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Malerische Wanderungen durch Kurland/Die Gouvernementsstadt Mitau

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Der Hof und Park in Heyden; Weg bis Mitau Malerische Wanderungen durch Kurland
von Ulrich von Schlippenbach
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[387]
Die Gouvernementsstadt Mitau.

Mitau zur Johanniszeit und Mitau außer derselben, gewährt zwey ganz verschiedene Gemälde. Ich würde die Stadt mit dem Nil vergleichen, der zu gewissen Zeiten seine Ufer verläßt, sie überschwemmt, und dadurch fruchtbar macht; oder, wenn das Bild nicht zu gewagt wäre, mit der Proserpina, die einen Theil des Jahres im Tartarus verlebte, [388] um den übrigen auf dem Olymp zu genießen. Zur Johanniszeit ist Mitau so interessant, als es nur eine große, volkreiche Residenz seyn kann, und außer derselben stille genug, um die genossenen Johannisfreuden in ruhigen Erinnerungen zu feyern. Ich muß dem Leser daher ein doppeltes Gemälde entwerfen, und, bevor ich die Stadt zeichne, wie sie ist, sie darstellen, wie sie immer seyn sollte, um eine der lebhaftesten Städte genannt werden zu können.

Nur allein der Einzug zur Johanniszeit ist nicht sehr glänzend, denn gleich an den Thoren, ja oft schon vor denselben, wird man von einer Menge großer und kleiner Ebräer umringt, die Quartiere anbieten; man logirt nämlich, wie zur Meßzeit in Leipzig, hier zur Johanniszeit größtentheils in Privathäusern. Mit bewundernswerther Geläufigkeit rühmt ein jeder die Vorzüge der Logis, die er anbietet, ihre Bequemlichkeit, ihre Wohlfeilheit, und zuweilen wohl auch die Reize der Wirthin. So wollte, als ich einmal im Juny nach Mitau reiste, ein kleiner krausgelockter Ebräer diesen Vorzug durchaus bey mir geltend machen, überschrie alle [389] seine Kollegen und rief in einem fort: „was für ane schaine Wirthin!“ – Bey der Ankunft in Mitau von Doblen her hat man die Wahl, entweder auf der Großen-, Schreiber- oder Judenstraße seinen Einzug zu halten. Der bescheidenste ist unstreitig der durch die letztere. Sie ist ungepflastert, mit größtentheils kleinen Häusern besetzt, und, angemessen ihrem Bilde und ihrer Überschrift, als Judengasse, gar nicht geeignet, einen großen Begrif von der Schönheit der Stadt beyzubringen. Man gewinnt aber wesentlich für seinen Wagen und die von der Reise ermüdeten Pferde; denn das Pflaster der andern Straßen gleicht an mehreren Stellen eher zerstreuten Klippen, als geordneten Steinen. Hat man jedoch endlich sein Quartier — es sey nun mit oder ohne Empfehlung Judäas — erreicht, und liegt dieses in einer guten Straße, so ist es schon unterhaltend, die Menge der Equipagen, Reuter und Fußgänger zu betrachten, die in allen Richtungen die Stadt durchkreuzen — und man findet Gelegenheit, alle Spielarten des Fuhrwerks, vom Leiterwagen an bis zur prächtigsten Staatskutsche, zu mustern. Bereits eine [390] Woche vor Johannis beginnt die Stadt lebhaft zu werden, und diese Zeit gewährt manchem ein irdisches Freudenleben, auf welches das Fegefeuer der drey Zahl- oder Johannistage folgt. Die Tage vor Johannis sind dem Vergnügen, den Visiten, und höchstens der Einleitung der Zahlungsgeschäfte gewidmet. Besonders aber werden sie wahre Freudentage für die Damen, indem, außer den vielen abwechselnden Vergnügungen, die alle Stunden des Tages einnehmen, eine Menge Läden mit ausgesuchtem Putz gefüllt und in, jedem Augenblick zahlreich besucht sind. Oft werden auch schon um 10 und 11 Uhr Vormittags Koncerte gegeben. So sang vor zwey Jahren in dieser Morgenzeit, im Theater, bey vollem Hause, die berühmte Mara, — selbst schon im Abende ihres Lebens. Nachmittags um 3 Uhr hat man fast alle Tage Koncerte, die von durchreisenden Virtuosen, deren oft 6 und mehrere sich hier beysammen finden, gegeben werden. Ihre Einnahme muß doch beträchtlich genug seyn, um eine weite Reise und einen kostbaren Aufenthalt zu bezahlen. Wie mancher verdienstvolle Künstler hat hier nicht durch trefliches Spiel [391] oder Gesang entzückt, und sein Andenken auch nach Jahren erhalten. Ich nenne, außer der Mara, nur Dulon, Rhode, Lamare, Himmel, die Gebrüder Preumayr, Field und Ellmenreich. Zuweilen indessen ertönt hier auch manches Waldgeschrey, das wir Nordländer, gegen unser baares Geld, für Gesang nehmen sollen. So erinnere ich mich, z.B. eines gewissen Galliani, der vor ein paar Jahren sein sehr mittelmäßiges Geklimper auf der Guitarre für unerreichbare Tonkunst verkaufen wollte.

Um 6 Uhr Abends beginnt das Schauspiel und nach demselben der Spaziergang im Offenbergschen Garten, oder ein Ball, und so sind alle Stunden des Tages, bis spät in die Nacht hinein, den Vergnügungen geweiht. Bleiben etwa noch einige Minuten übrig, so werden selbst diese zum Anschauen von Kabinetten mit Wachsfiguren, Panoramas, wilden Thieren, Mißgeburten, Riesen, Kunstreutern‚ oder Pferden in Beschlag genommen, und wer alle diese öffentlichen Ausstellungen sehen, alle Koncerte hören, das Theater und die Bälle besuchen will, hat wahrlich keine kleine Arbeit übernommen, und muß [392] diese Freuden im Schweiße seines Angesichts ärndten. Ich babe manchen Herrn und manche Dame gesehen, denen es auf die Weise sauer genug wurde, sich zu vergnügen, und die sich für ein jahrelanges stilles Landleben, mit vielem Gelde, und selbst mit Aufopferung des Schlafs und der Gesundheit, Erinnerungen aus der Mitauer Johanniszeit einkauften. Wenn ein ächter Kunstgeist in diesen Erinnerungen lebt, so sind sie Gewinn für das Daseyn, wo die Vergangenheit ihren ganzen Schatz der Erinnerung vertraut, und Erfahrung aus diesem die Kosten der Gegenwart bestreitet. Nur müssen die Erinnerungen nicht den Wachsfiguren gleichen, bey denen das Leben in den kalten starren Bildern mehr schreckt als erfreut.

Der ganze Tag wird also, wie man gesehen hat, von Künstlern und Gauklern, von Kunst und Spaß, in Beschlag genommen; aber auch von dem Reste sollen noch einige Groschen abfallen, und bis zum grauenden Morgen ziehen Leyern, Papagenoflöten und Tambourins durch die Straßen, gleichsam als müßte die Ruhe um jeden Preis gebannt werden, und sie die einzige seyn, der kein [393] Plätzchen gegönnt wird, um auch ihr Spiel in gaukelnden Träumen zu feyern. Endlich erscheint der Johannistag mit seinen ihm nachfolgenden beyden jüngern Brüdern, und nun ändert sich einigermaßen die Scene. Die Freuden stellen sich mehr in den Hintergrund und lassen ernsten Geschäften den Vortritt. Mitau hat jezt die höchste Stufe seiner Flut erreicht und sieht wieder der Zeit der Ebbe entgegen. Alle Häuser sind mit Fremden vom Lande, aus Riga und aus den Städten Kurlands besetzt; allenthalben hört und sieht man in den Häusern harte Thaler zählen; eine Menge Bediente laufen mit schweren Geldsäcken über die Straßen, oder fahren dergleichen auf Droschken und Schleifen. Die verschlossenen Kasten der Reichen öffnen sich, um ihren Inhalt den Händen der Ärmern, gegen jährlichen Zins, zu vertrauen. Juden aller Art durchrennen die Straßen und wollen der Noth ein Procentchen, und wohl auch mehrere, abgewinnen, oder bringen ihre Beute hier und da, wo man es am wenigsten erwarten sollte, in Sicherheit. Die Gesichter, die Tages zuvor ein Lächeln der Freude umzog, sind jezt ernst und gespannt; [394] man bemerkt die Anstrengung der genauesten Überlegung und Berechnung. Still und in sich gekehrt sieht man jezt die Männer auf den Straßen gehen und fahren. Nur die Damen läßt dieß Karneval des Pluto ungestört. Ihr Schutz allein hält die Musen von der Flucht, vor dem Bannspruche der ernsten Geschäfte zurück; sie nähren die Göttinnen in dieser Prüfungszeit mit den silbernen Brodsamen, die von ihrer Herren Tische fallen.

Das Schauspiel und der Offenbergsche Garten bleiben aber demungeachtet, immer angefüllt, weil selbst die Männer, welche den ganzen Tag hindurch die wichtigsten Geschäfte gehabt haben, gegen Abend einer Erholung bedürfen. Oft habe ich, auch außer dem Theater, Monologe auf der Straße halten sehen und hören, denen es weder an feuriger Deklamation, noch an mimischer Darstellung fehlte. So ging einst ein Mann vor mir auf der Straße, der sehr oft die Hand ausstreckte und dabey wiederholt sagte: „Das geht unmöglich an! ich brauche selbst mein Geld und kann es nicht länger lassen.“ — Ein anderer stand jeden Augenblick still, legte den Stockknopf an die Stirn und bewegte die [395] Lippen als ob er rechnete. So macht die Anstrengung beym Geschäfte, indem es durch subjektive Wichtigkeit, oder durch die Neigung, mit der es ergriffen wird, Leidenschaft erweckt, für die äußere Umgebung fühllos, und hat sogar den ästhetischen Werth, ein inneres Leben empor gerufen zu haben. Gewiß hat selbst Archimedes, der, bey ihn umgebender Gefahr, seine Zirkel zu bewahren bat, nicht inniger seine Wissenschaft umfaßt, als hier unsre Peripatetiker die Kreise ihrer Johannisrechnungen. Wenn man die Menge von Geld sieht, die um diese Zeit hier gezählt oder getragen wird, so sollte man Kurland für eine der reichsten Provinzen Rußlands halten. Eine Voraussetzung, die jedoch bey genauerer Kenntniß der Geschäfte verschwindet; denn dasselbe Kapital läuft oft durch zehn und zwanzig Hände in größern und kleinern Summen. Ein wahrer Proteus, wechselt hier das Geld jeden Augenblick als Equivalent eines andern Werthes, bis es endlich, oft und frey erblickt, im Kasten verschlossen seine Beschwörungen für den Moment endet. Einen sehr richtigen Beweis, wie oft das Geld hier in Umlauf [396] gesetzt wird, und daß die Quantität nicht ganz so beträchtlich ist, als sie scheint, giebt der Umstand, daß wenn zuweilen nur 100,000 Thaler ausbleiben, oder durch Zufall steril liegen müssen, man augenblicklich eine Stockung in den Geschäften merkt. Dem Psychologen können diese Tage überdem als wahre Zahltage der Erfahrung dienen; aber er wird sich freuen, nicht selten auch Züge des höchsten Edelmuths zu entdecken, die, im Ganzen genommen, ihm den Charakter der Kurländer lieb machen müssen. Fälle, wo der Ärmere uneigennützige Unterstützung und ihn rettenden Kredit erhält, wo Freunde und Bekannte wetteifern, um jede Verlegenheit zu mindern, kommen häufig vor; dagegen die wenigen Wucherjuden und Jüdinnen allgemein gekannt sind und ihren sauern und unsichern Profit gegen allgemeine Verachtung eintauschen.

Während nun alles zum Altare Pluto’s seine Opfer trägt, und mancher, der zu viel oder zu wenig des Goldes darbringt, auch die Ruhe seiner Seele unter die dem Höllengott — als solcher schon ein Gott des Reichthums — dargebotenen Gaben mischt, wollen [397] wir desto ungestörter die vorzüglichsten Tempel der Kunst, und die dem geselligen Vergnügen geweihten Plätze betrachten.

Ich nenne das Theater zuerst, weil es gewiß die vorzüglichste Unterhaltung ist, welche Mitau während der Johanniszeit darbietet. Die rigasche Schauspielergesellschaft kann sich dreist mit vielen vorzüglichen Theatern Deutschlands messen. Sie spielt in der Regel fast den ganzen Junymonat hindurch in Mitau in einem von dem Direktor, Herrn Meyrer, vor wenig Jahren, auf seine eigene Kosten, erbauten, geschmackvollen Schauspielhause, das gegen 1200 Personen faßt, und jeden Abend ohne Ausnahme stark besetzt, oft zum Ersticken überfüllt ist. Bey dem Tadel, der zuweilen über diese Gesellschaft, oft nur um die Bekanntschaft mit auswärtigen Bühnen zu beweisen, ausgesprochen wird, fällt mir die Behauptung einer gereisten Dame ein, die im ganzen Ernst versicherte, die Nachtigallen hätten am Fuße der Alpen zwey Töne mehr Höhe und Tiefe, und modulirten ihren Gesang besser als die unsrigen. So geht es denn auch mit den Urtheilen über einheimische Kunst aller [398] Art, die, gerade weil sie einheimisch ist, nicht nur weniger geachtet wird, als sie verdient, sondern die selbst der Ausländer besser kennt und ehrt, als derjenige, der sie, als vaterländische Kunst, vorzüglich ehren und aufmuntern sollte. Man muß wirklich voller Vorurtheil seyn, wenn man das Spiel eines Porsch nicht vortreflich finden will. Eben so sind Herr Werther, Herr Wirsing, Herr Loof ausgezeichnet verdienstvolle Schauspieler, und Herr Arnold ist ein sehr braver Sänger; Mad. Ohmann, Mad. Taube, Mad. Meyrer und Dem. Brück’l aber würden dem deutschen Theater jeder Residenz Ehre bringen. Herr Werther ist einer der gefälligsten Komiker, die ich kenne, und hat einen sehr angenehmen und gebildeten Gesang. Dürfte das Verdienst in Riga mit dem in Berlin verglichen werden, so glaube ich, würde der so gepriesene Unzelmann, den ich mit allen seinen starken Späßen sehr oft gesehen habe, Herrn Werther, welcher das Komische mit dem Gemeinen nie verwechselt, wohl nachstehen müssen.

Das Schauspielhaus ist so eingerichtet, daß das Parterre erhöht werden kann, und [399] alsdann, mit der Bühne vereint, einen großen, weiten Ballsaal bildet, in welchem zur Johanniszeit gewöhnlich mehreremal Maskerade gegeben wird. Oft mögen, die Zuschauer in den Logen mitgerechnet, wohl gegen 1800 Personen hier versammelt seyn. Indessen sind die wenigsten maskirt. Besonders aber erblickt man Charaktermasken nur sehr selten, und der versammelten Menge, da überdem fast gar nicht getanzt wird, fehlt es gemeinhin an Unterhaltung. Man müßte sich denn mit dem Anstaunen der Schönheiten in den Logen begnügen, deren man vielleicht an wenig Orten mehr als hier, wie in einer Gallerie schöner belebter Gemälde, versammelt findet. Von vielen weit gereisten Fremden habe ich die Bemerkung wiederholen hören, daß die kurischen Damen, die in Mitau zur Johanniszeit ihren Kreis noch durch mehrere Grazien Riga’s verstärken, zu den Schönsten ihres Geschlechts zu zählen sind. Ohne Parteylichkeit halte ich diese Bemerkung für sehr richtig und finde den Grund dazu darin, daß die meisten hier erscheinenden Damen sich auf dem Lande aufhalten. Schönheit, ein holdes Kind der [400] Natur, kann wohl nirgends besser gedeihen als wo sie frey und ungezwungen von der lieblichen Mutter gepflegt und erzogen wird. Schon der alte gekrönte Poet Bornmann entwirft in seiner Gedicht „Mitau“ im Jahr 1686 ein schmeichelhaftes Bild von den Schönheiten dieser Stadt und sagt:

Über alles ist das Kohr schöner Nymphen hoch zu preisen,
Die zwar durch den schwarzen Flor nur der Schönheit Schatten weisen,
Und mit weißen Mummeldecken, wie der Mond bey dunkler Nacht,
Ihrer Wangen Schnee verstecken, der doch zehnmal feiner lacht,

Aber ihrer Augen Licht, und der schöne Stirnenhimmel,
Weichen keinen Sternen nicht, auch der Reden süsser Kümmel
Giebt den angenehmen Sitten einen Huld beseelten Geist,
Daß in allen Thun und Schritten Amor seine Flammen weis’t.

Sie sind alle wohlgeschickt, Haus und Kinder zu regieren,
Und was die Natur geschmückt, noch viel besser auszuzieren,
Keuschheit, Ehre, Zucht und Liebe, schenken süßen Bitterwein,
Daß die schmucken Herzens-Diebe freundlich und doch erbahr seyn.

[401]

Die sich in den Stand der Eh’ durch der Eltern Raht begeben,
Können, wie Penelope, spinnen, knöppeln, nehen, weben.
Keine Thais muß da wohnen, wo Diana Tempel findt,
Drumb hier so viel Tugend-Krohnen, als gelobte Jungfern sind.

Die weißen Mummeldecken — über die sich Bornmann einigermaßen zu ärgern scheint, obgleich nicht so sehr als sein Zeitgenosse Abraham a Santa Clara, der für ganz gewiß versichert, daß im Jahr 1585 ein Mensch in Wien von 12,650 Teufeln — eine recht ansehnliche Armee — besessen gewesen, die aber, mit Kirchenwaffen ausgetrieben, jämmerlich gebeten, in die dicke Kröß, Haubennester und Tücher der Weiber fahren zu dürfen[1]— waren auch jezt allenthalben sichtbar; aber wir wollen glauben, daß eben so viel Amoretten, die vielleicht jener fürstliche Beichtvater damals für Höllengeister genommen hat, sich in jedem Pettinetschleyer gewiegt haben.

Der Reden süsser Kümmel und der Zucht und Liebe Bitterwein — vielleicht [402] durch den Kümmel so präparirt — sind bloß Bilder der Vorzeit; und wie, nach Hennebergers Erzählung (in seiner alt-preußischen Chronik S. 35), unter dem Hochmeister Herzog Friedrich von Meißen, jemand Rocken gesäet, aus welchem Knoblauch erwuchs, was, beyläufig gesagt, den Untergang der Heiden bedeutet haben soll, „maßen Knoblauch ein Präservativ ist für andere Vorgift:“ so sind aus jenem Kümmel der alten Welt jezt Rosen geworden, und Nektar aus dem Bitterweine. Ob jedoch gerade so viel Tugendkronen als gelobte Jungfrauen sind, lasse ich auf das Zeugniß des alten Bornmanns beruhen — es wäre doch ein besonderes Glück, wann so viele schmucke Herzensdiebe sich sicher im Dianentempel flüchten könnten, ohne unterwegs einmal gefangen zu werden. —

Auch im Kasino, im Klubbenhause und im Garten des Herrn wirklichen Etatsraths von Offenberg, finden jeden Johannis Bälle und Maskeraden Statt; die in letzterem aber sind vorzüglich angenehm, und daher mag denn auch die Beschreibung dieses Gartens, der eine Zierde Mitau’s ist, vorangehen.

[403] Er stößt an das, seinem Innern und Äußern nach, höchst geschmackvolle Haus, des genannten Herrn Etatsraths — von dessen Kunstschätzen ich weiter unten sprechen werde — ist nicht sehr groß und hat nur eine breite Hauptallee in der Mitte, die vom Hause bis zu einem am entgegengesetztem Ende des Gartens errichteten, mit freystehenden jonischen Säulen und der Inschrift: Alexandro I. Russ. Imp. gezierten, kleinen Tempel geht. An diese Allee schließen sich zu beyden Seiten, vorn Blumenstücke, und weiter hin, ein kleiner Park, durch welchen geschlängelte Wege, rechts zu einem Blumenhügel, in dessen Mitte der edle Besitzer seiner verstorbenen Mutter ein Denkmal der kindlichen Liebe errichtet hat, und links zu einer Einsiedeley führen. Ist man bis ans Ende des Gartens gelangt, so kann man den Rückweg entweder durch die große Allee nehmen, oder einen schönen verdeckten Lindengang einschlagen, der zu beyden Seiten den Garten begränzt. Wer den zur linken Hand wählt, stößt am Eingange desselben abermals auf ein Monument der Pietät — auf die sprechend ähnliche Büste [404] des verstorbenen Landhofmeisters von Offenberg.

Unter den mancherley seltenen exotischen Bäumen und Stauden, die der Garten enthält, führe ich, außer den verschiedenen Pappelarten, nur den Lebensbaum, den Lerchenbaum, die kaspische Weide, mit ihrem hellblauen Staube auf der Rinde, die Lonicera Tartarica, den Rubus odoratus, das Viburnum opulus und Hydrophyllum Canadense an. Herrlich ist, zumal an einem warmen Sommerabende, der Anblick der hohen Silberpappeln; — man glaubt sich plötzlich unter einen entfernten Himmelstrich versetzt. Und dieser schöne Garten ist zu allen Tageszeiten für Niemand verschlossen. Der edle Besitzer verdient dafür gewiß den lautesten Dank, da er, selbst mit Aufopferung mancher zarten Blüthe, mancher seltenen Staude, welche der Muthwille zerstört, doch lieber diesen Verlust trägt, als dem Publikum eine Freude nehmen will, die man mit Recht hier in Mitau zu den schönsten zählen darf. So lange das Johannisgewühl dauert, ist der Garten fast zu jeder Tageszeit mit Spaziergängern angefüllt, am [405] meisten des Abends, wo eine große Menge Menschen hinströmt, und die Straßen dahin mit Equipagen und Fußgängern besetzt sind. Alle Johannisgäste — wie man die zur Stadt gekommenen Fremden nennt — versammeln sich hier, und der Garten dient zugleich als Börse, wo Personen, die mit einander Geschäfte haben, sich zusammen finden. Auf und nieder wogt die Menschenmenge aus allen Ständen, während eine schöne Musik am Eingange ertönt. Die Hauptallee ist zuweilen so angefüllt, daß es Mühe kostet, sich durchzudrängen; weniger besucht sind die dunkeln Gänge im Park, wo im Lispel der bewegten Blätter manches zärtliche Wort verrauscht, und die schweigende Nacht manchen Kuß, manchen Händedruck verschleyert. Wer kann zweifeln, daß es sehr unterhaltend seyn muß, an einem schönen Abend die Menge Spaziergänger, welche in der freyeren Natur, die sie umgiebt, den Zwang der städtischen Weise ablegten, zu beobachten? Nur die ältlichen Herren und Damen sitzen ernst und still auf den Bänken zu beyden Seiten der Hauptallee, während die jüngern auf und nieder wandeln. Dort schielt ein Kundmann [406] seinem ihn kaum bemerkenden lustigen Schuldner nach, von dem er hier nicht einmal des Grußes gewürdigt wird. Er scheint den Worten nachzusinnen, mit denen er Morgen seine Mahnung beginnen will. Hier begegnen sich Blicke, in denen freundlicher die Mahnung gegenseitiger Liebe liegt, während dem dort ein paar Gegner, die der Strom der Menge zusammenführte, sich sorgfältig zu vermeiden suchen. Da tritt ein junger Herr mit triumphirender Miene einher, und scheint die Welt zur Bewunderung aufrufen und den Kernspruch einer neuern Philosophie: „Ich bin ich,“ in Blick und Haltung deduciren zu wollen, und zwey Schritte davon eine Dame, die in der Grazie eines neuen Kleides das Erstaunen zu fesseln hofft, mit dem sie sich erblickt wähnt. Hier finden sich Freunde, die ein langes Jahr getrennt, und ihrem Gesichte sieht man die herzliche Freude an, indeß dort die Höflichkeit in vielen Komplimenten den Kontrast zu diesem Gemälde hergiebt. Niemals erblickt man wohl die Liebe zum eignen Selbst so deutlich und unverhüllt, als da, wo man es unter tausend andern herumtragen sieht. [407] Das eigene Wesen wird am meisten gefühlt, wo die Menge Anderer, die man vor sich sieht, den Eindruck des fremden Daseyns theilt und vermindert. Auf die Weise steht Jeder unter tausend Menschen einsamer in sich selbst da, als unter zehn, wo einer den andern genauer zu bemerken gezwungen ist. Im Walde tönt ein weites Rauschen durch alle Bäume, aber man bemerkt es nicht am einzelnen Stamme, in der Ebene hingegen hört man bey diesem auch den leisesten Lispel in den Zweigen.

Wenn der Garten und das Haus selbst durch mehrere tausend Lampen erleuchtet werden, was allemal zur Johanniszeit, wenn hier eine Maskerade gegeben wird, zu geschehen pflegt; so ist der Anblick des Ganzen gewiß schön und prächtig. Das Laub der großen Bäume, besonders der Silberpappeln, der Hecken und Büsche, alles scheint in einem Lichtmeere zu schwimmen. Über der Allee wölben sich flammende Bogen, das Haus selbst und der Tempel sind in ihren Umrissen, wie mit glühenden Zügen in freyer Luft gezeichnet. Eine schöne Musik ertönt am Eingange, und die Menschenmenge strömt [408] gedrängt durch alle Theile des erleuchteten Gartens. Hier erscheinen denn auch häufig Charaktermasken. Betrachtet man nun die verschiedenen Gruppen, die wechselnden Gestalten, die, flüchtig von Strahlen umflattert, vorüberziehen; so träumt man sich gern in jenen Hain jenseit des freundlichen Lethe, wo Vergessenheit der Leiden und Genuß nie aufhörender Seligkeit alle Stände und Nationen vereint — wo die Gegenwart, in Lichtströmen froher Augenblicke, den Wanderer allenthalben begleitet.

Bis gegen den Morgen bleibt der Garten belebt; wenn aber hin und wieder die Lampen zu verlöschen anfangen, und die ersten Strahlen des Morgenrothes die Zauberbilder bannen, die mit schimmernden Schwingen über diesem Feengarten schwebten, dann wird man auf eine unangenehme Weise an die Flüchtigkeit der menschlichen Freuden erinnert. Es gilt dann von diesen, wie vom menschlichen Leben selbst, mit sprechender Wahrheit:

„Weg von der Kerze in die Luft gehaucht,
Verfliegt die Flamme und die Kerze raucht.“

[409] Die Bälle und Assembleen auf dem Kasino, im großen schön dekorirten Ritterhause, werden von dem versammelten Adel zahlreich besucht, und in voller Pracht erscheinen hier Herren und[WS 1] Damen. Der Tanzsaal ist groß und mit Geschmack verziert. Er wird von mehreren Spiel- und Gesellschaftszimmern umgeben. Aber die Bewirthung, wenn nicht besondere Feten eine Ausnahme machen, könnte für den Preis, den sich ein französischer Koch, der sie besorgt, zahlen läßt, auch bey den gewöhnlichen Kasinobällen besser seyn. In der Regel erhält man hier ziemlich magere Kost, nach dem strengsten Sinne. Die Bälle im Klubbenhause werden ebenfalls zahlreich besucht. Schade, daß das Lokal nicht zweckmäßiger ist.

Unter dergleichen abwechselnden Freuden und unter den Leiden der Geschäfte, sind endlich 8 bis 10 Tage nach Johannis verflossen. Immer einsamer wird nun die Stadt; man erblickt nur heimziehende bepackte Wagen; die Schauspielergesellschaft kehrt nach ihrem bestimmten Aufenthalte, Riga, zurück, und Mitau hört auf, die stark bevölkerte, belebte Stadt, voll Pracht und Freude, zu [410] seyn. Die Straßen werden täglich leerer, und die eigentlichen Bewohner kehren allmälig in die Ufer ihres gewöhnlichen Lebens zurück. Diejenigen Hausbesitzer, welche ihre eigenen Wohnzimmer an Fremde vermiethet hatten, beziehen diese wieder — kurz Mitau, wie es seyn sollte, ist verschwunden, es erscheint nun, wie es ist, zieht, mit dem Schlusse der Johanniszeit, seinen Alltagsrock wieder an, und legt das glänzende Galla bey Seite. Doch auch in diesem anspruchlosen Gewande will ich eine Zeichnung versuchen. Aber wenn hier die Farben nicht so lebhaft erscheinen, so mag der Leser ein treues Bild einem bloß geschmückten vorziehen.

Mitau, das, die Vorstädte mitgerechnet, etwa 700 Häuser, von denen aber nur ungefähr 40 steinern sind, 6 Kirchen und gegen 12000 Einwohner zählt, liegt in einer weiten Ebene auf Triebsand und Morast, an einem Sumpfbache, die Drixe genannt, welche ganz nahe bey der Stadt ihren Ursprung hat, und einige Werst weiter nordwärts in die Aa, mit der sie, in geringer Entfernung, immer parallel läuft, hinein fällt. Die Stadt [411] ist von wenigen Überresten eines Walles umgeben, der, als Schutzwehr der Einwohner, verfallen und umgewühlt, nur noch die an ihm lehnenden, und Freuden mancherley Art geweihten Häuser, verdeckt. Unter den öffentlichen Gebäuden verdient besonders das ehemalige Residenzschloß der Herzoge bemerkt zu werden. Es liegt an der Ostseite der Stadt, zwischen der Aa und der Drixe, von Wall und Graben umringt. Den Bau des ersten hiesigen Schlosses fing im Jahr 1271 der Herrmeister Konrad von Medem an, mehrere Jahre später wurde er aber erst durch Eberhard von Monheim vollendet. Nachdem disse Burg 1345 von den Lithauern, auf einem Streifzuge, verwüstet war, wurde sie in der Folge wieder hergestellt, und im Jahr 1705, als sie die Schweden in Besitz hatten, von russischen Truppen, unter Peter dem Großen, der damals selbst in der Stadt gegenwärtig war, (den 4.Sept.) erobert. Das jetzige Schloß ist vom Herzoge Ernst Johann im Jahr 1736, nach einem Risse des Grafen Rastrelli, der auch das Winterpalais in St. Petersburg gebauet hat, angefangen und späterhin weiter ausgeführt worden. Es [412] besteht aus einem Corps de Logis und zwey Flügeln, hat ein Souterrain und zwey Stock, und soll, bey seiner vorigen Einrichtung, 300 Zimmer enthalten haben. Unter diesen zeichnete sich der Tanzsaal im linken Flügel, durch seine beträchtliche Größe, vorzüglich aus. Auch war die Haupttreppe im Corps de Logis im großen Style angelegt. Kurz, man konnte das Schloß mit Recht eine fürstliche Wohnung nennen. Aber 1788 (den 22. December) brannte ein ansehnlicher Theil desselben ab, und ohne Dach blieben nun die Mauern bis zum Jahre 1796 stehen, wo dann das Schadhafte wieder hergestellt und zu Kasernen eingerichtet wurde.

Von Merkwürdigkeiten aus den frühern Zeiten, als Kurlands Fürsten dieses Schloß bewohnten, ist hier nichts mehr zu finden; die Reste jener Beherrscher selbst ausgenommen, die in einem Gewölbe unter dem linken Ende des Corps de Logis aufbewahrt werden. Hier sind die kurländischen Fürsten alle, mit Ausnahme des letztverstorbenen Herzogs Peter, in ihren engen Wohnungen des Todes versammelt. Eine ehrwürdige Gesellschaft, der man sich gewiß [413] nicht ohne Rührung naht. Hier endlich verschloß auf ewig der schwere Sargdeckel die Entwürfe, die Plane, mit denen diese schlummernden Herrseher nach Größe rangen. Der Kurländer, der das Glück empfindet, ein Unterthan Alexanders zu seyn, darf, selbst im Gefühl einer beglückenden Gegenwart, der Vergangenbeit mit Rührung gedenken, die ihn an die Zeiten seiner Väter erinnert; an jene Zeiten, wo Charaktergröße und männliche Stärke, die weniger feine Ausbildung in reichlichem Maße ersetzte, und wo gewiß kein Gold und keine Würde, auch nur einen Grenzstein des Vaterlandes hätte erkaufen können. Dreyßig größtentheils schimmernde Metallsärge, stehen hier wie Trophäen der Siege des Todes über Gewalt und Stärke im Leben, und jene Züge, die ehemals auf Gold- und Silbermünzen prangten, hat nunmehr die Verwesung, nach ihrer Weise, weniger schmeichelnd in Särge aus Zinn und Kupfer umgeprägt und in diesem ihrem Schatzgewölbe aufbewahrt. Von dem ersten Herzoge Gotthard Kettler, der das herrmeisterliche Kreuz, was sehr wahrscheinlich ist, nicht um eine Krone, sondern mehr um [414] ein geliebtes Weib, vertauschte, sind, wie von seiner Gemahlin Anna, nur etwas Staub und Knochen übrig. Herzog Gotthard war in jeder Hinsicht ein merkwürdiger Fürst, von seltener Kraft und Heldengröße, der, von allen Seiten gedrängt und bedroht, im Kampfe gegen überlegene Feinde in sich selbst allemal Mittel fand, um sich mit Ehren zu erhalten. Eben so auch Herzog Jakob, der durch weise Maßregeln seinem Fürstenthum unter den Staaten damaliger Zeit ein beträchtliches Ansehen zu verschaffen wußte. An dem Herzoge Friedrich Kasimir, von einer ungeheuren Perücke und einem rotsammtenen Fürstenmantel umhüllt, sind noch einige Gesichtszüge zu erkennen. Herzog Ernst Johänn aber, der, so wie seine Gemahlin, in einem großen, mit vergoldeter Bronze verzierten, kupfernen Sarge liegt, ist, obgleich er nicht eigentlich balsamirt worden, doch noch völlig kenntlich. Man hat ihn in einem schwarzen Sammtrock und schneeweißer Perücke beygesetzt, mit dem Sterne des Andreasordens auf der todten Brust. Zu einer Fürstengruft, wo der Schmuck nur modernde Gebeine deckt, dahin wandle [415] man, um zu sehen wie die Krone den Schädel drücken mußte, den sie nicht mehr zieren kann; die Ordenssterne auf einer Leichenbrust gleichen der Lava, die nicht mehr glänzt, wenn unter ihr der Vulkan ausgeglüht.

Es geht die Sage, daß unter diesen fürstlichen Leichen auch die eines kurischen Bauern liege, der sich für einen der Herzoge — einige nennen Wilhelm, andre Ferdinand — in den Tod gab, und sich, in der Kleidung des Fürsten, als dieser auf einer Reise hinterlistig ermordet werden sollte, freywillig erschießen ließ. Man hat aber neuerlich sprechende Gründe zum Beweise angeführt, daß die Leiche, welche man für jenen edlen Bauern ausgiebt, keine andere, als die des Prinzen Alexander, eines Sohnes des Herzogs Jabob, ist, der ohne den rechten Arm zur Welt kam, und bey der Belagerung von Ofen im Jahr 1638 blieb. Ich glaube indessen, daß eine so allgemeine Sage doch nicht ganz ohne Grund seyn kann und die Geschichte selbst wenigstens wahr ist. Züge des höchsten Edelmuths werden oft nur der Tradition vertraut, merkwürdigen Frevel [416] aber bewahrt die Geschichte genauer in ihren Denkmalen. Auch scheint es im Grunde zweckmäßiger, die Tugenden in der Tradition fortleben zu lassen: sie gehen dann mehr von Mund zu Mund und von Herzen zu Herzen. —

Das Gebäude des bisherigen akademischen Gymnasiums, welches der Herzog Peter im Jahr 1774 stiftete, das aber seit kurzem, als solches, aufgehört hat, und in ein Gymnasium illustre umgewandelt ist, wurde an der Stelle, wo ehemals das sogenannte Palais stand, in der Palaisstraße, von dem noch lebenden sehr geschickten Architekten Severin Jensen, einem gebornen Dänen, der lange in Italien und namentlich an dem Schlosse zu Caserta gearbeitet hat, erbaut. Unstreitig ist dieß Gebäude eins der schönsten in Kurland und eine wahre Zierde der Stadt. Die prächtige 170 Fuß lange Façade schmückt ein von sechs römischen Säulen getragenes Fronton, auf welchem die Kolossalstatuen des Apoll und der Minerva stehen. In der Mitte des unter dem Fronton laufenden Frieses liest man auf einer schwarzen Platte mit goldenen Buchstaben die [417] Inschrift: Sapientiae et Musis sacrum Petrus Curlandiae et Semgalliae Dux pos. MDCCLXXV. Über dem Fronton erhebt sich ein viereckiger, auf jeder Seite mit vier korinthischen Säulen und einem schönen Gebälke geschmückter Thurm, auf dessen Platteforme eine achteckige, mit Glasthüren, aus denen man heraustritt, versehene Laterne steht, die von einer Kuppel, welche eine zweyte kleinere Laterne trägt, geschlossen wird. Eine bequeme, erst neuerlich angelegte Windeltreppe, führt inwendig bis zur äußersten Spitze, von wo aus man nach allen Seiten hin, weit über die Stadt weg, die herrlichste Aussicht genießt. Das obere Geschoß des Gebäudes enthält das Auditorium maximum zu den Feyerlichkeiten, zwey kleine Hörsäle zu den Vorlesungen und die Bibliothek. Unten ist der Tanz- und Fechtboden, die Koncilienstube, einige Zimmer, worin die mancherley Sammlungen aufbewahrt werden, die Wohnung des Pedells und das Karcer. Das Observatorium ist auf der Südseite unter dem Dache angebracht, und wohl etwas unbequem, hat aber viele trefliche Instrumente [418] und einen noch treflichern Observator, Herrn Hofrath und Professor Beitler, dessen tiefe Gelehrsamkeit die Welt anerkennt und ihn zu den vorzüglichsten jezt lebenden Mathematikern zählt, dessen Charakter aber im engern Kreise seiner Freunde und Bekannten eben so verehrungswerth ist, als es seine weit umfassenden Kenntnisse sind. Zu den vorzüglichern mathematischen Instrumenten, welche sich hier befinden, gehört ein Regulator von Shelton, ein andrer von Vulliamy, ein astronomischer Quadrant von Sisson 3 Fuß im Radio, ein kleinerer von 1 Fuß, ein Teleskop von Nairne, ein Dollondischer achromatischer Tubus von 3 Fuß Fokaldistanz mit einem Mikrometer, eine parallaktische Maschine und ein Mittagsfernrohr, beyde von Dollond. Die Bibliothek zählt ungefähr 25.000 Bände, unter denen sich vorzüglich im Kunstfache, so wie im Fache der klassischen Literatur und Geschichte die kostbarsten und seltensten Werke befinden. Am stärksten ist das juristische Fach besetzt. Der erste Grund zu dieser Sammlung wurde durch Ankauf aus den berühmten Badenhauptschen und Germershausischen [419] Bibliotheken in Berlin gemacht. Späterhin schenkte auch der Herzog noch manches Einzelne, und endlich kam im Jahr 1796 die etwa 10,000 Bände starke ehemalige mitausche Freymaurerbibliothek hinzu, welche die hochselige Kaiserin Katharina, nachdem die bis dahin hier bestandene Freymaurergesellschaft, mit allerhöchster Einwilligung, ihr Haus und ihre Büchersammlung dem Kollegio der allgemeinen Fürsorge geschenkt hatte, der akademischen Bibliothek einzuverleiben befahl. Im Bibliothekensaal sind zwey Büsten, beyde von karrarischem Marmor aufgestellt. Sulzers Büste, von Meyer gearbeitet, schenkte Herzog Peter hieher, um das Andenken des Mannes, der den Plan zu dem Gymnasio entworfen hatte, zu ehren, und im Jahr 1801 wurde die Büste des Dr. Lieb, ihm, wegen seiner medicinischen Verdienste um Kurland, von der kurländischen Ritterschaft gewidmet, und von Friedemann in St. Petersburg gearbeitet, gleichfalls hieher gestellt. An dem runden Piedestal, auf welchem die Büste steht, liest man, mit Buchstaben von Bronze, folgende Inschrift: Aesculapio et Linneo [420] Nostro, Joann. Wilh. Fried. Lieb, Salutifero, Rusticorum Pauperumque Amico, Grata Curlandiae et Semigalliae Nobilitas. MDCCCI.

Bemerkt zu werden verdient auch die Sammlung kurländischer ausgestopfter Vögel des ehemaligen Professors der Jurisprudenz Besecke[2] Diese Sammlung sowohl als ein sehr instruktives Mineralienkabinet hat die kurländische Ritterschaft angekauft und der Akademie geschenkt. Unter den angestellten Lehrern gab es von jeher Männer von ausgebreiteten Kenntnissen und gründlicher Gelehrsamkeit.

Von den sechs Kirchen in Mitau, der lutherisch-deutschen und lettischen, der griechischen, katholischen, reformirten und Hospitalkirche, ist wenig merkwürdiges zu sagen. Die deutsche wurde im Anfange des 17ten Jahrhunderts zwar sehr massiv‚ aber in einem verdorbenen, nicht ächt gothischen Geschmack erbaut. Das gefälligste Äußere hat die griechische Kirche, die erst vor ungefähr dreyßig Jahren errichtet ist. Der Dichter [421] Bornmann, in seinem schon oben erwähnten Gedicht Mitau, beschreibt die deutsch-lutherische Kirche zwar als ein ächtes Meisterwerk, das die Fürstin Anna erbauen lassen:

„Wo die schönsten Glaubensspuren, wo des Künstlers Kunst und Hand,
An dem Schnitzwerk und Figuren, Fleiß und Sinnen angewandt.“

Doch dürften jezt jene Figuren nur von des Künstlers Hand, nicht aber von seiner Kunst zeugen.

Mitau besitzt zwey wohlthätige Stifte: das adeliche Katharinenstift, von der verstorbenen Generalin Katharina von Bismark, gebornen von Treyden, im Jahr 1775 gegründet. Es werden in demselben 6 adeliche Fräulein oder Wittwen, unter der Aufsicht einer Äbtissin, in einem bequemen, gemauerten, zwey Stock hohen Hause, standesmäßig unterhalten. Sie tragen, zufolge der Bestätigung des ehemaligen Königs von Polen Stanislaus Augustus, an einem blauen Ordensbande ein emaillirtes ovales Medaillon, mit dem Namenszuge des Königs. Der Fonds dieses Stifts beträgt 32000 Rubel. — Ferner: Das Klocksche Wittwenstift, [422] in einem geräumigen hölzernen Hause in der großen Straße. Dieses wurde im Jahr 1791 von dem ehemaligen hiesigen Bürgermeister Klock für 6 Kaufmanns- oder Schullehrerwittwen gestiftet, hat einen Fond von 44800 Rubeln, und steht unter der Aufsicht des Magistrats. Die hiesige Armenanstalt, unter Direktion Sr. Excellenz des Herrn Civilgouverneurs, dessen Humanität sich für diese Anstalt mit der größten Sorgfalt interessirt, ist in 3 Häusern vertheilt, wo gegen 250 Kranke und Nothleidende verpflegt werden. Sie besitzt ein Kapital von 17257⅓ Rubel, zu dem noch jährlich freywillige ansehnliche Beyträge kommen, so wie auch die Hälfte desjenigen, was von solchen zu dieser Anstalt gehörigen Personen erworben wird, die noch zu arbeiten im Stande sind. In dem ältesten Stadtarmenhause, neben der Armen- oder Hospitalkirche, wo an jedem Montage Gottesdienst gehalten wird, werden, theils von den Zinsen eines Kapitals von 12800 Rubel, theils durch Kollekten, über 30 Arme unterhalten. Die Stadt hat eine große und 4 kleine Schulen, nebst der katholischen und reformirten Kirchenschule. Auf [423] diese Weise fehlt es den Bewohnern Mitau’s nicht an Mitteln für den Unterricht ihrer Kinder zu sorgen. Die neue vortrefliche Einrichtung der Schulen in Rußland ist bekannt, und dem Plan derselben gemäß sind auch hier die Schulen jezt eingerichtet, und mit geschickten und thätigen Lehrern besetzt worden. Mit Vergnügen bemerkte ich neuerlich die Fortschritte, die der Sohn meines Wirthes — eines alten biedern Sattlermeisters Namens Lindemann — in mehreren Wissenschaften, in der russischen und französischen Sprache und im Zeichnen, gemacht hatte. Da, wo es selbst dem Handwerker möglich wird, seinen Kindern mit sehr geringen Kosten einen beträchtlichen Grad der Ausbildung zu verschaffen, da kann sich der Staat von seinen Bürgern, was Industrie und Moralität anlangt, gewiß viel versprechen. Rußland reift auf diese Weise schnell der Stufe einer Kultur entgegen, die man in andern Staaten selten so auf alle Stände verbreitet finden wird. Und wahrlich in diesen Zeiten der Stürme ist Geistesausbildung allein die schuldlose Taube, die, wie in jener Sündfluth, die die Bibel beschreibt, den Öhlzweig [424] zurückbringt, der auf Frieden und bessere Tage hoffen läßt.

Unter den Privatgebäuden zeichnen sich durch Schönheit und Pracht das Haus des ältern Herren Grafen von Medem, das Bernersche, das Wächtersche und das gräflich Lievensche vorzüglich aus.

Gemäldesammlungen, die von Privatpersonen besessen werden, kenne ich zwey. Sie enthalten manches Merkwürdige. Die erste besitzt Herr Kollegienassessor von Berner, in dessen Hause überhaupt alle Musen eine freundliche Aufnahme finden, und dessen fein gebildeter Geschmack für alles Schöne und Gute selbst unter den wichtigsten Geschäften nicht verloren ging, indem er von jeher Künste und Wissenschaften in dem angenehmen Kreise seines Umgangs versammelte.

Die zweyte gehört dem Herrn wirklichen Etatsrath von Offenberg, von dessen Garten ich schon früher Gelegenheit zu sprechen fand.

Aus der Bernerschen Gemäldesammlung nenne ich, als vorzüglich, folgende Stücke:

[425]

  • Eine Landschaft von Isaak Moucheron. Der Baumschlag ist vortreflich und das Ganze schön geordnet, über der Landschaft schwebt ein so richtig vertheiltes Licht, daß man die Gegenstände von wirklichem Sonnenschein beleuchtet glauben sollte. Das Bild ist eins der ausgeführtesten dieses Meisters.
  • Ein alter Kopf von Gerbrand van den Eckhout. Ganz in der Manier seines großen Lehrers Rembrand, und vom höchsten Effekt.
  • Das Portrait des Malers Franz Rusca, von ihm selbst gemalt, und voll Leben und Haltung.
  • Zwey Chorknabenköpfe; aus Correggios Schule. Ein Bild voll hoher Schönheit und eine wahre Zierde der Sammlung. Vermuthlich ist es aus einem größern Gemälde ausgeschnitten.
  • Zwey kleine Portraits; ein Niederländer und seine Frau, von einem unbekannten, aber gewiß sehr braven Künstler.
  • Eine überhöhete Landschaft vom wärmsten Kolorit, von einem unbekannten italienischen Meister.
  • Eine äußerst fleißig gearbeitete Landschaft mit Figuren und Vieh von Ludwig Tieling; und als Pendant
  • Eine zweyte von einem unbekannten italienischen Meister.
  • Zwey Landschaften von Ludwig Weitsch.
  • Ein Seehafen von Thomas Wyck; die Farben sind stark angelegt, und das Kolorit vortreflich.

[426]

  • Ein Scharmützel von Heinrich Verschuuring. Was für eine genievolle Komposition! welch ein Feuer! welche Abwechslung! alles ist voller Bewegung und Leben.
  • Ein trefliches Seestück von Dubbels.
  • Vier kleine historische Kabinetsstücke, auf Kupfer gemalt, von Sebastian Frank. Zwey enthalten Vorstellungen aus der Mythologie; zwey aus der heiligen Geschichte, und allen gebührt das Lob einer herrlichen Gruppirung und lebhafter Farben.
  • Zwey Pendants: Ein Knabe und ein Mädchen, von van der Werf.
  • Eine niederländische Familie, welche zusieht, wie die Tochter des Hauses im Tanzen Unterricht erhält; von Peter Codde.
  • Ein Frauenzimmer am Klavier, daneben der Vater, der zuhört; von Franz Mieris. Ein allerliebstes kleines Stück.
  • Zwey vortrefliche Landschaften mit Figuren und Vieh; von Clomp.
  • Eine sehr brave überhöhete Landschaft; von einem unbekannten Meister aus der niederländischen Schule.
  • Zwey Landschaften, mit Pferden und Reitern im Vordergrunde; von Peter van Bloemen. Die Pferde sind besonders schön gemalt.
  • Eine Bauerschenke; von Tenniers, und als Pendant
  • Eine Faschingsscene; von demselben.
  • Bauern, die in einer Schenke Karten spielen; von Peter van Elst. Voller Ausdruck, obgleich sehr gemeine Naturen.

[427]

  • Ein alter Mann, und als Pendant
  • Eine alte Frau; beyde von Anton Pesne. Halbe Figur; mit sprechender Wahrheit gemalt.
  • Ein Alchymist in seinem Laboratorio; von Ostade.
  • Ein Stilleben (Mancherley Silbergeschirre und zwey Teller mit Austern); von einem unbekannten alten Meister, aber vortreflich gemalt.

Unter den vielen herrlichen Kupfern, mit denen mehrere Zimmer geschmückt sind, nenne ich nur das berühmte Abendmahl von Morghen nach Leonardo da Vinci[3], von dem hier ein vorzüglich schöner Abdruck hängt. Auch darf ich eine selten schöne Handzeichnung, das Portrait des berühmten Violoncellisten Lamare, von einem Künstler in St. Petersburg, Namens Baudiot, nicht unerwähnt lassen.

Unter den verschiedenen Kunstschätzen im Hause des Herrn wirklichen Etatsrath

  1. Judas, der Erzschelm, von Abraham a St. Clara: P 5. pg. 15.
  2. Vorzüglich enthält sie eine Menge Habichte, die sehr gut erhalten sind.
  3. Diese vortrefliche Platte[WS 2] kann als eine Rettung des unsterblichen Werkes jenes großen Malers angesehen werden, das, auf Kalk gemalt, in dem bey der Kirche Santa Madonna della Grezia liegenden Kloster zu Mailand, durch unverzeihliche Verwahrlosung, seiner Vernichtung ganz nahe ist.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: nnd
  2. In der Vorlage: Platto

[428] von Offenberg, bemerke ich als vorzüglich zwey antike Marmorbüsten, nämlich ein junger Nero und der Kopf des Marcellus. Ferner der Kopf der Ariadne in Kolossalgröße, und die berühmte tragische Muse im Museo Clementino, beyde aus karrarischem Marmor von einem neuern römischen Künstler vortreflich gearbeitet. Auch die Marmorbüste des Vaters des Herrn Besitzers, von Schadow, verdient Erwähnung, und ist schön ausgeführt. Von Gemälden sind folgende die merkwürdigsten und schönsten:

  • Die priesterliche Zusammengebung Josephs und Mariens, von Lukas Cranach 1460 gemalt. Eim höchst seltenes Stück; die Farben sind so frisch und lebendig, als wäre das Gemälde eben erst vollendet.
  • Eine Madonna mit dem Kinde; Lebensgröße, von Morillio. Die richtigste Zeichnung, ein markiger Pinsel und die herrlichste Vertheilung von Schatten und Licht zeichnen dieß Gemälde besonders aus.
  • Zwey vortrefliche Landschaften von Robertson.
  • Eine kleine Landschaft von Franz Kobel.
  • Ein römischer Soldat, halbe Figur; von einem unbekannten aber sehr braven Künstler aus der italienischen Schule.
  • Ein Johannes in der Wüsten; gleichfalls aus der italienischen Schule.

[429]

  • Portrait der Herzogin Dorothea von Kurland, von Angelika Kaufmann, vortreflich gemalt, aber wenig getroffen.
  • Zwey sehr schöne Bataillenstücke, von einem unbekannten italienischen Maler und sehr alt.
  • Drey Fruchtstücke, von einem unbekannten Künstler, aber von der höchsten Schönheit. Die Trauben zumal können nicht täuschender seyn.
  • Das Portrait eines Niederländers, aus Vandyks Schule.
  • Die bekannte Magdalena von Battoni; von Gottlob kopirt.
  • Eine schlafende Venus, Lebensgröße, aus der niederländischen Schule.
  • Eine kleine Landschaft mit Ruinen; enkaustisch gemalt von Philipp Hackert. Gewiß etwas sehr seltenes in hiesigen Gegenden.

Außer diesen und andern Gemälden besitzt der Herr Etatsrath mehrere vortrefliche Zeichnungen; z. B. acht große mit Sepia gearbeitete Landschaften von Philipp Hackert; zwölf farbige Landschaften von Birmann und vier von Kneipp; so wie noch andre Handzeichnungen von Angelika Kaufmann, Kobel und vorzüglich eine höchst merkwürdige von West, nämlich die Skitze seines berühmten Gemäldes: der Tod des General Wolff. Ein seltenes Mosaik von mehr als 7 Zoll im Durchmesser, den Tempel der Minerva Medica vorstellend, und [430] eine beträchtliche Sammlung nach Antiken geformter Glaspasten von Tassie, dürfen nicht übersehen werden.

Musik wird in Kurland mehr als jede andere Kunst geliebt und erlernt. Sie hat auch in Mitau ihre vorzüglichen Lieblinge. Mehrere geschickte Tonkünstler, unter denen ich die Herren Rose, Brettschneider und Roth als die vorzüglichsten nenne, haben alle Stunden des Tages besetzt, und es giebt hier Dilettanten, die ihr Talent zur hohen Vollkommenheit ausgebildet haben; so daß sie manchen reisenden Virtuosen, der sich übertroffen fühlt, beschämen. Fräulein Mariane von Berner, die unter andern auch von dem berühmten Rode Unterricht erhalten hat, macht ihrem Lehrer wahrhaft Ehre. Mit einer Fertigkeit, mit einer Zartheit und doch mit seltener Kraft und Fülle trägt sie die schwersten Sachen auf der Violine vor. Man erstaunt, und kann nur die liebenswürdige Bescheidenheit, mit der sie als vollendete Künstlerin erscheint, noch mehr als ihr vortrefliches Spiel selbst bewundern. Die beyden Herren von Arsenieff, Söhne Seiner Excellenz des Herrn Civilgouverneurs, haben es ebenfalls auf mehreren Instrumenten zu einem hohen Grade von Vollkommenheit gebracht, besonders der zweyte auf dem Pianoforte. Außerdem wird fast in jedem Hause der höheren, [431] gebildeten Stände, ja selbst bey mehreren wohlhabenden Handwerkern Musik, mit mehr oder weniger glücklichem Erfolg, lernt, und man geht selten eine Straße durch, ohne hin und wieder Harmonien der Tonkunst erschallen zu hören.

Die beständigen Einwohner Mitaus bestehen aus den daselbst angestellten Mitgliedern der höheren und niederen Behörden, mehreren andern Beamten, dem Landadel, der sich jedoch nur in sehr geringer Anzahl für immer in Mitau aufhält, und wenigstens den Sommer hindurch fast allgemein auf seinen Gütern lebt. Ferner aus dem Militair, den Gelehrten und Künstlern, der Kaufmannschaft, den Handwerkern und den Juden, welche letztere, da nur sehr wenige von ihnen Kaufleute oder Handwerker sind, sie vielmehr ihren Erwerb auf eine Weise treiben, den nur ihre eigene Sprache mit dem Worte Schacher ausdeuten kann, allerdings auch als eine besondere Klasse der Einwohner bezeichnet werden müssen, Man will in Mitau bemerken, daß die verschiedenen Stände zu sehr von einander getrennt leben, ja selbst unter gleichen Ständen sich mehrere von einander absondern, und daher der gesellschaftliche Umgang für jedes Individuum nur einen sehr engen Kreis bilde. Im Ganzen mag diese Bemerkung ihre Richtigkeit haben, doch [432] scheinen ihr mehrere angesehene Häuser, wo man fast täglich gemischte, und eben daher sehr angenehme Gesellschaften findet, zu widersprechen. Indessen macht freylich ein großer Theil der Beamten und anderen Einwohner Mitaus, was vielleicht auch nur durch die Theurung des Ortes bewirkt wird, gar kein Haus und läßt sich aus den Gasthöfen speisen.

Da Mitau keine Seestadt ist und das belebte Riga voll Thätigkeit und Industrie so nahe liegt, so ist der Handel hier auch nicht sehr wichtig. Eben daher giebt es unter den hiesigen Kaufleuten auch nur sehr wenige, die man reich nennen kann; viele sind nicht einmal wohlhabend. Ehemals war die Stadt, als Residenz der Herzoge, die, bey nur wenigen Ausgaben für den Staat, sehr beträchtliche Revenüen hatten, und ihrer Hofhaltung daher einen nicht geringen Glanz gaben, viel belebter; die Einwohner selbst, besonders aber die geringeren Klassen, waren wohlhabender.

Als Herzog Ferdinand hier lebte — meldet der Baron von Blomberg in seiner „Description de la Livonie pag. 230.“ — hatte er einen Stall von 30 Gespann Kutschpferden und 300 Reitpferden aus allen Ländern; unter diesen auch eins, das mit dem einen Auge des Tages, mit dem andern aber [433] des Nachts sah. Das für die Nacht bestimmte war ein Glasauge. Ob dieser seltene Gaul nur die Dunkel der Nacht, nicht aber auch die der Zukunft habe durchblicken können, davon schweigt die Geschichte.

Von eigentlichen Fabriken ist mir in Mitau nichts bekannt geworden. Indessen könnte man die ansehnliche Niederlage an fertigen Sätteln und Riemerwerk aller Art, die Herr Alberti zu Kauf stellt, beynahe dahin rechnen. Auch wird von einem andern geschickten Künstler sehr guter Saffian hier verfertigt[1].

Einer ausgezeichnet ehrenvollen Erwähnung verdient noch die Buchdruckerey der Herren Steffenhagen und Sohn. Sie ist vielleicht die beste Officin im Norden, hat einen sehr beträchtlichen Vorrath der schönsten Typen aller Art, druckt in den mehrsten Sprachen und beschäftigt vier Pressen ununterbrochen. Erst ganz neuerlich ist sie auch mit einer Notendruckerey vermehrt worden[2].

[434] An Gasthöfen fehlt es Mitau nicht, und ich glaube gewiß, daß, die Johanniszeit ausgenommen, selten in Mitau so viel Fremde sind, als Gasthöfe. Sie scheinen auf die Weise gleichsam in Vorrath für eine künftig größere Bevölkerung angelegt zu seyn, für die, beyläufig gesagt, auch übrigens in Mitau nicht übel gesorgt werden mag. Den vorzüglichsten Ruf haben das Hotel de Petersbourg, die Stadt Moskau und die Sonne. Im letzteren Gasthofe zeichnet sich zwar nicht eben das Logis, wohl aber die Tafel vor allen andern aus, ohne doch theurer zu seyn als in den übrigen.

Mitau, als Gouvernementsstadt, ist zugleich die Kreisstadt der Mitauischen Oberhauptmannschaft, zu welcher die Stadt Bauske und die Flecken Doblen und Schönberg gehören, und die einen Flächeninhalt von 4892 Quadrat-Wersten enthält, in welchem 63,367 Seelen männlichen, und 59,281 weiblichen Geschlechts wohnen, und 79 Krons- und 94 Privatgüter (die Beyhöfe ungerechnet), 24 Pastorate, 10 Kronsforsteyen und 5852 Bauergesinde gelegen sind.

Der Leser mag mit diesem flüchtigen Gemälde von Mitau zufrieden seyn; er mag, wenn er es flüchtig gezeichnet fand, bemerken, daß, so wie ich auf der einen Seite es mir zur Pflicht machte, eine treue und wahre [435] Darstellung zu liefern, ich dennoch auf der andern die Schonung mancher Verhältnisse zu bewahren hatte, um nicht mit dem mehr belobten Dichter Bornmann ausrufen zu müssen:

Willst Du mich, mein Mitau, hassen?
Warurmb wetzest du den Zahn,
Mich ins dicke Fleisch zu fassen?
Hab ich Übles dir gethan?
Ey, so sage, was es ist,
Und warumb du zornig bist.

Eben daher scheide ich von der Hauptstadt meines Vaterlandes, an der ich keinen auffallenden Mangel kenne, welcher nicht eben so gut das Erbtheil anderer Städte des zweyten oder dritten Ranges wäre, gern in Frieden. Doch ehe ich Mitau ganz verlasse, will ich noch ein Paar Worte von den nächsten Umgebungen sprechen, welche den Städtern zu Spaziergängen oder zum Sommeraufenthalte dienen.

Sehr häufig wird die von Flössen zusammengesetzte Brücke über die Aa, besonders an heitern Sommerabenden, von Spaziergängern besucht. Die Aussicht auf die schönen Häuser an der Drixe, auf das Schloß und den mit ansehnlichen Lastböten besetzten Strom ist reizend, und das Hin- und Herfahren der Extraposten und mancherley Equipagen, die von Riga kommen oder dahin wollen, geben der Brücke eine Lebendigkeit, wie sie keine Gasse in der Stadt selbst hat. —

[436] Ein zweyter angenehmer Spaziergang ist der am Kanal vor dem Doblenschen Thore, obgleich der Weg außerhalb der Stadt bis dahin, besonders für Fußgänger, und vollends wenn es geregnet hat — wie der Weg zur Tugend — ziemlich schlüpfrig ist. Ist man aber einmal an Ort und Stelle, so wandelt man im Schatten hoher Weiden und Erlen neben dem Kanal fort, der im heißen Sommer doch immer noch Wasser genug aufbewahrt, um dem Spaziergänger an seinen Ufern sanfte Kühlung zu gewähren. Mehrere niedliche Landhäuser, oder, wie sie hier heißen, Höfchen, von Gärten und den schönsten Wiesen umringt, geben einen angenehmen Anblick. Dieser Spaziergang endigt sich bey dem sogenannten Dammwächter, einem Wirthshause, das aber größtentheils nur von der niedern Klasse der Einwohner Mitaus besucht wird.

Hier am Kanal liegt auch das Höfchen, welches der verstorbene Professor der Beredsamkeit und reformirte Prediger zu Mitau, Tilling, besaß. Als Kanzelredner verdiente Tilling gewiß den großen Ruf, den er hatte, und war überhaupt ein Mann von seltnen Talenten und Kenntnissen, und als Mensch durfte er gewiß eben so auf Schonung und Mäßigung Anspruch machen, als viele seiner wüthendsten Gegner, deren er wie jeder Mann von Talent so viele hatte. Der Ton seiner kraftvollen Stinme, die [437] zum Herzen sprach, ist verhallt wie er selbst, möge doch von ihr, mit der er oft so kraftvoll seine stammelnden Feinde zurückwies, die Erinnerung so viel bewahren, um sein Andenken in Frieden erhalten zu dürfen.

Die Grabmäler zweyer Freunde, Tetsch und Schwander — beyde durch Redlichkeit, Kenntnisse und Talent in ihrem Vaterlande gekannt und so geliebt, daß ihr Andenken, nachdem sie selbst schon lange nicht mehr sind, sich auch ohne Marmormonumente ehrenvoll erhalten hat — liegen zwey Werst von der Stadt, hart an der Straße nach Doblen. Schwanders Denkmal, — ihm von einer Freundin gesetzt und von dem Bildhauer Werdell gearbeitet — ein Obelisk aus grauem Marmor, an dessen obern Theil sich das Bildniß des Verstorbenen und am Fuße eine passende Inschrift befindet, ist durch eine etliche hundert Schritte lange Birkenallee mit dem Monumente seines Freundes Tetsch' verbunden, das in einer großen Urne von karrarischem Marmor besteht, welche auf einer mit der einfachen[3] Inschrift: „gratus in patria“ versehenen Basaltplatte ruhend, einen grünen, von eisernem Gitterwerk umgebenen Rasenhügel ziert. Tetsch verordnete durch ein Vermächtniß, [438] daß der jährliche Ertrag einer Wiese, die an diese Grabmäler grenzt, immer dem ersten Paare, das während dem Laufe des Jahres aus dem Mitauschen Gewerkstande getraut würde, zu Theil werden sollte, mit der Bedingung, dafür die Birkenallee zu unterhalten und an Stelle der ausgegangenen Bäume, die neue zu pflanzen. Sey es nun aber, daß der Ehesegen auf die Erblasser — die beyde unverheirathet starben — auch selbst in den gepflanzten jungen Stämmen nicht haften will, oder daß die zitternde Hand junger Liebenden die zarten Sprößlinge nicht fest genug in die Erde zu setzen vermag, oder daß das Verhängniß, darüber erzürnt, als zwey Diener der streitenden Themis — beide die Lieblinge des Vaterlandes — einander ohne Neid und Haß theuer und lieb waren und blieben, den Kranz von frischen Zweigen und Blättern zerstört, der auch nach ihrem Tode sie mit einander verbindet, — kurz, mit jedem Jahre scheint die Birkenallee größere Lücken zu erhalten, und einige neu angepflanzte Bäumchen stehen, wie freudenlose Ehen, ohne Blätter, mit verdorrten Zweigen da. Auch der Muthwille hängt sich hier mit seinem Schmutz an die Denkmäler des Verdienstes, wie allenthalben an das Verdienst selbst. Mit Unfläthereyen wird der reine Marmor überschrieben; die bronzenen Buchstaben, ja selbst die Stäbe aus dem Gitterzaun [439] werden entwandt, und so steht diesen Denkmälern edler Männer in kurzem ein Schicksal bevor, welches das Gute und Edle, der Nachwelt übertragen, fast immer hat: daß es entstellt, unkenntlich, endlich in den Staub getreten und — vergessen wird,

Nahe vor der Stadt liegen auch einige öffentliche Gärten, die aber wenig besucht werden. Der Hoppsche Garten scheint größtentheils nur dem Hopsa der Seiltänzer und Luftspringer bestimmt zu seyn, die hier gewöhnlich ihre Kunststücke zeigen. Während der Sommermonate werden vorzüglich auch folgende drey Örter zu Spazierfahrten benutzt, Straute Krisch, der Bauerhof eines lettischen Buschwächters, in seinem zum Krongute Würzau gehörigen Fichtenwalde, wo man von der lettischen Wirthin, nicht allein gute Milch und die Speisen des Landmanns, sondern — so hat sich der Lette hier schon überfeinert — auch Punsch, Kaffee etc. erhalten kann. An schönen Sommertagen sieht man hier viele Equipagen und Spaziergänger, besonders am Sonntage. — Wadsche Kaln, etwa zwey Werst weiter, und noch weiter Ledeckne oder die sogenannten hohen Berge, durch die Aussicht von einem ansehnlich mit Wald bewachsenen Hügel, wo man die Aa mit ihren vielen Krümmmungen und einige an den Ufern derselben liegende Höfe [440] überblickt, interessant. Links um diese liebliche Gegend, wo sich die Würzau zwischen Feldern von üppiger Fruchtbarkeit schlängelt, zielt sich ein junger Eichenwald, wie eine Bürgerkrone, die hier in den sandigen Flächen das Streben nach freyer Höhe belohnen zu wollen scheint.

Noch giebt es einige andere Plätze, wohin Promenaden zu Fuß und in Equipagen unternommen werden; z.B. Brüningshöfchen, Halt an! etc; sie sind aber weniger stark besucht, als die erstgenannten. Einen sehr interessanten Spaziergang im Frühjahr beym Eisgange bieten die Wälle des Schlosses dar. Wie von einem Altan herab betrachtet man das fürchterlich schöne Schauspiel, das die Natur giebt,

Von den entfernteren ehemaligen herzoglichen Lustschlössern, als Würzau, Grünhoff, Schwedhoff, Friedrichslust und Ruhenthal, so wie von mehreren um Mitau gelegenen schönen Gegenden, z.B. bey Brandenburg, Jungfernhoff etc. schweige ich für jezt, um sie, wenn diese Wanderungen den Beyfall der Leser erhalten, in einer Fortsetzung, so wie die Gegenden Kurlands, in der Windauschen, Zabelnschen, Tuckumschen und Oberländischen Gegend zu zeichnen.


  1. Nicht weniger verdienen die vortreflichen Tischlerarbeiten in Mahagony, welche die Herren Papendieck, Carlwitz und Schmidt liefern, und wovon sie gewöhnlich große Quantitäten zum Verkauf in Bereitschaft haben, bemerkt zu werden; so wie auch Herrn Klasons Arbeiten in Bronze, seine Lüstres, Girandolen etc., den geschmackvollsten ausländischen Artikeln dieser Art an die Seite gestellt werden können. —
  2. Die Kuronia für 1807 und 1808 enthält bereits schöne Proben aus derselben.
  3. Aber, die Wahrheit zu gestehen, auch nicht ganz verständlichen. —

Anmerkungen (Wikisource)