war, kam auch so mancherlei für Polsingen, daß sie sich ganz triumphierend in den Wagen setzte und sagte: „Siehe, ich bin zwei Heere worden.“ –
In inniger Liebe
„Sehens, wenns ans andere End gehen, da müssens wieder nein.“ Wir hatten genug an einmal und wollten nur noch in die Kirche gehen, die zugleich den Protestanten und Katholiken dient, weil das Dorf Leute von beiden Konfessionen hat. Beim Schullehrer gab man uns einen Brief vom katholischen Pfarrer zu lesen, der als Feldkaplan mit nach Frankreich ist. Er schreibt, daß er wohl den Winter über im Feindesland dienen werde. Er erzählte, wie die Franzosen anfangs alle Deutschen „Prussiens“ genannt hätten, jetzt aber anfingen, einen großen Unterschied zu machen, zwischen Prussiens und Bavarois zu gunsten der letzteren. „Ah, les Bavarois, nous les aimons, ils sont gentils.“ Die Preußen machten sich durch allzu unverschämte Forderungen verhaßt. Nun hatten wir eine volle Stunde zurückzukehren, und unser Spitalzug hatte unterdessen Ordre bekommen weiter zu fahren. Man hatte uns gesucht und über uns raisonniert. Die Räucherungsgeschichte aber gab uns reichen Stoff zu Witz und Gelächter. Wir dankten Gott, daß wir wieder da waren, und nahmen uns vor, nicht wieder par force etwas erleben zu wollen.
Herzlichen Gruß an alle.
Meine liebe, teure Mutter, am nächsten Samstag ist Dein Geburtstag. Das will ich Dir nur hiemit in Erinnerung bringen, im Falle Du es übersehen solltest. Und da ist es je und je Sitte gewesen, daß ich mich zum Gratulieren eingestellt habe. Ich kann’s auch diesmal nicht lassen zu kommen, trotz aller Hindernisse, und möchte mich also definitiv anmelden, aber eben schon für den Freitagabend, weil ich die Post benützen will. Den Weg finde ich schon allein, und als Nachtquartier ist mir jeder Winkel recht. Ich möchte ja kein dérangement verursachen. Ich freu mich ganz unbeschreiblich. Ich kann schon zur Not noch ein wenig deutsch sprechen, wenn ich auch in Frankreich war.
Gott schenke uns einen fröhlichen Tag mitten in dieser Zeit der Not und Trübsal.
den 9. Dezember 1870, nachm. 4 Uhr
Adieu, meine liebe Mutter. Betet für uns, aber sorg Dich nicht. Herr Pfarrer sagte gleich: „Was wird die Mutter dazu sagen?“ und setzte hinzu: „Sie wird ihren Segen geben!“
Meine liebste Mutter, ...Herr Pfarrer hat heute ganz kräftig, wenn auch nur ganz kurz gepredigt. Aber ich kann mich nicht mehr darüber freuen. Sein Zustand ist deswegen doch bedenklich und traurig genug. Es soll nur niemand stürmisch ums Leben beten, auch nicht um ein solches, an dem so gar viel hängt. ...Beinah, liebe Mutter, wäre ich dieser Tage wieder nach Frankreich gereist. Ich bin eben gegenwärtig am leichtesten zu entbehren, deshalb werde ich immer in erster Reihe dabei sein. Ich bin jetzt doch recht froh, daß ich nachher in mein gutes Bett darf. Aber es ist mir auch ein tiefes Genügen, wenn ich in dieser Zeit der großen Not auch etwas opfern und entbehren darf. Vorhin hab ich mit unsern Probeschwestern den Lebenslauf einer Kaiserswerther Diakonissin gelesen, die in einem Lazarett in Pont à Mousson gestorben ist. Auch wir haben eine sterbende Schwester, aber gottlob in unserer Mitte. Weißt Du, es ist die Magdalene Wunner, die diesen Sommer noch in Ansbach war und mit der wir dann heimfuhren. Sie ist uns ein rechtes Vorbild in geduldigem Leiden, muß aber sehr viel ausstehen. Gott behüte Dich, meine liebe Mutter! Grüße die Geschwister aufs innigste. Ein Buch hat mir jemand zum Geburtstag geschenkt, das mich lebhaft interessierte, ich muß Dir’s schicken! „Margarete Verflassen, ein Lebensbild aus der katholischen Kirche.“
In herzlicher, dankbarer Liebe
Meine liebe, teure Mutter, ...geht es Euch doch gut im kalten Winter? Ich bin ganz gesund. Nur das Ergehen unseres teuren Herrn Pfarrers liegt als ein schwerer Druck auf uns. Auch Marianne ist wieder recht schwer leidend, so daß es im Pfarrhaus recht trüb jetzt aussieht. – Schwester Magdalene Wunner[22] ist gestorben. Es war ein recht friedlicher, für uns erbaulicher Heimgang. Es ist doch schön, so ein Diakonissenleben, das sich im Liebesdienst verzehrt hat...
Meine liebe Mutter, ...gestern abend in unserem Kapitel haben wir einen sehr interessanten Brief von Sara[23] aus Versailles gelesen. Sie beschreibt die Kaiserproklamation. Die Schwestern dachten: in Rom sein und den Unfehlbaren nicht sehen, das ginge doch nicht, und fanden richtig einen Posten hinter den Fähnrichen, von dem aus sie alles sehen und hören konnten. Die Ansprache des Geistlichen, die Liturgie, das Rauschen der Instrumente, der Gesang, das donnernde „Hoch!“, die Rede des Kaisers, der feierliche Verneigungsakt, alles mußte aufs tiefste bewegen, und sogar uns hat die lebhafte Schilderung einer Augenzeugin zwar nicht Tränen entlockt, aber doch dahin gebracht, daß wir uns eine sehr genaue Vorstellung von allem machen konnten.
Vorigen Sonntag waren Löhes hier. Herr Pfarrer hat sich doch, glaub ich, auch ein wenig gefreut. ...Marie hat ein großes Stück Arbeit hinter sich mit Berichten und Jahresrechnungen. Oft denk ich, sie hat aber trotz aller Mühsal doch einen recht schönen Wirkungskreis. Der meine ist ja auch schön, aber das immerwährende Lehren wird mir zuweilen recht arg zuwider. Gestern hab ich eine neue Schülerin aus Darmstadt bekommen: ein stattliches Frauenzimmer von zweiundzwanzig Jahren, die hinter dem Rücken ihrer Mutter eine Liebschaft angefangen hat und nun hier „fromm“ werden soll. Es ist mir ganz bang auf die Aufgabe.
Gott behüte Euch alle, insonderheit vor den Blattern. Grüße alle recht schön. Ich muß jetzt die Stunde anfangen.
In herzlicher Liebe
Was soll ich von Herrn Pfarrers Befinden schreiben? Gottes Wege sind wunderbar und heilig, aber schwer und dunkel für den trüben Blick unserer sterblichen Augen. Ich hätte mir auf der Welt nichts Schmerzlicheres ausdenken können, als was ich erlebe und vielleicht erleben werde. Bald kommt mir das ganze Leben nur noch wie eine große Tragödie vor, die sich nacheinander abspielt. Aber wir haben ja mitten in dem trüben Gewirre einen festen Anker, und den will ich treu und fest halten in aller Not. Der große Schmelzer schmelze nur zu und schmelze hinweg, was vor Seinen Augen nicht gut ist, – wenn Er uns nur dann geläutert und gereinigt in Sein ewiges Heiligtum eingehen lassen kann...
Liebste Mutter, denke Dir, Herrn Pfarrer geht es heute über Erwarten gut. Er hat eine gute Nacht gehabt, ist sehr munter und wird allem Anschein nach demnächst sich wieder in die Arbeit begeben. Freilich mischt sich in die Freude, daß wir ihn nun doch noch eine Weile behalten dürfen, auch viel Sorge und Bangigkeit; denn jedenfalls hat ihn der neue Anfall wieder bedeutend geschwächt. Doch wir gehen eben an der guten Hand des Herrn von einem Tag zum andern. Einmal wird ja doch alles gut werden.
Ich kann nur wenig schreiben. Es geht das neue Semester an. Es muß ja doch alles seinen Gang fortgehen...
Neulich habe ich Dir gar nichts von Westheim erzählen können, und es war doch so schön und mir eine solche Herzensfreude, auf dem heimatlichen Boden herumzuwandeln. Recht viele Leute trugen mir warme Grüße an Dich auf, manche sind inbezug auf unsere Familiengeschichte ganz im laufenden, was sich wunderlich anhört, wenn sie so vertraut von Berta und Ida, Adolf und Eduard etc. reden. Ich schaute mich genau im Pfarrhaus um, und die Frau wußte mir auch alles zu sagen: „Hier war die Wohnstube, da die Küche, an diesem Herd haben Berta und ich viel gekocht, da oben wohnte die Tante, als sie von München zu Besuch kam, da sind die Kinder nacheinander zur Welt gekommen“ etc. Es war mir alles so rührend und auch das Kirchlein, in dem ich die heilige Taufe empfangen, betrachtete ich mit besonderen Gefühlen.
Ich habe in diesem Semester viele Schülerinnen, unter anderen auch eine 38jährige Gouvernante, die die jüngste Tochter von Frau Marie Nathusius erzogen hat.
Schwester W. und A. wollten austreten, konnten es aber doch nicht übers Herz bringen, – sie sind eigentlich nur der übergroßen Anstrengung, die sie in Hof hatten, erlegen und wußten sich nicht recht zu helfen, da man sie von hier aus nicht ablösen konnte. Der Magistrat dort hat nämlich die Lazarettzeit benützt, gute Geschäfte für sein Spital zu machen. Es kamen endlose Soldatentransporte, ohne daß irgendwer fürs Lazarett eigens angestellt worden wäre, sondern die Spitalschwestern mußten neben dem andern Dienst die 70 – oder wie viel es gerade waren – Soldaten verpflegen. Nun, die Kriegszeit bringt eben viel Abnormes mit sich...
In herzinniger, dankbarer Liebe
Fräulein Escher[24] ist hier immer unwohl. Wir haben sie alle recht herzlich lieb. Sie besprach gestern recht ernstlich mit mir, ob nicht Marie diesen Sommer auf etliche Wochen zu ihr käme. Sie meint, es seien bei ihr die Magennerven stark angegriffen. Eine Luftveränderung, ein Aufenthalt in ihrem schönen Landhaus bei Zürich könne herrliche Dienste tun mit Gottes Hilfe. Ich solle den Plan mit Dir und Marie besprechen. Ich weiß nun freilich nicht, was Marie dazu sagt. Jedenfalls ist’s recht freundlich von dem guten Fräulein Escher, die sich vorgenommen hat, nur noch für andre zu leben, und unter ihre Lebenszwecke es aufgenommen hat, in ihrem schönen Zürich erholungsbedürftigen Dettelsauer Diakonissen eine Erquickung zu bieten. Frau Oberin sagte schon im Spaß, sie und ich sollten nächstes Jahr einmal hin.
Gott behüte Dich, meine liebste Mutter, und führe Dich recht bald im Frühlingssonnenschein hieher.
Liebste Schwester, Du hast wohl gehört, daß ich meine Ferien im Ansbacher Spital zubringen will, wo ich die Stelle einer Schwester, die abgelöst wurde, vertrete. Meine schöne Idee hat aber so allgemeinen Widerstand gefunden, daß ich sie aufgegeben hätte, wenn es nicht schon zu spät gewesen wäre. Nun möchte ich aber gerne, wenn es angeht, die letzten Tage meiner Ferien bloß meinem Vergnügen leben – dann wird alles wieder mit mir zufrieden sein, und ich erfülle damit auch einen eigenen Herzenswunsch. Ich möchte recht gern Dich und alle die Lieben in Augsburg sehen.
...Es sind gegenwärtig gar nicht viel Kranke im Spital, ich hab’s nicht anstrengend, und es freut mich so, ihnen dienen| zu dürfen. Eben haben wir eine unglückliche Geisteskranke im Garten herumgeführt. – Grüße die liebe Mutter und Julie und die Kinder.
Meine liebste Mutter, nimm meinen herzlichsten Dank für Deinen lieben Brief, mit dem Du mir zuvorgekommen, denn billig hätte ich zuerst schreiben sollen.
Von Polsingen habe ich keine neuen Nachrichten. Der kleine Hans[25] ist hier bei seinem Großvater, und es ist sehr rührend, wie er immer mit trippelt, wenn Herr Pfarrer in dem bequemen Rollstuhl, den ihm Gräfin Giech geschickt, spazieren gefahren wird, was fast täglich geschieht. Herr Pfarrer hat kürzlich zwei Schwesterneinsegnungen selbst halten können. Das war eine große Freude. Verzeih diesen flüchtigen Gruß. Bald kommt mehr...
Liebste Mutter, recht schönen Dank für die schönen Früchte, die mir Deine Liebe geschickt. Wie gerne denke ich an Deinen sonntäglichen Geburtstag. Es war doch ein schöner, schöner Tag, und wie dankbar bin ich, daß ich da sein durfte.
Mit dem Judenmädchen ist jetzt keine Gefahr mehr. Der Vater legt ihr kein Hindernis mehr in den Weg, und sie gefällt uns immer gleich gut. Als ich ihr gestern Stunde gab, sagte sie unter Tränen, ich könne mir gar nicht denken, wie ihr zu Mut sei und wie sie sich freue. Sie sei doch nun noch nicht getauft, aber „da drinnen“ (im Herzen) sei’s schon ganz anders geworden, seit sie hier sei, als zuvor.
Eine meiner Schülerinnen bringt Dir das Brieflein. Sie freut sich sehr, Dich zu sehen.
In herzlicher Liebe
Meine liebe Mutter, nur einen herzlichen Gruß durch Schwester Johanna, damit Du wieder weißt, wie es mir geht. Ich wollte in diesen Tagen an Adolf schreiben und ihm danken für seinen Brief und die Zusendung der Zeitung mit dem Nekrolog. Ich fand nur noch keine Zeit dazu. Danke ihm doch einstweilen recht schön für beides. Der Nekrolog ist recht schön. Es kommt ja wohl noch einmal einer in der Luthardtschen Zeitung. Gestern las ich einen, der von Weber sein soll. Das ist bis jetzt von allem, was ich gelesen, das schönste. Er hat das Leben des Seligen tief erfaßt. –
Ich bin so froh, daß die Zeit so eilt. Heute sind’s schon drei Wochen, daß die Abschiedsstunde schlug. Ich kann nicht viel anderes Tröstliches denken, als daß die Zeit enteilt, das Leben entschwindet und dann ein ewiges Wiedersehen kommt. Noch bin ich von dem nagenden Schmerz zu sehr hingenommen, als daß ich so recht danken könnte für das, was ich gehabt, und daß mich Gott in Gnaden gewürdigt hat, mein armes kleines Leben in Beziehung zu dem großen zu bringen, das nun abgeschlossen ist. Ich bin überhaupt immer noch wie im Traum und tue meine Geschäfte wie im Traum und muß mich unzählige Male fragen, ob’s denn auch wahr ist. Am vorigen Sonntag hatte ich eine selige Nachmittagsstunde, wie seit langem nicht mehr. Da war’s, wie wenn mir ein rechter Trank des Trostes gereicht würde von oben her; das Heimweh und Sehnen wurde zwar größer, aber es war eine Süßigkeit dabei.
Meine liebste Mutter, wir hatten neulich einen rechten Freudentag am 2. Februar, als die Jüdin getauft wurde. Sie ist so ernst und meint es so redlich, daß es in der Tat eine rechte Erquickung gewesen ist, diese Feier erleben zu dürfen. Ich erzähle sie Dir nicht, weil sie im nächsten Diakonissenblatt beschrieben ist. Es war die ganze Sache wie ein letztes Vermächtnis unseres vielgeliebten Toten. Mein letztes Gespräch mit ihm handelte von ihr, und so gerne hätte er sie selbst noch getauft. Caroline Meyer und ich waren die Patinnen.
| Daß Weber hier Pfarrer wird, ist mir eine rechte Freude, wenn gleich viel Schweres drum und dran hängt. Ich habe so fest die Überzeugung, daß das Gott gemacht hat, daß ich’s wie ein Unterpfand nehme, Er werde auch für uns in Gnaden sorgen und uns nicht allzulange in der bitteren Verwaisung lassen. Nur das Sündengefühl will mir oft den Glauben anfechten, daß Gott uns auch wieder jemand in Seiner Gnade und nicht in Seinem Zorn setzen werde. Am 21. Februar zogen wir hinaus zum Grabe und sangen: „Wer sind die vor Gottes Throne“ und „Gloria sei Dir gesungen“...In herzlicher, dankbarer Liebe
Meine liebe Mutter, heute war ein rechter Freudentag, an dem ich so viel Güte und Gnade des Herrn erlebte, daß ich Freudentränen weinte und aufs neue recht fest alle die Unterpfänder für Seine fernere Durchhilfe erfaßte. Das Erste heute morgen war, daß mir Frau Oberin sagte: „Weißt du, daß die Kollekte für Polsingen bewilligt ist?“ Ja, dafür sei Gott tausendmal Dank. Nun seufzt man in Polsingen auf und nimmt, wenn die drückenden Schulden weg sind, auch alles andere leichter. Dann kam Dein lieber Brief mit der frohen Botschaft und dem tröstlichen Schreiben von Blumhardt. Wie hat mich dies letztere so innig gefreut! Ich schicke den Brief morgen nach Polsingen, und Marie wird ihn dann gleich wieder nach Ansbach schicken... Ja, der Herr ist barmherzig und gnädig und kann erretten und helfen. Ich weiß es auch ganz gewiß, daß er auch uns noch helfen und uns wieder in Gnaden einen Hirten geben wird: Keiner wird zu Schanden, der Sein harret.
Denke Dir, vor ein paar Tagen schrieb eine Schwester aus Kulmbach, die dort an der Kinderschule dient, sie seien in eine große Verlegenheit versetzt worden. Eine ihrer Vorstandsdamen, eine gute Frau, sei zu der Schwester gekommen und habe dringend gebeten, sie möchten doch eine Zeitlang mit dem Unterricht in der biblischen Geschichte aussetzen. Die Kinder seien so begeistert von den heiligen Geschichten, daß sie daheim| immer davon sprächen, und viele Eltern seien dadurch in Aufruhr gekommen und sagen, sie wollten keine Diakonissin, sie wollten eine Kindergärtnerin, die in der Schule nichts von Religion vorbringe. Die Schwester erklärte der guten Dame, die in Angst und Sorge um den Bestand der Schule geraten war, daß sie es für eine Verleugnung halten würde, mit dem Erzählen der heiligen Geschichten aufzuhören, und wenn es auch nur für eine Zeitlang sein sollte, so wüßte sie ja dann nicht, wann sie wieder anfangen sollte. Es kann nun wohl sein, daß die Schwestern weichen müssen. Vielleicht verläuft sich aber auch der Sturm. Jedenfalls ist dieses Vorkommnis ein Zeichen unserer Zeit, und auf der andern Seite ist uns bei dieser Gelegenheit die Bedeutung der unscheinbaren Kinderschulen recht vor die Seele getreten. Teile das doch Adolf mit.Marianne wohnt noch im Pfarrhaus. Frau Schröder ist fort, und Herr Verweser Fleischmann ist ins Missionshaus gezogen.
Ich sehne mich sehr nach dem Ende unseres Provisoriums.
Das Judenmädchen hat sich jetzt in Dittenheim verheiratet. Wir sollten zur Hochzeit kommen.
Gott behüte Dich, meine liebste Mutter! Grüße Adolf und die Schwägerinnen aufs herzlichste.
Meine liebste Mutter, ...es ist noch gar keine bestimmte Aussicht für uns vorhanden. Ich bin oft so traurig, so traurig. Wenn sich doch Gott über uns bald erbarmen wollte!
- ↑ Korr.-Bl. 1907 Nr. 1/2.
- ↑ Korr.-Bl. 1891 No. 12.
- ↑ Korr.-Bl. 1913 Nr. 1/2.
- ↑ Korr.-Bl. 1911, Nr. 6/7, S. 22.
- ↑ Siehe „Lebensläufe“ S. 40 ff.
- ↑ „Lebensläufe“ S. 162 ff.
- ↑ Korr.-Bl. 1898, Nr. 3/4.
- ↑ Korr.-Bl. 1883, Nr. 7/8.
- ↑ Schwester Babette Dieterich heiratete Dr. Alfred Riedel.
- ↑ Zur Generalkonferenz der Diakonissenhäuser nach Kaiserswerth.
- ↑ Schwester Adelheid Liesching, siehe Korr.-Bl. 1906, Nr. 11/12.
- ↑ Der Wirt im Gasthaus zur Sonne.
- ↑ Beginn des preußisch-österreichischen Krieges.
- ↑ Königin Marie, eine preußische Prinzessin, war die Witwe des 1864 verstorbenen Königs Maximilian II. und die Mutter des regierenden unvermählten Königs Ludwig II., der damals verlobt war.
- ↑ Korr.-Bl. 1920, Nr. 6/7.
- ↑ „Lebensläufe“, S. 56–68.
- ↑ Korr.-Bl. 1910, Nr. 10, S. 38–40.
- ↑ Granvagl war ein homöopathischer Arzt aus Nürnberg.
- ↑ Korr.-Bl. 1925, Nr. 1.
- ↑ Korr.-Bl. 1925, Nr. 6/7.
- ↑ Korr.-Bl. 1927, 5/6.
- ↑ Siehe „Lebensläufe“, S. 75–85.
- ↑ Korr.-Bl. 1916, Nr. 3/4.
- ↑ Korr.-Bl. 1913, Nr. 1/2.
- ↑ Kind des Gutsbesitzers Ferdinand Löhe in Polsingen.
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