Meine Kinderjahre
Als Theodor Fontane 1892 lebensbedrohlich erkrankt, schreibt er auf Anraten seines Hausarztes, quasi als Therapie und Ablenkung von der Krankheit, seine Kindheitserinnerungen auf. Er schildert das Elternhaus, die frühe Kindheit und die fünf Jahre an der Ostsee in Swinemünde bis zu seinem zwölften Lebensjahr (1827–1832). Entstanden ist eines der schönsten Erinnerungsbücher der deutschen Literatur. Ein lebhaftes und bewegtes Kleinstadtbild wird gezeigt: Schlacht- und Backfest, große Gesellschaften und der Silvesterball, eine Landpartie und der Gang übers Eis. Als dunklen Hintergrund seiner Kindheit beschreibt er die Gegensätzlichkeit seiner Eltern und die Spielleidenschaft des Vaters, den er dennoch liebt.
Als mir es feststand, mein Leben zu beschreiben, stand es mir auch fest, daß ich bei meiner Vorliebe für Anekdotisches und mehr noch für eine viel Raum in Anspruch nehmende Kleinmalerei mich auf einen bestimmten Abschnitt meines Lebens zu beschränken haben würde. Denn mit mehr als einem Bande herauszutreten, wollte mir nicht rätlich erscheinen. Und so blieb denn nur noch die Frage, welchen Abschnitt ich zu bevorzugen hätte.
Nach kurzem Schwanken entschied ich mich, meine Kinderjahre zu beschreiben, also „to begin with the beginning“. Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre „stecke der ganze Mensch“. Ich habe diesen Satz bestätigt [VI] gefunden und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingültigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten. Entgegengesetzten Falls verbliebe mir immer noch die Hoffnung, in diesen meinen Aufzeichnungen wenigstens etwas Zeitbildliches gegeben zu haben: das Bild einer kleinen Ostseestadt aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts und in ihr die Schilderung einer noch ganz von Refugié-Traditionen erfüllten Französischen-Colonie-Familie, deren Träger und Repräsentanten meine beiden Eltern waren. Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich trotzdem, vorsichtigerweise, meinem Buche den Nebentitel eines „autobiographischen Romanes“ gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, daß ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpellirt werden möchte. Für etwaige Zweifler also sei es Roman!