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Meine Kinderjahre (Fontane)/Sommer- und Herbsttage

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Die Krauses Meine Kinderjahre
von Theodor Fontane
Große Gesellschaft
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[132]
Neuntes Kapitel.
Wie wir in unserem Hause lebten. Sommer- und Herbsttage; Schlacht- und Backfest.


Wie wir in unserem Hause lebten? Im Ganzen genommen gut, weit über unsern Stand und unsere Verhältnisse hinaus. Allerdings schoben sich, speziell auf das Küchendepartement hin angesehen, auch sonderbare Zeitläufte mit ein, so, beispielsweise, wenn wir, in Sommertagen, wegen überreichen Milchertrages, wochenlang im Zeichen der Milchsuppe standen. Alles streikte dann, Appetitlosigkeit vorschützend.

Aber das waren doch nur kurze Ausnahmezustände, für gewöhnlich wurden wir gut und zugleich sehr verständig verpflegt, was wir, mehr noch als meiner Mutter, unserer Wirthschaftsmamsell, einer Mamsell Schröder zuzuschreiben hatten. Von dieser muß ich, ehe ich weiter gehe, berichten. Als wir in Swinemünde eintrafen, war meine Mutter, wie [133] schon in einem früheren Kapitel erzählt, einer Nervenkur halber in Berlin zurückgeblieben und die Frage trat gleich nach unserer Ankunft an meinen Vater heran, wer inzwischen die Wirthschaft führen solle. Lokalzeitungen gab es nicht, also mußte mündlich herumgefragt werden und schon wenige Tage später traf ein von einem Boten überbrachter Brief aus der Pudagla’schen Oberförsterei bei uns ein, worin der Oberförster Schröder anfragte, ob sich seine Schwester uns vorstellen dürfe, sie habe die Wirtschaft in seinem Hause gelernt. Mein Vater antwortete sofort zustimmend und war zwei Tage lang glücklich in der Vorstellung, eine Oberförster-Schwester, noch dazu aus Pudagla, als Wirthschafterin in sein Haus nehmen zu können. Das gab Relief; er fühlte sich wie geehrt. Und am dritten Tage fuhr die Schröder denn auch bei uns vor und wurde seitens meines Vaters empfangen. Er versicherte später, Contenance bewahrt zu haben, doch bin ich dessen nicht ganz sicher, trotzdem ihm sein gutes Herz und seine Politesse den Sieg über sich erleichtert haben mögen. Die gute Schröder war nämlich ein Pendant zu der ungefähr um dieselbe Zeit in Berlin auftauchenden „Prinzessin mit dem Totenkopf“. Was bei dieser letzteren (die dann durch Dieffenbach, in einer berühmt gewordenen Cur, mittelst „plastischer [134] Chirurgie“, wieder hergestellt wurde) das Unheil verschuldet hatte, weiß ich nicht, bei der Schröder aber waren es die Blattern. Indessen was heißt Blattern! Jeder hat einmal von den Blattern heimgesuchte Personen gesehen und dabei den Ausdruck „der Teufel habe Erbsen auf ihrem Gesicht gedroschen“ mehr oder weniger bezeichnend gefunden. Jedenfalls ist der Ausdruck sprüchwörtlich geworden. Hier aber wäre diese sprüchwörtliche Wendung eitel Beschönigung gewesen, denn bei der guten Schröder gab es nicht erbsengroße Kuten, sondern halbhandbreite Narbenflächen. Ein Anblick, wie ich ihn nie wieder gehabt habe. Trotzdem, wie schon in Vorstehendem gesagt, kam es zu einem Engagement und niemals ist ein glücklicheres abgeschlossen worden. Die Schröder war ein Schatz und als sechs Wochen später meine Mutter eintraf, sagte sie: „Das hast Du gut gemacht, Louis; so entstellt sie ist, ihre Augen sind ihr geblieben und sagen einem, daß sie treu und zuverlässig ist. Und vor Liebschaften ist sie sicher und wir mit ihr. An der werden wir nur Freude haben.“ Und so kam es auch. So lange wir in Swinemünde blieben, so lange blieb auch die Schröder in unserem Hause, von Alt und Jung geliebt und verehrt, nicht zum Wenigsten von meinem Vater, der ihr besonders [135] ihren Gerechtigkeitssinn und ihren Freimuth hoch anrechnete, trotzdem er unter beiden Eigenschaften gelegentlich ernstlich zu leiden hatte. Sie war nämlich in einer beständigen Kriegführung gegen ihn, einmal aus Liebe zu meiner Mutter (deren beredten Anwalt sie machte, trotzdem diese, nach dem Satze: „die beste Deckung ist der Hieb“ sich sehr gut selber zu vertheidigen wußte) dann aber auch als Verwalterin der ihr mit vollster Machtvollkommenheit anvertrauten Speisekammer, gegen die mein Vater beständig Raubzüge unternahm, nicht blos für seine Person – das wäre noch gegangen, wiewohl er im Stande war einen halben Kalbsbraten ohne Weiteres wegzufrühstücken – sondern Raubzüge auch zu Gunsten seiner Lieblinge: Hühner, Hunde, Katzen, von welch letzteren wir zwei hatten, Peter und Petrine. Peter, auch Peter der Große genannt, ein Kerl wie ein junger Jaguar, war sein besonderer Liebling und wenn ihm das schöne Thier schnurrend in die Speisekammer gefolgt war (und er folgte immer) so nahmen die Leckerbissen für ihn kein Ende. Das Beste war gerade gut genug. Ueber diese gottlose Wirthschaft raste dann die treue Seele, die Schröder, die manchmal die ganze Mittagsbroddisposition in Frage gestellt sah. – Ja, sie war ein Schatz im Hause, noch mehr aber ein Segen [136] für uns Kinder, ganz besonders für mich. Unsere Erziehung seitens der Eltern ging sprungweise vor, war da und dann wieder nicht da, von Continuität keine Rede. Für diese Continuität sorgte aber die Schröder. Sie hatte keine Lieblinge, ließ sich kein x für ein u machen und verstand es, jeden an der rechten Stelle zu fassen. Was mich anging, so wußte sie, daß ich gut geartet aber empfindlich, eitel und von einer gewissen Großmannssucht beherrscht war. Das Alles wollte sie niederhalten und so hörte ich denn zahllose Male: „Ja, Du denkst Wunder, wer Du bist, aber Du bist ein kindischer Junge, gerade so wie die anderen und mitunter noch ein bischen schlimmer. Willst immer den jungen Herrn spielen, aber junge Herren lecken keinen Honig vom Teller und streiten es wenigstens nicht ab, wenn sie’s gethan haben und lügen überhaupt nicht. Neulich hast Du was von Ehre geschnackt, nun, ich sage Dir, Ehre sieht anders aus.“ Sie hielt auf Wahrheit, behandelte Großsprechereien mit feinem Spott und war sparsam in ihrem Lob. Aber wenn sie lobte, das wirkte. Sie hat mir viel gute Dienste geleistet und erst spät im Leben, als ich schon über 50 war, bin ich noch einmal einer alten Dame begegnet, die gleich erziehlich auf mich eingewirkt hat. Denn man hört nie auf erziehungsbedürftig zu sein; ich [137] gehe noch jetzt in die Schule und lerne von Leuten, die meine Enkel sein könnten.

So viel über die gute Schröder und nachdem ich ihrer in diesem Exkurse gedacht habe, frage ich noch einmal: „ja, wie lebten wir?“ Ich gedenke es in einer Reihe von Bildern zu zeigen und um Ordnung und Ueberblick in die Sache zu bringen, wird es gut sein, das Leben, wie wir es führten, in zwei Hälften zu theilen, in ein Sommer- und in ein Winterleben.

Da war nun also zunächst das Sommerleben. Um Mitte Juni hatten wir regelmäßig das Haus voll Besuch, denn meine Mutter hielt noch, nach alter Sitte, zu Verwandten, was wir Kinder nur sehr unvollkommen von ihr geerbt haben. Aber wohlverstanden, sie hielt zu Verwandten, nicht um Vortheile von ihnen zu haben, sondern um Vortheile zu gewähren. Sie war unglaublich generös und es gab Zeiten, wo wir, schon erwachsen, uns die Frage vorlegten, welche Passion eigentlich bedrohlicher für uns sei, die Spielpassion des Vaters oder die Schenk- und Gebepassion der Mutter. Schließlich wußten wir aber Bescheid in dieser Frage. Was der Vater that, war das reine weggeworfene Geld, was die Mutter zu viel ausgab, war immer selbstsuchtslos ausgegeben und barg [138] einen stillen Segen in sich. Ein gewisses Verlangen (so gut sich’s thun ließ,) ein ganz klein wenig von einer grande Dame zu sein, lief wohl mit unter, aber einen Beisatz von menschlicher Schwäche hat schließlich all unser Thun. Später, wenn wir mit ihr über diese Dinge sprachen, sagte sie: „Gewiß, ich hätte Manches auch unterlassen können, es ging weit über unsern Etat; aber ich sagte mir: was da ist, wird doch ausgegeben und da ist es besser, es läuft meinen Weg als den andern.“

Diese Sommermonate, von Mitte Juni an, waren durch die Fülle von Besuch oft reizend, meist junge Frauen aus der Berliner Verwandtschaft, plauderhaft und heiter. Das Haus war dann, auf Wochen hin, total verändert und Scherz und Schalkhaftigkeit, die sich bis zur Ausgelassenheit steigerten, herrschten vor. Die Streitaxt war begraben und die glänzendste Nummer in dem sich nun entspinnenden Wettstreite guter Laune, war immer mein Vater selbst. Er war, wie oft schöne Männer, das absolute Gegentheil von einem Don Juan, auch stolz auf seine Tugend, aber so undonjuanmäßig er war, so gascognisch entzückend war er, wenn es sich um übermüthige, gelegentlich die verwegensten Themata streifende Wortkämpfe mit den jungen Frauen handelte, von welchen letztren er [139] nur forderte, daß sie hübsch seien, sonst verlohnte sich’s ihm nicht. Ich habe diese Neigung, in scherzhaftem Tone mit Damen in diffizile Debatten einzutreten, von ihm geerbt, ja, diese Neigung sogar in meine Schreibweise mit herübergenommen und wenn ich entsprechende Scenen in meinen Romanen und kleinen Erzählungen lese, so ist es mir mitunter, als hörte ich meinen Vater sprechen. Blos, daß ich sehr hinter ihm zurück bleibe, was mir, als er schon über 70 und ich, dem entsprechend auch schon leidlich bei Jahren war, von Leuten, die ihn noch in seiner guten Zeit gekannt hatten, oft gesagt worden ist. „Hören Sie,“ so hieß es dann wohl, „Sie sind ja so weit ganz gut, wenn Sie mal Ihren glücklichen Tag haben, aber gegen Ihren Vater können Sie nicht an.“ Und das traf auch sicherlich zu. Seine von Bonhommie getragenen und zugleich von phantastischen Advokatenkunststücken unterstützten Plaudereien, waren – auch wenn sie Geldsachen, wo doch sonst die Gemüthlichkeit aufhört, betrafen – geradezu unwiderstehlich und dabei von so nachwirkender Kraft, daß keines von uns Kindern je das geringste bittere Gefühl über seine höchst merkwürdigen Finanzoperationen unterhalten hat. Nur meine Mutter war zu sehr anders geartet, um durch seine gesellschaftlichen Liebenswürdigkeiten umgestimmt oder erobert [140] werden zu können; ihr war die Sache gerade dann am widerstrebendsten, wenn sie in’s Leichte und Heitere gezogen werden sollte. „Was ernst ist, ist eben nicht heiter.“ Uebrigens bestritt sie ihm nicht, daß er, als glücklicher Humorist, es immer verstanden habe, die Leute auf seine Seite zu ziehen, setzte dann aber hinzu „leider.“

Und nun zurück zu dem Sommerbesuch in unserm Hause. Das junge Weibervolk immer zu vergnügen, war mitunter etwas schwer und es hätte sich vielleicht als unmöglich erwiesen, wenn nicht die Pferde gewesen wären. An fast jedem schönen Nachmittage fuhr der Wagen vor und diese mit ihrem Besuch uns zeitweilig fast erdrückenden Badesaisontage mögen wohl die einzigen gewesen sein, wo sich meine Mutter, ohne übrigens ihre Grundanschauung deshalb aufzugeben, vorübergehend mit der Existenz von Pferd und Wagen aussöhnte. Wer Swinemünde kennt, und es kennen es viele, weiß, daß man, bei Nachmittagspartieen, wegen hübscher Zielpunkte nicht in Verlegenheit kommt und auch schon damals war es so wie heute. Da ging es, am Strand hin, bis Heringsdorf oder nach der andern Seite hin, bis an die Moolen, am beliebtesten aber, schon um Schutz gegen die Sonne zu haben, waren die Fahrten landeinwärts, entweder durch dichten Buchenwald [141] auf Corswant zu oder noch lieber nach dem in Nähe des Haffs und des „Golms“ gelegenen Dorfe Camminke. Da war eine vielbesuchte Kegelbahn, auf der dann auch die Damen mitspielten. Ich meinerseits aber stellte mich gern neben die splittrige Lattenrinne, drauf der Kegeljunge die Kugeln wieder zurücklaufen ließ, welchen Stand ich übrigens nur wählte, weil ich kurze Zeit vorher gehört hatte, daß ein Mitspielender, auf eben dieser Kegelbahn, beim Abfangen der heranrollenden Kugel sich einen langen Lattensplitter unter den Nagel des Zeigefingers eingestoßen habe. Das hatte solchen Eindruck auf mich gemacht, daß ich immer schaudernd auf eine Wiederholung wartete, die aber zum Glück ausblieb. War ich dann endlich müde vom Warten, so trat ich durch eine schiefhängende, immer knarrende Gitterthür in ein Stück Gartenland ein, das dicht neben der Kegelbahn hinlief und zwar parallel mit ihr. Es war ein richtiger Bauerngarten, Balsaminen und Reseda blühten drin und an einer Stelle standen die Malven so hoch, daß sie eine Gasse bildeten. Sank dann die Sonne drüben am Walde, so schwamm der nach Westen liegende Golm in einem rothen Licht und die metallne Kugel auf seiner hohen Säule, sah, als wäre sie golden, auf das Dorf und den Kegelgarten hernieder. Myriaden von Mücken [142] standen in der Luft und die Hummeln flogen zwischen den Buchsbaumbeeten hin und her.

Mit Beginn des August verließ uns gewöhnlich unser Besuch wieder und kam dann der September heran, so schieden auch aus der Stadt selbst die letzten Badegäste. Wollte wer länger bleiben, so war das unbequem für die Wirthe, wobei folgende Scene vorkam. Einer (natürlich ein Berliner) als er sich eben wieder von der Abfahrtsstelle des Dampfschiffs, wohin er ein paar abziehende Freunde begleitet, in seine Miethswohnung zurückbegeben hatte, setzte sich, die Hände reibend, behaglich zu seinen Wirthsleuten und sagte: „Na, Hoppensack, nu sind ja die Berliner alle weg oder doch beinahe alle; nu soll’s losgehen, nu wird’s gemüthlich.“ Er erwartete natürlich vollste Zustimmung. Statt dessen aber sah er nur lange Gesichter. Endlich nahm er sich ein Herz und fragte, warum sie so flau seien? „Gott, Herr Schünemann,“ sagte Hoppensack „ein Registrater und seine Frau kamen ja schon Ende Mai und nu is es beinah Mitte September. Man will doch auch mal wieder alleine sein.“ Die Frau nickte zustimmend. Da hatte denn Schünemann keine Wahl mehr und mußte den andern Tag auch aufbrechen.

Waren dann die letzten Badegäste fort, so ließen die Aequinoktialstürme nicht lange mehr auf sich [143] warten und setzten sich, wenn es ein schlimmes Jahr war, bis in den November hinein fort. Erst fielen die Kastanien, dann prasselten die Ziegel vom Dach und aus den Dachrinnen, die immer so angebracht waren, daß sie gerade dicht neben den Schlafstubenfenstern mündeten, stürzte der Regen platschend in den Garten. Dann wieder jagten zerrissene Wolken am aufklarenden Himmel hin, die Luft wurde kalt, Alles fror, und den ganzen Tag über stand ein alter Holzhauer in der Remise, bei dem sich nun mein Vater einfand und die Axt in die Hand nehmend, eine halbe Stunde lang statt seiner das Holz spaltete.

Das gesellschaftliche Leben ruhte während dieser Spätherbsttage, man erholte sich von den Strapazen der Sommer-Saison und stärkte sich für die Wintergesellschaften. Aber ehe diese kamen, war noch ein mehrwöchentliches Interregnum durchzumachen, die Schlacht- und Backzeit, die letztere schon mit der Weihnachtszeit zusammenfallend.

Mit dem Gänseschlachten fing es an. Eine reguläre Wirthschaftsführung ohne Gänseschlachten konnte nicht wohl gedacht werden. Es handelte sich dabei um mancherlei, zunächst wohl um die Federn zur Herstellung immer neuer Fremdenbetten, vor allem aber auch um die geräucherten Gänsebrüste, [144] die fast so wichtig waren, wie die Schinken und Speckseiten im Rauchfang. Waren, kurz vor Martini, die Gänse zu diesem Zweck in genügender Zahl herangetrieben und auf dem Hofe, wo nun ein entsetzliches Schnattern uns eine Woche lang um unsere Nachtruhe brachte, zu letzter Auffütterung eingepfercht, so wurde auch schon der Tag zu Beginn der Festlichkeit festgesetzt. Meist Mitte November. Auf dem Hofe, hart an die Giebelwand des Hauses sich lehnend, befand sich, wie schon erzählt (und zwar sonderbarerweise mit einem Taubenschlage darüber) die Gesindestube, darin, außer der Köchin, noch zwei Hausmädchen schliefen. Immer vorausgesetzt, daß sie schliefen. Der Kutscher – an Stelle des alten Ehm war längst eine jugendlichere Kraft getreten – sah sich, der Hausordnung nach, zunächst freilich auf die Häckselkammer neben dem Pferdestall angewiesen, er verzichtete jedoch gern auf die Selbstständigkeit dieses ihm zuständigen Aufenthalts und zog es vor, den ohnehin engen Raum der Gesindestube durch seine Gegenwart noch enger zu machen. Alles nach dem Satze: „Raum ist in der kleinsten Hütte etc.“ War nun aber die Gänseschlachtzeit heran gekommen, so bedeutete das eine weitere, sehr erheblich gesteigerte Raumbeschränkung, denn am selbigen Abend, an dem das Massacriren beginnen sollte, stellte sich zu dem, [145] was für gewöhnlich die Gesindestube beherbergte, auch noch ein Aufgebot alter Weiber ein, vier oder fünf, die sonst als Wasch- oder auch wohl als Jätefrauen ihr Dasein fristeten. Und nun begann das Opferfest. Immer spät Abends. Durch die weit offenstehende Thür, geöffnet weil es sonst vor Stickluft nicht auszuhalten gewesen wäre, schienen die Sterne in den verqualmten und durch ein Talglicht kümmerlich erleuchteten Raum hinein. An dem Talglicht immer ein Dieb. Nächst der Thür aber, in einem Halbkreise, standen die fünf Schlachtpriesterinnen, jede mit einer Gans zwischen den Knien, und sangen, während sie mit einem spitzen Küchenmesser die Schädeldecke des armen Thieres durchbohrten (eine Prozedur, deren Nothwendigkeit mir nie klar geworden ist), allerlei Volkslieder, deren Text in einem merkwürdigen Gegensatz sowohl zu dem mörderischen Akt wie zu der Trauermelodie stand. So wenigstens mußte man annehmen, denn die Mädchen, die, den Gast aus der Häckselkammer zwischen sich, auf der Bettkante saßen, begleiteten die Volkslieder mit unendlichem Vergnügen, ja, die besonders traurig klingenden Stellen sogar mit Juchzern. Meine beiden Eltern waren sittenstreng und es war oft die Rede davon, ob diesem frechen Treiben nicht Einhalt zu thun sei; schließlich aber hatte man den [146] Kampf dagegen aufgegeben und mein Vater, dem es schwante, daß dergleichen schon im Altertume vorgekommen sei, sagte, nachdem er nachgeschlagen: „Es ist eine Wiederholung alter Zustände, römische Saturnalien, oder was dasselbe sagen will, momentane Herrschaft der Dienenden über die sogenannte Herrschaft.“ Und als er so den Hergang historisch rubrizirt hatte, gab er sich zufrieden, um so mehr als die Mädchen am andern Morgen ihn jedesmal durch einen ganz besonders sittigen Augenniederschlag erheiterten. Er stellte dann phantastisch ausschweifende Betrachtungen an, als ob Gil Blas seine Lieblingslektüre gewesen wäre. Das war aber nicht der Fall, er las vielmehr nur Walter Scott, was ich ihm heute noch danke, denn einige Bröckelchen fielen schon damals für mich ab. Quentin Durward zog er Allem vor, vielleicht weil es ein französischer Stoff war. Ich habe hier übrigens noch hinzuzufügen, daß die Schrecknisse dieser Gänseschlacht-Epoche mit der eigentlichen Schlachtnacht und den Trauermelodien keineswegs abgethan waren, sondern sich, durch mindestens eine halbe Woche hin, noch weiter fortsetzten. Diese Schlachtzeit war nämlich zugleich auch die Zeit, wo das aus Gänseblut zubereitete „Schwarzsauer“ tagtäglich auf unseren Tisch kam, ein Gericht, das, nach pommerscher Anschauung, [147] alles Andre aus dem Felde schlägt. Auch mein Vater hielt es für seine Pflicht, sich dieser landesthümlichen Anschauung anzuschließen und sagte, wenn die dampfende Riesenschüssel erschien: „Ah, das ist recht; davon eßt nur; das ist die schwarze Suppe der Spartaner; alles Saft und Kraft,“ er selber aber suchte sich, gerade so wie wir, das Backobst und die Mandelklöße heraus und überließ die Kraftbrühe der Gesindeschaft draußen und vor allem den Schlacht- und Klageweibern, die sich durch ihre Bohrversuche den gegründetsten Anspruch darauf erworben hatten.

Etwa 14 Tage später folgte dann das Schweineschlachten. Meine Stellung dazu war noch genau dieselbe, wie zu der Zeit, wo ich, kaum 7jährig, aus der Stadt hinaus auf Alt-Ruppin zu geflohen war, um sowohl dem Anblick, wie der ganzen Skala ohr- und herzzerreißender Töne zu entgehen; aber ich war doch inzwischen aus den Kinderjahren in die Jungensjahre hinein gewachsen, wo man wohl oder übel seine Ehre darin setzt, Alles mannhaft mit durchzumachen, auch wenn sich die eigenste Natur dagegen auflehnt. Daß die Aussicht auf „Reiswurst mit Rosinen“ bei Durchführung dieser Tapferkeitskomödie mitgewirkt hätte, kann ich nicht sagen, denn so sehr ich sonst für gute Bissen war, so war ich doch in den der Weihnachtszeit voraufgehenden [148] Wochen immer halb krank von dem unausgesetzt das Haus durchziehenden Fettwrasen. Jedenfalls konnte von gutem Appetit um eben diese Zeit (trotzdem sich’s da gerade verlohnt hätte) nie recht die Rede sein, besonders dann nicht, wenn, um Anfang Dezember, wie fast regelmäßig geschah, auch noch ein Hirsch von der Oberförsterei her eingeliefert war, der nun, – aufgebrochen wie man ein Rind aufbricht – an die Giebelwand des Gesindehauses gehängt wurde. Tag um Tag trat dann die Köchin an das schreckliche Giebelornament heran und schälte erst das Ziemer und dann die Vorder- und Hinterschlägel heraus, so daß wir immer aufathmeten, wenn es mit dieser Wildherrlichkeit wieder vorbei war.

Unter einem glücklicheren Stern stand die Backwoche, wo mit Pfeffer- und Zuckernüssen begonnen und mit Brezeln, Kranz- und Blechkuchen aufgehört wurde. Wir durften nicht nur mit in die Backstube hinein, darin es, überaus anheimelnd, nach bitteren Mandeln und geriebener Citrone roch, sondern erhielten auch, als Weihnachtsvorschmack, eigens für uns Kinder gebackene kleine Wecken, alles reichlich zugemessen. „Ich weiß,“ sagte meine Mutter, „daß sie sich den Magen daran verderben, aber das ist besser, wie wenn sie knapp gehalten werden. Sie sollen, all diese Zeit über, eine Festfreude haben [149] und die bringt ihnen ein Festkuchen am besten bei.“ Es hat was für sich, und bei ganz robusten Kindern mag es das unbedingt Richtige sein. Aber so robust waren wir doch nicht, daß es für uns so ohne Weiteres gepaßt hätte. Mir war denn auch, um Weihnachten herum, immer sehr weinerlich zumute.

Am Sylvester war Ressourcenball, auf den man mich, als den Aeltesten, mitnahm. Ich stellte mich dann, in schwankender Gemüthsverfassung in eine Saalecke und sah zu. Wenn dann die tanzenden Paare an mir vorüberschwirrten, war ich zunächst glücklich, daß ich, als eine Art Gast da stehen und mit dem Auge theilnehmen durfte und war doch auch wieder unglücklich, daß ich, statt mitzutanzen, eben nur das Zuschauen hatte. Die Nichtigkeit meines Ich legte sich mir schwer auf die Seele, doppelt schwer in dem gastrischen Zustand, in dem ich mich um diese Zeit regelmäßig befand und erst wenn um Mitternacht der in einen langen blauen Mantel gekleidete Nachtwächter in den Saal trat und nach voraufgegangenem Signal auf seinem Horn, ein fröhliches Neujahr wünschte, fiel mit einem Male jede Sentimentalität wieder von mir ab. Das Komisch-Groteske der Scene riß mich dann heraus und ich hatte wieder meinen Frieden.




Kapitelübersicht: Meine Kinderjahre

· 1 – Meine Eltern · · 2 – Gascogne und Cevennen - Französische Vettern - Unsere Ruppiner Tage · · 3 – Unsere Übersiedelung nach Swinemünde - Ankunft daselbst · · 4 – Unser Haus, wie wir's vorfanden · · 5 – Unser Haus, wie's wurde · · 6 – Die Stadt, ihre Bewohner und ihre Honoratioren · · 7 – Die Schönebergs und die Scherenbergs · · 8 – Die Krauses · · 9 – Wie wir in unserem Hause lebten - Sommer- und Herbsttage - Schlacht- und Backfest · · 10 – Wie wir in unserem Hause lebten (Fortsetzung) - »Große Gesellschaft« · · 11 – Was wir in Haus und Stadt erlebten · · 12 – Was wir in der Welt erlebten · · 13 – Wie wir in die Schule gingen und lernten · · 14 – Wie wir erzogen wurden - Wie wir spielten in Haus und Hof · · 15 – Wie wir draußen spielten, an Strom und Strand · · 16 – Vierzig Jahre später ·  17 – Allerlei Gewölk · · 18 – Das letzte Halbjahr ·

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