MKL1888:Zunftwesen
[992] Zunftwesen. In den Städten des Mittelalters entstanden in Deutschland wie in andern Ländern im Süden, Westen u. Norden von Europa in der bürgerlichen Bevölkerung genossenschaftliche Vereine der verschiedensten Art. Größere und kleinere Gruppen von Bürgern, welche gemeinsame wirtschaftliche, soziale, religiöse, politische Interessen hatten, traten zusammen, um durch den genossenschaftlichen Verband solche Interessen zu pflegen und zu fördern. Zu diesen Vereinen des Mittelalters gehörten auch die Zünfte, die wahrscheinlich zuerst Verbände von Gewerbtreibenden eines Gewerbes oder doch verwandter Gewerbe zu geselligen, kirchlichen und gewerblichen Zwecken und rein private Vereinigungen waren, später aber öffentlich-rechtlich anerkannte, mehr oder minder autonome Organe der Selbstverwaltung mit obrigkeitlichen Funktionen für das Gewerbewesen wurden. In vielen deutschen Städten wurden die Zünfte auch politische Körperschaften, die als solche Anteil am Stadtregiment hatten, politische Wahlkörper für den Stadtrat und für andre Stellen in der Verwaltung waren, hier und da auch direkte städtische Verwaltungsfunktionen ausübten. Diesen Charakter hatten die Zünfte namentlich da, wo die Stadtverfassung eine demokratische war und die Gewerbtreibenden in der Stadt die Herrschaft erlangt hatten. In manchen Städten gewährte nur die Mitgliedschaft einer Zunft eine Teilnahme am Stadtregiment und war sie die Vorbedingung des Bürgerrechts. In solchen Städten wurden auch Korporationen von Nichtgewerbtreibenden zu Zünften gemacht, in ursprünglich rein gewerbliche Zünfte auch Nichtgewerbtreibende aufgenommen oder mehrere gewerbliche Zünfte, die jede für sich als politische Zunft zu klein gewesen wären, zu einer politischen vereinigt und endlich Handwerker, die wegen ihrer geringen Zahl keine Zunft bilden konnten, einer Zunft zugewiesen, auch wenn ihr Gewerbe dem Hauptgewerbe der Zunft gar nicht verwandt war. Bei derartigen Zünften wurden innerhalb der Zunft für die Verfolgung der rein gewerblichen Zwecke und Interessen noch wieder besondere gewerbliche Verbände gebildet. Die Entstehung von Zünften in Deutschland beginnt (später als in Italien, Frankreich und England) im 12. Jahrh., zunächst nur in einzelnen Städten für einzelne Gewerbe. Im 13. und 14. Jahrh. folgen andre Städte nach, aber erst im 15. Jahrh. wird das Z. in fast allen Städten eine allgemeine und alle Gewerbe umfassende Institution. Die Geschichte des Zunftwesens war in Deutschland in den einzelnen Städten und Zünften eine sehr verschiedene, sie zeigt große Unterschiede bezüglich der Organisation, der Rechte, Befugnisse, Machtstellung und Wirksamkeit der Zünfte in den verschiedenen Städten; aber trotz aller dieser Unterschiede kann man doch von dem Z. als einer in Charakter und Wesen eigentümlichen wirtschaftlichen Einrichtung sprechen.
In der Geschichte des Zunftwesens, die bis ins 19. Jahrh. reicht, sind in Deutschland zwei Phasen zu unterscheiden, die Zeit der Blüte und des Verfalles. In jener Zeit war das Z. zeitgemäß und nützlich, es entsprach den Interessen der Produzenten und Konsumenten, schuf für die gewerbliche Bevölkerung gute, gesunde Verhältnisse, führte zu großen Fortschritten in der Technik, namentlich auch in der künstlerischen Herstellung von Handwerksprodukten, und war ein wichtiges Förderungsmittel des gemeinen Wesens und Wohls und eine wesentliche Ursache jener Blüte des deutschen Städtewesens im 15. und 16. Jahrh., die kulturgeschichtlich zu den glänzendsten Erscheinungen der deutschen Geschichte gehört. In der zweiten Phase zeigt das Z. von alledem das Gegenteil. Ein Verfall des Zunftwesens tritt vereinzelt schon im 15. und 16. Jahrh. hervor, allgemein aber erst im 17. Jahrh. Für das Zunftgewerberecht der ersten [993] Periode sind folgende Einrichtungen, die auch in dem Z. andrer Länder sich finden, besonders charakteristisch. Die Zunftorganisation beruht auf der rechtlichen Gliederung der gewerblichen Personen in Meister, Knechte (Gesellen) und Lehrlinge. Das Recht auf den selbständigen Gewerbebetrieb war in der Regel von der Mitgliedschaft der Zunft, zu welcher das betreffende Gewerbe gehörte (Zunftzwang), und die zünftige Meisterschaft von dem Nachweis einer bestimmten Qualifikation in moralischer und technischer Hinsicht abhängig. Man verlangte makellosen Ruf, eheliche Geburt, und daß der Meister sein Handwerk verstehe. In der Regel war eine bestimmte Art der Ausbildung für Lehrlinge und Gesellen vorgeschrieben (Lehrzeit, Gesellenzeit, Wanderpflicht und Wanderzeit, mit eignen Herbergen für die Wandernden, in welchen bei „geschenkten“ Zünften oder Handwerken, im Gegensatz zu den deswegen geringer geachteten ungeschenkten, ein Zehrpfennig für die Weiterreise gewährt wurde, bisweilen auch Probe- oder Mutzeit). Das Meisterstück wird in der zweiten Hälfte des 14. Jahrh. vereinzelt gefordert und erst im 15. Jahrh. allgemeiner üblich. Zwangs- und Bannrechte sicherten vielfach den Zünften ihr bestimmtes Arbeits- und Absatzgebiet, aber den Rechten standen auch Pflichten der Zünfte gegenüber und namentlich die Pflicht, die Ehre des Gewerbes zu wahren, das Wohl der Stadt zu fördern und für gute Leistungen zu sorgen. Zahlreiche Betriebsbeschränkungen der einzelnen Zunftgenossen verfolgten den Zweck, einerseits das Interesse der Konsumenten an der Güte und Preiswürdigkeit der Waren voll zu befriedigen (Vorschriften über die Herstellung der Waren, Arbeits- und Warenschau, Markenzwang, Preistaxen etc.), anderseits in Durchführung des Prinzips der Gleichheit und Brüderlichkeit dem einzelnen Genossen ein standesgemäßes Einkommen und die wirtschaftliche Selbständigkeit zu sichern (Beschränkung der Zahl der Gesellen und Lehrlinge, gemeinsame Anschaffung der Rohstoffe, gemeinsame gewerbliche Anlagen, Regelung des Angebots etc.). Sie verhinderten die Entwickelung des Großbetriebs und kapitalistischer Gewerbsunternehmungen. Wo die Zünfte obrigkeitliche Organe waren, hatten sie regelmäßig gewerbepolizeiliche Befugnisse und Funktionen und eine selbständige Gerichtsbarkeit über Meister, Gesellen und Lehrlinge.
Das Z. war eine zweckmäßige Gewerbeordnung für die Städte des Mittelalters und die eigentümlichen Wirtschaftszustände jener Zeit. Seitdem aber zahlreich neue Gewerbszweige entstanden, der Absatz auch in die Ferne, die Produktion für einen größern Markt und damit die Bildung neuer großer Unternehmungen und die freie Entwickelung der Unternehmerkräfte zu einem dringenden Bedürfnis geworden war, reichte es nicht mehr aus. Für eine zeitgemäße Reform fehlte das zureichende Verständnis, sie wurde aber auch erschwert durch den Mangel eines deutschen Staats und einer deutschen Volkswirtschaft. In der zweiten Periode blieben die alten Zunfteinrichtungen bestehen, aber sie erlangten einen andern Charakter und dienten andern Zwecken; sie verschafften nur noch einer kleinen Zahl privilegierter Familien die sichere Existenz auf Kosten der größern Zahl der im Gewerbe Thätigen und zum Schaden der gewerblichen Produktion wie der Konsumenten und des gemeinen Wesens. Die alten Rechte der Zünfte wurden privatrechtliche Privilegien der Zunftmeister, der Zunftzwang wurde zum Mittel, Unzünftige im Interesse der Privilegierten aus Konkurrenzfurcht und Brotneid vom Gewerbebetrieb auszuschließen, das Meisterrecht wurde als ein von der Zunft zu verleihendes Recht angesehen, zum Gegenstand des Kaufs von der Zunft gemacht, und bei Erteilung des Rechts wurden die Familienglieder der Privilegierten in unerhörter Weise vor Fremden begünstigt; allgemein wurde die „Geschlossenheit der Zunft“ (Beschränkung der Meister auf eine bestimmte Zahl), häufig auch die „Sperrung“ derselben (Ausschluß Auswärtiger von der Zunft, daher gesperrte Zunft, gesperrtes Handwerk) erstrebt und nicht selten durchgesetzt. Die Zwangs- und Bannrechte, die frühern Betriebsbeschränkungen der einzelnen wurden beibehalten und vermehrt, aber nur noch im Interesse der privilegierten Meister in egoistischer Weise zur Anwendung gebracht, die Sorge für eine gute Ausbildung der Lehrlinge und für gute Gesellenverhältnisse trat völlig in den Hintergrund. Dagegen spielten nebensächliche Zunftgebräuche (s. d.), insbesondere in der Herberge, die Zeremonien bei Festlichkeiten, bei Begrüßungen u. dgl. eine größere Rolle. Das deutsche Gewerbewesen geriet in einen traurigen Zustand.
Die „Handwerksmißbräuche“ bei Meistern und Gesellen waren Gegenstand fortwährender Klagen. Die Reichsgewalt suchte vergebens (1530, 1548, 1551, 1559, 1570, 1571, 1577, 1654, 1667, 1672, 1751) sie zu beseitigen. Aber im 18. Jahrh. kam es in einer Reihe von Staaten, so namentlich in Preußen 1734 bis 1737, zu einer Neugestaltung des Zunftwesens und des Zunftgewerberechts. Die neue Gewerbepolitik war eine merkantilistische (s. Merkantilsystem). Die Gewerbe wurden in zünftige und nichtzünftige geschieden; für jene blieben die frühern Einrichtungen (Zunftzwang, gesetzliche Lehrzeit, Gesellenzeit mit Wanderpflicht, Meisterprüfung, Zwangs- und Bannrechte, Betriebsbeschränkungen, bisweilen auch eine gewerbliche Polizei und Gerichtsbarkeit etc.), aber alles wurde neu und zeitgemäß von der Staatsgewalt geregelt und die Durchführung der gesetzlichen und administrativen Vorschriften den Staatsbehörden unterstellt. In einem Teil der Staaten und Städte aber erhielt sich der alte Zustand bis ins 19. Jahrh., bis die Einführung der Gewerbefreiheit hier wie dort die Zünfte beseitigte (s. Gewerbegesetzgebung). Vgl. Wilda, Das Gildenwesen im Mittelalter (Halle 1831); Hartwig, Untersuchungen über die ersten Anfänge des Gildenwesens (Götting. 1860); Schönberg im „Handbuch der politischen Ökonomie“, Bd. 2, S. 431 (dort auch weitere Litteratur); Derselbe, Zur wirtschaftlichen Bedeutung des deutschen Zunftwesens im Mittelalter (Berl. 1868); Wehrmann, Die ältern lübeckischen Zunftrollen (Lübeck 1864); Brentano, Die Arbeitergilden der Gegenwart (Leipz. 1871); W. Stieda, Die Entstehung des deutschen Zunftwesens (Jena 1876); Neuburg, Zunftgerichtsbarkeit und Zunftverfassung etc. (das. 1880); W. Stahl, Das deutsche Handwerk, Bd. 1 (Gieß. 1874); Schmoller, Die Straßburger Tucher- und Weberzunft etc. (Straßb. 1880); Derselbe, Das brandenburgisch-preußische Innungswesen von 1640 bis 1806 (in „Forschungen zu brandenburgischen und preußischen Geschichte“, Bd. 1, Leipz. 1888); v. Huber-Liebenau, Das deutsche Z. im Mittelalter (Berl. 1879); Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht, Bd. 1 (das. 1868).