Meine Jugenderinnerungen an Ferdinand Lassalle
In Nr. 4 der Gartenlaube des laufenden Jahrganges befindet sich ein, wie ich zugestehen will, parteilos geschriebener Artikel mit der Ueberschrift „Aus dem Leben eines Agitators“, welcher trotz dieser Parteilosigkeit über manches Ereigniß anders reflectirt, als der historisch durchlebte Sachverhalt in meinem Gedächtniß lebt. Derselbe bespricht zunächst eine unter dem Titel „Biographisches Charakterbild“ erschienene Lebensbeschreibung Lassalle’s von Georg Brandes, ein Buch, welches mir bis nun nicht zur Hand gekommen ist, jenen kritischen Notizen nach zu urtheilen aber Wahrheit und Dichtung enthalten muß. Dieser Wahrnehmung verdanken gegenwärtige Zeilen ihre Entstehung.
Beinahe vier Decennien sind verflossen, seitdem ich mit jenem vielbesprochenen Manne, dem auch der obstinateste Gegner Genie und Originalität zuerkennen muß, in ununterbrochenem Tages- ja stündlichem Verkehr stand, und zwar unter so intimen Umgangsformen, wie sie nur der Jugend eigen sind. Ich war nach gut christlich-evangelischem Brauche confirmirt worden und hatte mit diesem äußerlichen Abschlusse der Kinderjahre dem Elementarunterricht der Schule entsagt. Meiner inneren Neigung, einen artistischen Lebensberuf zu erwählen, glaubte ich in jugendlich schüchterner Verzagtheit, Familienrücksichten halber, nicht nachhängen zu dürfen; ich war in Betreff eines zu wählenden Berufes noch unschlüssig. Eines Tages eröffnete mir mein Vater, ein schlichter Mann von altdeutschem Schrot und Korn, zu meiner Ueberraschung, daß er mich versuchsweise die in ihrer Art damals beinahe einzige, äußerst gut berufene Handelslehranstalt in meiner Vaterstadt Leipzig besuchen lassen werde und hieß mich zu dem Zwecke ihn begleiten. Wir machten uns auf den Weg, und meine stille Neugierde wuchs, als wir uns nicht in der Richtung zur Esplanade begaben, dem stillen Platze, wo jenes kaufmännische Pädagogium liegt, sondern einen entgegengesetzten Weg nach der jedem Einheimischen wohl bekannten Straße „dem Brühl“ einschlugen. Dort, inmitten jener Seite, auf welcher Katharinen- und Hainstraße münden, mußte ich vor einem unscheinbaren Parterreverkaufsladen stehen bleiben, während mein Vater in denselben trat. Ich blickte nach der oberhalb des Portals befestigten Firmentafel, welche in bescheidenen Lettern die Aufschrift: „Lassal aus Breslau“ auswies. So schrieb sich Ferdinand Lassalle zu jener Zeit, als wir mit einander, kaum den Knabenschuhen entwachsen, bekannt wurden und Freundschaft schlossen; denn die Französirung seines Namens datirt erst aus der späteren Periode, aus der Mitte der vierziger Jahre, wo er zuerst in Paris war.
Hier befand ich mich im Centrum einer jener bewegten Marktscenen, wie sie jede Jubilatenmesse Leipzigs zu jener Zeit im Gefolge hatte. Die zahllos um mich drängenden polnischen Juden mit wallenden Ringellocken und rauschenden Seidekaftanen gewährten mir, wenn auch gerade kein neues, so doch immerhin ein interessantes Bild. Ich war noch mit dem Studium marktschreierisch übereinander prangender Aushängeschilder beschäftigt, als ein junger Mensch von ungefähr meinem Alter mit lebhafter Geste und der Einladung herangesprungen kam, ich möchte in den Kaufladen eintreten. Mein Vater stellte mich darauf beiden Herren Lassals von Breslau, dem Papa und dem Sohne, vor. Wir befanden uns in dem halbdunkeln engen Raume eines kleinen Meßlocales; ein keineswegs umfangreiches Seidenwaarenlager, eben in der Auspackung begriffen, imponirte mir durch die Farbenpracht einzelner Stücke. Jetzt erst erfuhr ich den Zweck unseres Besuches. Unsere beiden Väter, welche aus geschäftlicher Verbindung sich schon von früher her kannten, hatten den gemeinsamen Plan gefaßt, uns, ihre Söhne, dem durch Schiebe’s Leitung renommirten Institute für höhere kaufmännische Bildung anzuvertrauen; der Plan, den jungen Lassal für die Studienzeit zu meiner Familie in Pension und Verpflegung zu geben, fand keine Verwirklichung. Offen gestanden fürchteten meine Eltern, den ungemein lebhaften Jüngling im Kreise der Familie aufzunehmen. – Aber man war doch in der Hauptsache einig geworden, und wir Vier, unsere Väter im eifrigen Gespräche voran, zogen durch die Stadt nach der Handelsschule hinaus, um uns dort als hoffnungsvolle Kaufmanns-Sprößlinge in den höheren Cursus einschreiben zu lassen.
Mir kam die Bekanntschaft mit dem jungen Fremden ganz unerwartet, aber ich gestehe, daß ich mich vom ersten Augenblicke unseres Beisammenseins an lebhaft zu ihm hingezogen fühlte, da der künftige Schulgenosse mir durch die nicht ruhende, stetig witzsprühende Zunge eine mir bis dahin unbekannte Unterhaltung bot. Mein neu gewonnener Freund „Ferdinand“, den ich auf diesem ersten gemeinschaftliche Wege einer genaueren Musterung unterzog, war nach der äußeren Erscheinung seinem Vater auf ein Haar ähnlich. Beide fielen zunächst durch originell kurz-krause Hauptlocken auf. Der Sohn konnte für einen in der kräftigsten Körperentwickelung begriffenen ungewöhnlich schönen Jüngling gelten, dessen antik geformtes griechisches Profil in den ersten Momenten der Betrachtung kaum die semitische Abstammung verrieth. Im lauten Zwiegespräch bestand eine der ersten Sorgen darin, festzustellen, wer von uns Beiden der ältere sei. Ferdinand zeigte mir sein Matrikelzeugniß, welches von Breslau aus dem Jahre 1823 datirte, während mein Taufschein vom darauf folgenden Jahrgang lautete. Noch sehe ich seinen triumphirenden Blick in dem Siegesbewußtsein mir gegenüber, als der Aeltere sechszehn volle Sommer zu zählen, während er mir für mindestes achtzehn derselben bereits geistig und physisch ausgebildet erschien. Schneller als ich vermuthete, war die Ceremonie unserer Eintragung in das Schülerregister der Leipziger Handelsschule vollzogen; unsere Väter erlegten die üblichen Aufnahme-Taxen, und ich fand bei dieser ersten Entlassung aus der neuen, wenig gemüthlichen Schulstube das Gesicht des bis dahin griesgrämig dreinschauenden Directors aufgeheitert und uns neu geworbene Zöglinge anlächelnd. [689] Als Localkundigen blieb es meinem Vater vorbehalten, für das häusliche Unterkommen des jungen Schlesiers zu sorgen. Bald war ein solches aufgefunden, und als der Breslauer Geschäftsfreund sich zur Rückreise nach der Heimath rüstete, bezog mein zukünftiger Schulcollege ein freundlich gelegenes, aber bescheiden schmales Stübchen im dritten Stockwerk eines im damaligen Bose’schen Garten befindlichen Hintergebäudes. Hier, beim Schuldirector H., einem in der Stadt bekannten Pädagogen, sollte ihm Familienverpflegung zu Theil werden.
Da Lassal während der kurzen Zeit seiner Anwesenheit in Leipzig außer einigen flüchtigen Theaterbekanntschaften nur bei meiner Familie Zutritt hatte, so blieb er auf meinen gesellschaftlichen Umgang angewiesen. Ich selbst aber fühlte mich durch sein übermüthig sprudelndes und geistig ungemein anregendes Wesen so zu ihm hingezogen, daß ich ihm meine freie Zeit ungeschmälert und gern widmete. Mein Freund beschäftigte sich, auch wenn ich zugegen war, stark mit Lectüre des Alterthums und las dann stundenlang und mit Pathos vor. Bald staunte ich, wie er, einem docirenden Lehrer gleich, die Classiker Griechenlands und Roms kannte, auch seine linguistischen Fertigkeiten in todten und modernen Sprachen fand ich Gelegenheit zu bewundern. Schon während der ersten Tage in seinem neuen Heim, als die kleine Handbibliothek aufgestellt war, machte er mich vertraulich mit seinem Lieblingspoeten, Heinrich Heine, bekannt, dessen Schriften ich bis dahin nur dem Namen nach kannte. Beim Dämmerscheine der primitiven Oellampe declamirte er mit dem Vollaufgebote jugendlicher Leidenschaft die hervorragendsten Gedichte aus dem „Buch der Lieder“, und ich gestehe, daß er mit diesen wahrscheinlich ersten rhetorischen Versuchen einen nachhaltig gewaltigen Eindruck auf mich, den in beschränkt kleinbürgerlicher Anschauung Heranwachsenden, ausübte.
Schon in diesen ersten Tagen des Zusammenseins mit Lassal nahm ich an ihm eine zügellose Neigung zur Poesie wahr, und wenn ich später beim Eintritt in sein Zimmer ihn nicht beim Studium Heine’scher oder altclassischer Schriften fand, dann traf ich ihn sicherlich der Dichtkunst die eigenen Tribute in gehobener Stimmung darbringend an.
Es ist meine feste Ueberzeugung, daß von dem Moment ab, da der junge Lassal das väterliche Haus verließ, ein ungeheurer Gährungsproceß in diesem gewaltig angelegten Geiste vor sich ging; war ich doch an der Periode eines zweieinhalbjährigen Umgangs Zeuge jener inneren Kämpfe, welche ihn zeitweilig an seiner Zukunft gänzlich verzweifeln ließen. Wir hatten Beide Ursache, über die Anfänge eines verfehlten Lebensberufes zu klagen, aber meines Freundes Individualität war dazu angelegt, jedes sich ihm entgegenstellende Hinderniß durch gewaltthätige Opposition über kurz oder lang zu beseitigen.
Das Trachten Lassal’s, schon von Jugend auf sich volle Unabhängigkeit zu schaffen, entsprang zunächst wohl dem Bewußtsein, dereinst Erbe eines beträchtlichen Vermögens zu werden, welches er mit nur einer Schwester zu theilen hatte. Kindliche Pietät wurde für ihn Ursache, die Leipziger Schule zu besuchen – ein Joch, dem sich sein nach selbstständigem Schaffen mächtig ringender Geist voraussichtlich auf die Dauer nicht zu beugen vermochte. Sehr bald nach der Abreise des Vaters brach denn auch die Sturm- und Drangperiode bei ihm hervor. Der Gedanke, Kaufmann, das heißt: Seidenhändler werden zu müssen, regte ihn bis zur Raserei auf; unzählige Male mußte ich Ausdrücke verletzter Eitelkeit und die Versicherung von ihm entgegennehmen, daß er fühle, zu etwas Besserem geboren zu sein. In solchen Momenten betheuerte er mir dann seine Mission – wie sie ihm damals vorschwebte – dem deutschen Volke ein echter, aber demokratischer Dichter zu werden. Sein höchster Wunsch war, an der Seite Heine’s im Paris leben und schaffen zu können. Unstreitig sind es eben die Jahre von bis 1839 bis 1841, in welch’ letzterem er die Leipziger Handelsschule mit der Breslauer und Berliner Universität vertauschte, wo der Anfang des Klärungsprocesses des vermeintlichen Dichters in spe zum künftigen Agitator sich vollzog.
Unser gemeinsamer Lehrer der deutschen Sprache hatte als eines der zu bearbeitenden Themata die Lösung der Aufgabe gestellt: „Wer ist unser Freund?“ Nachdem wir die Frage niedergeschrieben hatten, meldete sich Lassal zum Worte und ersuchte, sichtbar aufgeregt, um die Erlaubniß, commentirend zum erhaltenen Pensum sprechen zu dürfen. Mit wahrhaft zündenden Worten entspann sich nun eine Disputation, wie sie zwischen Lehrer und Schüler wohl nie zuvor stattgefunden haben dürfte, indem Ferdinand mit einer die Classe hinreißenden Beredsamkeit den Nachweis führte, daß eine solche Frage im Wege des Denkens überhaupt nicht zu lösen, vielmehr lediglich eine Gefühlssache sei. „Jeder Versuch,“ rief er, zu mir gewendet, „den Begriff Freundschaft logisch zu lösen, ist ein Unsinn, und ein solches Verlangen, ernstlich gestellt, kann nur dem Gehirne eines Schwachkopfes oder dem eines froschkalten Methodikers entspringen, welcher des Gefühles der Freundschaft unfähig ist.“ Gleichzeitig erklärte er diese Aufgabe nicht lösen zu können, es sei denn, daß er Schiller’s Ballade „Die Bürgschaft“ in Abschrift bringe. Alle Mitschüler sahen einander verdutzt an. Der beleidigte Lehrer, in der richtigen Erkenntniß, daß ihm diesem Eleven gegenüber die eigene Autorität keine Satisfaction schaffen werde, erhob bei höherer Instanz Klage, und der Attentäter mußte vor dem Director erscheinen. Dort wurde ihm der gemessene Befehl, die angefochtene Aufgabe zu lösen. Ein glühend poetischer Erguß, der in meiner Gegenwart entstand und mit den Worten begann:
„Nicht wägen mit der Wage in der Hand
Läßt sich der Freundschaft golden hehres Band –“
war die Form, in welcher mein Freund sein Opus zur Censur abgehen ließ und von dort zerrissen zurück empfing. Director Schiebe, ein abgesagter Feind von jeder dem commerciellen Wissen fernliegenden Schöngeisterei, nahm die schriftlich fortgesetzte Herausforderung seines widersetzlichen Schülers ungnädig auf, doch wurde die Differenz durch besonnenes Dazwischentreten Dritter endlich beigelegt.
Aehnliche Streitscenen wiederholten sich für die Folge öfter; sie dienten dazu, daß der Breslauer Brausekopf in Händel verwickelt wurde, zu deren Beilegung er sich dann meiner, des Ruhigen, Vermittelung bediente. Ein Doppelgänger Lassal’s, ein Landsberger von jüdisch-polnischer Abstammung, der sich in unserer Classe befand und ihm äußerlich, doch nur carrikirt ähnelte, litt unter den raffinirten Launen meines Freundes ganz besonders viel. Zudem hatte jenen der Zufall auf dieselbe Bank wie Lassal, ja unmittelbar an dessen Seite gebracht. –
Bei der leichten Erregbarkeit der Jugend war es unvermeidlich, daß wir zeitweilig Gegner wurden, und ich mußte energisch gegen meines Freundes Herrschsuchtsgelüste ankämpfen. Und gerade in Folge dieser Schwäche bot er mir Gelegenheit, mich über ihn als demokratischen Poeten lustig zu machen, insbesondere dann, wenn er über die Summe des Charakters und der Bildung des deutschen Volkes wegwerfend und mit einer Exclusivität urtheilte, die man sonst nur unter hoher Aristokratie zu finden gewöhnt ist. Mein Freund Ferdinand hielt schon damals an der humanistisch bedenklichen Idee fest, daß die große Masse der Bevölkerung für die Erziehung zu höherer Cultur unfähig sei.
In dem ersten Jahr verging kein Tag, daß nicht außerhalb der Schule ein Austausch unserer Meinungen oder ein Gespräch über zum Theil hochfahrende Pläne stattgefunden hätte. Er begann einige Werke französischer Nationalökonomen zu studiren, welche die Bibliothek unserer Lehranstalt zufällig enthielt, und ich bemerkte bald an ihm die Wirkung dieser im Geheimen fortgesetzten Lectüre. Speciell wandte er jenen volkswirthschaftlichen Capiteln verschärfte Aufmerksamkeit zu, welche die Bestrebungen der St. Simonisten behandelten, aber ich glaubte damals, bei der Vielseitigkeit seiner Lernbegierde, seinen begeisterten Betrachtungen keine Bedeutung beilegen zu sollen. Erst später fiel mir ein, daß diese Studien zu einer Zeit stattfanden, da Lassal schon den Entschluß in sich trug, die Handelsschule und Leipzig vor Vollendung des dreijährigen Cursus zu verlassen. Mein Freund stellte, von der geistreichen Behandlung des Stoffes durch den fremden Autor angeregt, die praktische Möglichkeit einer Arbeiterfrage auf, ein sociales Thema, welches in Frankreich schon seit der Revolution den Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gebildet hatte. Er[WS 1] warf mir seine eigensten Ideen im genialen Umrissen hin; ich erinnere mich sehr genau, daß sie zum Theil in strictem Widerspruch mit den Doctrinen standen, welche er als die „einzig richtigen“ ein Decennium später öffentlich verkündete. Auf solchen der französischen Revolution entsprungenen Anschauungen entwickelte Lassal schon [690] damals einen für sich bestehenden originellen Gedankengang. Es war dies bei Gelegenheit der in Industriedistricten zuckenden Arbeiterbewegungen, und ich vernahm aus seinem Munde das Work „Staatshülfe“, sowie Anklänge an jene Tendenzen, welche er in seinen späteren social-politischen Streitschriften und in dem Werke „System der erworbenen Rechte“ niederlegte.
Damals hatte noch nichts an ihm Bestand; die socialistischen Studien wurden mit manchem Anderen zurückgelegt und theilten für die nächste Folge das Schicksal kaufmännischer Schulübungen, denen er überhaupt nur so viel oblag, wie die Disciplin der Anstalt es erforderte.
Zwei Jahre äußerer Kämpfe und inneren Ringens in Leipzig genügten, um Lassal’s geistiges Naturell wesentlich zu ändern. Seine in dieser Periode an die Eltern gerichteten Briefe, deren Inhalt ich zum Theil kernen lernte, ließen den gefaßten Entschluß endlich gereift erscheinen, das dritte und letzte Jahr des kaufmännischen Cursus nicht zu absolviren, sondern im Laufe des Sommers 1841 nach der Vaterstadt zurückzukehren, um sich dort für den Besuch einer preußischen Universität vorzubereiten. Der Bruch mit dem kaufmännischen Beruf war jetzt im Princip beschlossen, theoretisch bereits früher vollzogen, und die Eltern konnten das consequente Begehren des Sohnes nicht länger verneinen. Insbesondere wurde diese geplante Veränderung zum Gesprächsthema, wenn der Vater während der Messen nach Leipzig kam, wo ich öfter Zeuge stürmischer Scenen war, wenn der alte Lassal dem Drängen des Sohnes kein Gehör schenken wollte. Die Festigkeit aber, mit welcher Ferdinand seinen Plan verfolgte, die Studien an der Leipziger Handelslehranstalt um keinen Preis zu vollenden, und die ungenügenden Zeugnisse, die er für sittliches Verhalten von dort erhielt, gaben den Ausschlag. Während des Frühlings des vorgenannten Jahres entwarf er die Grundzüge zum künftigen Studienplan. Er war entschlossen, sich dem Felde der reinen Philosophie und Antike zu widmen.
Als er von Leipzig schied, war unser Abschied ein brüderlich herzlicher; wir gelobten mit jugendlich überschwenglichem Feuereifer, dieses Leben hindurch einander die Alten zu bleiben und Freud’ und Leid uns gegenseitig mitzutheilen. Alle trauten Plätzchen, auf denen wir in den Mußestunden übermüthig zusammen getobt oder im ernsten Gespräche verweilt hatten, wurden ein letztes Mal aufgesucht; vorzugsweise galten die Trennungsgänge jener lauschigen Tiefe im Bose’schen Garten, wo das alte Buchdruckertheater stand, sowie dem Schimmel’schen Teiche mit seiner Insel Buen-Retiro, Leipzigs Seeseite, auf welcher unsere Schifferlaufbahn manches gemeinsame Unglück zu verzeichnen hatte.
Lassal’s Uebertritt auf preußische Universitäten und die allmählich erlangte Mannesreife änderten sein genial angelegtes, aber fortgesetzt excentrisch-kampfbereites Wesen wenig. In der ersten Hälfte der vierziger Jahre besuchte er mich zeitweilig in Leipzig, und ich erwiderte 1844 die Besuche mit einem mehrwöchigen Aufenthalte in Berlin. Unter Anderem rühmte er damals gegen mich, die Aufmerksamkeit und Anerkennung Alexander von Humboldt’s sich erworben zu haben. Ich suchte ihn im Parterrezimmer einer mitten unter den Linden auslaufende Sackgasse auf und fand ihn tief in die Lectüre griechischer Classiker vergraben; irre ich nicht, so galten diese Studien seinem „Heraklit dem Dunkeln“. Unsere Freude des Wiedersehens außer Leipzigs Mauern war groß; er warf die um ihn aufgethürmten Bücher bei Seite und diente mir unverdrossen als Mentor, die Physiognomie des damaligen Berlin durch Tages- und Nachtstudien kennen zu lernen. Mir erschien mein Freund ungemein lebensfrisch angeregt und trotz der Dissonanzen im Schooße der Familie, hervorgerufen durch die Ueberschreitung seines Budgets, nicht in jener gedrückt reizbaren Stimmung, welche ich während seines Aufenthaltes in Leipzig oft an ihm wahrnahm. Sein schon früher gefaßter Plan, im kommenden Jahre, mit guten Empfehlungen versehen, nach Paris zu gehen, dort Heine’s Bekanntschaft zu machen und, wenn möglich, unter dessen Einfluß seine Carriere endgültig festzusetzen, hatte nun bestimmte Gestalt angenommen. Bekanntlich wurde dieses Project von ihm auch zur Ausführung gebracht.
Wenn die heutigen Biographen Lassal’s in Bezug auf seine Stellung als Agitator meinen, daß seine eminenten Fähigkeiten ihn zu viel Höherem – wahrscheinlich meint man dichterische Bethätigung – bestimmt hätten, so muß ich, wie ich den Jugendfreund aus intimsten Umgang kannte, dieser Ansicht auf das Allerentschiedenste widersprechen. Ferdinand Lassal war gewiß niemals eine von Haus aus poetisch begabte Natur; der Dichtkunst mit Erfolg zu dienen, versagte ihm die Muse sicherlich. Heinrich Heine und andere Träger bedeutender Namen, denen man ein richtiges Urtheil wohl zutrauen darf, hatten ihn auch bald des Rechten belehrt, und seine nie zu befriedigende Eitelkeit mußte ihn deshalb auf andere Hülfswege drängen, um durch praktische Verwerthung seiner glänzenden Naturanlagen in thunlicher Kürze zum Ziele „des berühmten Mannes“ zu gelangen.
Hätte er weniger nach der Aeußerlichkeit blendenden Ruhmes gedürstet, so würde Lassal im ungestörten Verfolg seiner Studien des Alterthums ohne Zweifel früher oder später der Ruf eines höchst respectabeln, classisch gebildeten Gelehrten errungen haben, zumal er schon durch elterliche Fürsorge dem Ringen um das leibliche Dasein vom Anfang am überhoben war. Aber die einfache Stellung eines deutschen Universitätsprofessors genügte seinem hochfahrenden Geiste und der nach äußerem gesellschaftlichem Glanze dürstenden Seele nicht. Noch als wir uns das letzte Mal in Bonn begegneten und Lassalle – die französische Metamorphose war damals bereits vollzogen worden – in den Rheinlanden schon bei verschiedenen markantem Veranlassungen sich einen Namen in der Oeffentlichkeit gemacht hatte, bekannte er mir unaufgefordert und freimüthig, daß sein Jugendtraum für Poesie verfehlt gewesen und sein Drama „Franz von Sickingen“ ein verunglücktes Machwerk sei.
Wenn aber weiter das Urtheil seiner Zeitgenossen oder Anhänger ihn gern zum modernen Volkshelden stempeln möchte, so pflichte ich dem, lediglich der Wahrheit zu Liebe, ebenso wenig bei; denn um eine solche Mission edler Uneigennützigkeit durchzuführen, müßte man weit selbstloser und weniger genußsüchtig sein, als es dieser merkwürdige Denker, Schriftsteller und populäre Volksredner wirklich gewesen ist.
Atheist und Epikuräer zugleich, verstand er es nie, sinnliche Begierden zu zügeln, und die Art, wie er schon früh den Umgang mit dem andern Geschlechte auffaßte, ist für seinen ganzen Charakter bezeichnend. Seine später bekannt geworbenen Ausschweifungen in Berlin und Paris sind mit Recht scharf gerügt worden. Jedenfalls kann ich bezeugen, daß er schon im Jünglingsalter mit dem vollen Raffinement eines ausgebildeten Lebemannes zu genießen verstand. Haupttendenz für ihn blieb, ohne Rücksicht auf öffentliche Meinung, der Gunst des Augenblicks und der momentanen Strömung seines Geschmackes gemäß zu leben, und wenn er bei gewagten Zerstreuungen die herkömmliche Ordnung der Dinge, ohne Prüfung der möglichen Folgen, über den Haufen warf, so blieb er der daraus resultirenden Verlegenheiten wegen doch unbesorgt. – Im letzten Drittel seines Lebens fand ich, zunächst in Folge meiner Abreise von der Heimath, keine persönlichen Berührungspunkte mit ihm mehr, aber ich habe Grund anzunehmen, daß auch in späteren Jahren sein Lebensprincip, zu genießen, dasselbe geblieben ist. Wenigstens muß sein beklagenswerthes Ende auf das Conto dieses va-banque-Spielens geschrieben werden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: En